Alfred Kolleritsch zur reaktionären Kulturpolitik der 1960er
„Toleranz ist dort nicht mehr am Platz, wo man mit Lügen + verdrehten Argumenten das Volk aufhetzt + dabei noch glaubt, man sei mutig“
Alfred Kolleritsch zu 15 Jahren manuskripte
Oranges DIN-A5-Quartheft, 48 Blatt, liniert, mit der Aufschrift „Buch III / Notizen / Ostern 75“, in dem Alfred Kolleritsch zwischen 29. August und 15. Oktober auf 8 doppelseitig beschriebenen Seiten eine Rede skizzierte, die er anlässlich des 15-jährigen manuskripte-Jubiläums am 15. Oktober im Forum Stadtpark hielt. [FNI-KOLLERITSCH (Notizbücher) 144]
Der Entwurf für eine Rede von Alfred Kolleritsch, dessen Todestag sich am 29. Mai bereits zum fünften Mal jährt, stammt aus einer Sammlung von 175 Notizbüchern, die das Literaturhaus Graz 2020 kurz vor seinem Ableben erwarb.[1] Deren zumindest partielle Aufarbeitung erfolgt im Rahmen des FWF-Projekts „Graz und die manuskripte. Von der Subkultur zur Hauptstadt der Literatur“, das im Jänner dieses Jahres am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung gestartet ist. Basierend auf erstmals verfügbaren Quellen – darunter das Redaktionsarchiv der manuskripte und Alfred Kolleritschs private Notizen – untersucht das Projekt die Entstehungsbedingungen, Ausprägungen und Wirkungsweisen einer avantgardistischen Strömung der österreichischen Literatur nach 1945, die in Graz ihren Ausgang nimmt. Es beleuchtet rund 15 Jahre, von der Gründung des Forum Stadtpark und der manuskripte bis zur Entstehung der Grazer Autorenversammlung (GAV, damals noch im generischen Maskulinum) und der Verlegung ihres Sekretariats und der Vorstandssitzungen nach Wien 1975. Im Fokus stehen Prozesse der Institutionalisierung, die Entwicklung und Vernetzung der manuskripte mit dem Forum Stadtpark und dem steirischen herbst sowie die übergreifenden Zusammenhänge von Engagement, Widerständigkeit und Avantgarde.[2] Zudem wird nachgezeichnet, wie sich in dieser Zeit eine neue Generation wegweisender und international erfolgreicher Autor:innen herausbildete.
In seinem leidenschaftlichen Entwurf rechnet Kolleritsch mit dem konservativen Kulturklima der Steiermark in den 1960ern ab, das neuen künstlerischen Ausdrucksformen mit Diffamierung und ideologischer Engführung begegnete. Er verteidigt die manuskripte als Bollwerk gegen die reaktionären Tendenzen und fordert eine Kulturpolitik, die sich ihrer historischen Verantwortung bewusst ist. Der Text changiert zwischen Polemik, Selbstvergewisserung und kulturpolitischem Appell – ein Dokument von erstaunlicher Aktualität, nicht zuletzt angesichts der jüngsten Entwicklungen in der steirischen Kulturpolitik, wo erneut rückwärtsgewandte Stimmen an Einfluss gewinnen.
Kolleritsch hielt die zugehörige Rede in seiner Mehrfachrolle als Präsident und Referent der Sparte Literatur des Forum Stadtpark sowie Herausgeber der manuskripte am 15. Oktober 1975 im Forum Stadtpark. Anlass war die Eröffnung der Ausstellung zu 15 Jahren manuskripte, die als Kooperationsveranstaltung mit dem steirischen herbst ebendort bis 31. Oktober 1975 zu sehen war.[3] Erst 25 Jahre später, nämlich in der manuskripte-Jubiläumsnummer 149 „1960–2000“ aus dem Jahr 2000, wurde die Rede in überarbeiteter Form abgedruckt.[4]
Die publizierte Fassung unterscheidet sich über weite Strecken nur unwesentlich vom Entwurf, wenngleich nicht überliefert ist, in welcher Form Kolleritsch die Rede gehalten hat. Gleich zu Beginn wurden zwei Absätze ergänzt, in denen er von einer „erste[n] Sichtung“ des umfangreichen Materials der vergangenen eineinhalb Dezennien spricht und an den Gründungsimpetus der manuskripte, nämlich „die braune Erde dieses Landes auf[zu]wühlen“[5], erinnert. Als stärkster Eingriff erweist sich eine Formulierung bezüglich erhaltener Fördersummen: In der Druckfassung richtet er seinen Dank an alle, „die uns im Laufe dieser Jahre geholfen haben, dem Land und der Stadt, wenn sie es auch sehr spät nach viel Widerstand und es bisher vergleichsweise in hohem Ausmaß getan haben.“[6] Hier sorgt die diametral entgegengesetzte Auslegung – wenn man so will: der geänderte ‚Spin‘ – für einiges an grammatikalisch-stilistischer Unschärfe im Vergleich zur Erstfassung, die den fundamental einschränkenden Nachsatz noch ungebremst wirken ließ: „wenn sie es auch sehr spät mit viel Widerstand + in nicht allzu hohem Ausmaß getan haben.“ Diese – auch sprachlich nicht restlos geglückte – Änderung verdeutlicht, welch Balanceakt es für Kolleritsch war, seine progressiven Ideen zu verwirklichen und gleichzeitig auf Förderungen angewiesen zu sein.
An manchen Stellen wird der Abdruck konkreter, vor allem was die namentliche Nennung von Wolfgang Arnold, dem berühmt-berüchtigten Kulturredakteur der Südost-Tagespost, und dessen Nähe zur Volkspartei betrifft. Andere Passagen des Entwurfs wurden wiederum gestrafft oder überhaupt getilgt, wie etwa die explizite Erwähnung des „pens(ionierte[n]) Mittelschullehrer[s] Hofrat Koller“ oder die schonungslos polemische Zuspitzung, das in der Südost-Tagespost Geschriebene sei „abgeschrieben von all jenen Büchern, die selbst in der konservativsten Literaturgeschichte immer die Hauptpastoren Goeze waren, die Inquistitoren [!] aller Schattierungen.“
Der Vergleich von reaktionären Politikern und Journalisten mit dem Aufklärungsgegner und Lessing-Gegenspieler Johann Melchior Goeze (1717–1786) verdeutlicht die Ressentiments, gegen die man zu kämpfen hatte. Kolleritsch beschreibt die Hindernisse, mit denen man bei der Gründung der späterhin wohl bedeutendsten Literaturzeitschrift im deutschsprachigen Raum konfrontiert war:
[…] [Z]um anderen hat die Zeitschrift seit ihrer zweiten Nummer das nackte Gesicht der reaktionären Lemuren zu sehen bekommen, das hinter der Maske der ideologis(chen) steir(ischen) Mark-schichten verborgen war: hinter dem Loden, der schon Männern wie Rosegger + Hamerling ein Greuel war.
So mussten die manuskripte häufig als „Sündenbock“ herhalten – eine Projektionsfläche für jene konservativen Kulturkreise, in denen die literarische Thematisierung von Sexualität und Lebenswirklichkeit als geradezu grundstürzende Provokation galt, weil sie das mühsam aufrechterhaltene Gefüge aus Prüderie und Selbstverleugnung infrage stellte. Kolleritsch greift in einem Abschnitt diese Mechanismen auf und thematisiert die Pornografie-Vorwürfe[7], denen die Zeitschrift ausgesetzt war, nicht ohne süffisant anzumerken, dass in einer „Ausgabe der Zeitung der freiheitlichen (!) Partei das Anstößige wiederum lustvoll + selbstbegeilerisch triefend“ zitiert wurde.
Wohl nicht ganz zufällig wurde der Zusammenfall des 40-jährigen manuskripte-Jubiläums mit dem Zustandekommen der österreichischen Bundesregierung ‚Schüssel I‘, die erste Koalition von FPÖ und ÖVP, dafür genutzt, um gerade diesen Text medial in Stellung zu bringen.[8] Kolleritsch kritisiert die Forderung nach „einer sogenannten zeitlosen Literatur, die als zeitlose nie existiert hat“ und klagt über die „unaufhörliche[] Raunzerei, daß das Neue, [!] das Alte zerstöre“. Die Akteure nimmt er ins Visier wegen ihrer „geradezu myth(ischen) Dummheit, der die Lächerlichkeit des eigenen Arguments nicht einmal durch histor(ische) Belegstellen aufgeht“. Besonders hart geht er mit jenen ins Gericht, die sich auf ‚traditionelle‘ Werte beziehen: „Jene die hier von Tradition reden – ich beziehe mein Argument auf die Literatur – haben für diese Tradition nichts getan – gibt es eine steir(ische) L(i)t(eratur)geschichte, eine kritische, konkrete?“ So unterstreicht er, wie einseitig bestimmte Sichtweisen Kunst definieren, indem stets nur ausgewählte Ausdrucksformen als legitim gelten.
Kolleritsch fährt fort:
dezidierte Verleumdung + Dummheit gehören zumindest erbarmungslos markiert. Stellen Sie sich vor, daß ein Mann in einer Grazer Tagesze(itun)g geschrieben hat – die gesamte mod(erne) Kunst sei ein Vorurteil: das ist keine freie, demokratische Meinung, das ist aus der Sparte der Unmenschen kommend die zynische Negation des Leides tausender, die sich für diese Kunst geopfert haben, ausgesetzt haben, in die Emigration gegangen sind, sich vergessen haben lassen – + wenn auf derselben Seite diese Zeitung die Schelten des Mannes geschrieben hat: der Steir(ische) Herbst gehört weg, dann sind Steuergelder für d(en) Steir(ischen) Herbst wirklich verschwendet, wenn man nicht den Mut hat, hier klare Fronten zu schaffen.
Erstaunlich ist, wie sehr diese nun vor bald 50 Jahren gehaltene Rede von Alfred Kolleritsch auch den aktuellen Zeitgeist trifft. Denn um Mut zu klaren Fronten und zum Widerstand gegen eine Politik, die Kunst auf Parteibuch, Panegyrik und das Pathos einer diffusen ‚Heimatkultur‘ zu reduzieren droht, geht es dieser Tage einmal mehr in der Steiermark.[9] Der aktuelle Herausgeber der manuskripte, Andreas Unterweger, analysiert dazu in seiner Marginalie zum neuesten Heft 247: „In verwirrender Rasanz reihen sich rüpelhafte Tabubrüche und profitgeile Handstreiche aneinander, die das Leid Unschuldiger zynisch in Kauf nehmen und damit für akute Einsturzgefahr des Gemäuers jener Weltordnung sorgen, in der wir es uns allzu gemütlich gemacht haben.“[10] Unterweger bezieht sich auch auf das 15-köpfige Kulturkuratorium, das die Landesregierung bei Kulturförderungen berät und eigentlich bis Ende 2026 bestellt war, jedoch von der neuen FPÖ-ÖVP-Landesregierung quasi über Nacht aus parteipolitischem Kalkül umgebaut wurde.[11] Bei der #kulturlandretten-Demonstration in Graz am 20. März dieses Jahres fand er in einer gemeinsam mit Max Höfler gehaltenen Rede deutliche Worte, vor allem was die Besetzung des neuen Kulturkuratoriums mit dem Marketingleiter des Stocker- und des Ares-Verlags betrifft, deren Verlagsprogramme vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Teilen als rechtsextrem eingestuft werden:
Wir suchen die Literatur im Kulturkuratorium des Landes Steiermark
und finden nur den Marketingleiter des Stocker und des Ares Verlages
Wir suchen die Literatur im Ares Verlag […]
und finden Buchtitel wie
„Nationalismus als Tugend“,
Buchtitel wie
„Und sie unterscheiden sich doch.
Über die Rassen der Menschheit“ […].
Wir suchen die Literatur
im Ares Verlag
und finden Autoren
und Autoren
wie Franz Wimmer-Lamquet,
österreichischer SS-Offizier,
Bruno Brehm,
Schriftsteller auf Hitlers NS-„Gottbegnadeten-Liste“ […].[12]
Der Bogen von 1960 nach 2025 lässt sich bis auf Detailebene herab spannen: Der vom Ares-Verlag (noch immer) verlegte Bruno Brehm wurde nach Erhalt des Rosegger-Preises 1961 – den man ihm im Übrigen gemeinsam mit Wolfgang Arnold zuerkannte! – im manuskripte-Heft Nummer 5 (1962) vom Kulturjournalisten und Komponisten Peter Vujica, der 1968 mit Emil Breisach das musikprotokoll gründete und von 1982 bis 1989 Intendant des steirischen herbst war, kritisiert: „Die Kritik befaßt sich nicht mit der politischen Vergangenheit und mit den Irrtümern eines Privatmannes, sondern mit den Werken eines Schriftstellers, die heute noch in öffentlichen Büchereien stehen und gekauft werden können.“[13] Eine weitere Verbindungslinie von 2025 nach 1960 bildet die Zeitschrift Lot und Waage des Alpenländischen Kulturvereins, der vom DÖW als deutschnational kategorisiert wird. Hatte in den frühen 1960ern Wolfgang Arnold dort Polemiken zum ‚Pornografieprozess‘ veröffentlicht, schrieb nun Gerhard Krajicek immer wieder für dieses Blatt – seit kurzem ist er Mitglied des neu bestellten Kulturkuratoriums.
Wie Alfred Kolleritsch in Anbetracht solch befremdlicher Kontinuitäten reagiert hätte, ist unschwer zu erahnen. So bleibt nur, mit seinen Worten von vor 50 Jahren zu schließen, in der kämpferischen Hoffnung auf bessere Zeiten:
Da ich an die Veränderbark(eit) der Z(eit) glaube, hoffe ich auch, daß sich keiner von den Genannten von dem Weg abbringen läßt, der Graz + die St(eier)m(ar)k auch auf andere Weise bekannt gemacht haben [!]: jetzt spricht man von [!] allerorten von Aufbruch in diesem Land + nicht nur mehr von den Kröpfen, die früher unser internationales Charakteristikum waren
Lisa Erlenbusch
>> SCAN der Rede
[1] Vgl. dazu auch die Objekte der Monate Oktober 2020 (Lisa Erlenbusch: „Wir revoltieren hier gegen die Situation: setzen dem dokt[r]inären Klembim keinen Dokt[r]inären Klimbim gegenüber.“ Entwurf der Marginalie Alfred Kolleritschs für die manuskripte Nummer 27 [1969], https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-oktober-2020/), Mai 2022 (Lisa Erlenbusch: „Ich bin mit dieser Ehre in eine fast peinliche Not geraten“. Alfred Kolleritsch zum Erhalt des Franz-Nabl-Preises 2009, https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-mai/) und Dezember 2022 (Lisa Erlenbusch: Peter Handke im Archiv des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung, https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-dezember-1/).
[2] Für einen ersten Einblick in die Zusammenhänge der genannten Institutionen vgl. auch das Objekt des Monats März 2025 (Daniela Bartens: „mir hat die vergangenheit besser gefallen.“ Alfred Kolleritsch an Hedwig Wingler, https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-maerz-2025/).
[3] Siehe dazu den entsprechenden Eintrag im online abrufbaren steirischerherbst Archiv, URL: https://archiv.steirischerherbst.at/de/projects/27303/jahre-manuskripte [14.4.2025].
[4] Vgl. Alfred Kolleritsch: 15 Jahre manuskripte. Rede von A. K. im Forum Stadtpark. In: manuskripte 40 (2000) H. 149, S. 85.
[5] Ebda.
[6] Ebda.
[7] Vgl. das Objekt des Monats April 2020 (Daniela Bartens: Die Pornografie der Verhältnisse. Der Skandal um Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, roman in den „manuskripten“, https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-april-2020/).
[8] Vgl. dazu auch die Marginalie in Heft 246: Andreas Unterweger: Marginalie. In: manuskripte 64 (2024) H. 246, S. 4 sowie das in „möglichst hässlichem Braun“ gehaltene Cover von Michael Neubacher des Hefts 147 aus dem Jahr 2000. Siehe dazu auch die Website von Andreas Unterweger, URL: https://andreasunterweger.wordpress.com/2024/11/25/manuskripte-246-marginalie-und-mehr/ [14.4.2025].
[9] Vgl. dazu auch Andreas Unterweger: Marginalie. In: manuskripte 64 (2024) H. 243, S. 5. Siehe auch den entsprechenden Beitrag auf der Website von Andreas Unterweger, URL: https://andreasunterweger.wordpress.com/2024/04/16/manuskripte-243-marginalie-und-mehr/ [14.4.2025].
[10] Andreas Unterweger: Marginalie. In: manuskripte 65 (2025) H. 247, S. 4. Siehe auch die Website des Herausgebers, URL: https://andreasunterweger.wordpress.com/2025/03/19/manuskripte-247-marginalie-und-mehr/ [14.4.2025].
[11] Vgl. z. B. Olga Kronsteiner: Steirisches Kulturkuratorium wurde in Hauruckaktion von FPÖ umgebaut. In: Der Standard (Online) vom 27.2.2025. URL: https://www.derstandard.at/story/3000000259256/steirisches-kulturkuratorium-wurde-in-hauruckaktion-von-fpoe-umgebaut [14.4.2025] sowie Ute Baumhackl: Das ist das neue Kulturkuratorium der Steiermark. In: Kleine Zeitung (Online) vom 12.3.2025. URL: https://www.kleinezeitung.at/kultur/stmk_kultur/19461447/das-ist-das-neue-kulturkuratorium-der-steiermark [14.4.2025].
[12] Max Höfler und Andreas Unterweger: Rede zur Suche nach der Literatur in der Steiermark. Website von Andreas Unterweger, URL: https://andreasunterweger.wordpress.com/2025/03/22/kulturlandretten-demo-am-20-03-2025-in-graz/ [14.4.2025].
[13] P[eter] V[ujica]: „Bruno Brehm – der vergeßliche Trommler“. In: manuskripte 2 (1962) H. 5, S. [5].
veröffentlicht am 14. April 2025 in Objekt des Monats