nenne ich Sie meinen Freund – Heinrich Heine an Anastasius Grün
Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte eines Briefs aus dem Auersperg-Nachlass
(FNI-Grün, Briefsammlung, Sch. 3 (H–J), o. Sign.)
Es ist eines dieser Objekte, die schon durch ihr bloßes Erscheinungsbild Geschichte erfahrbar machen. Heinrich Heines einziger erhaltener Brief an Anton Alexander Graf von Auersperg ist unübersehbar ein Schreiben aus der ‚Matratzengruft‘, wie der Paralytiker im Nachwort zum Romanzero sein qualvolles Krankenlager zynisch nannte. Das dünne, leicht zerknitterte Maschinenpapier (27×21 cm) ist ohne Linienspiegel bis zur Kante mit weicher Bleistiftmine beschrieben, der unruhige Duktus der flüchtigen Hand ist fahrig, Streichungen, Einfügungen und Abkürzungen geben dem hastig Hingeworfenen den Charakter eines Konzepts, das abrupt mit dem Hinweis schließt: „– Doch ich kann nicht mehr sehn.“[1] So offensichtlich spontan, beinahe familiär schreibt man nur einem langjährigen Bekannten, der um die misslichen Umstände des Schreibenden weiß und sich von den missachteten Usancen standesgemäßer Korrespondenz nicht brüskiert fühlt.
Empört freilich zeigte sich Auersperg vom manipulativen Inhalt dieses Briefs vom 13. September 1855. Denn es war ein weiterer Versuch Heines, den Grafen in einer jener Querelen, mit denen der Pariser Exilant seine Gabe selbstbeschädigend vergeudete, zu einer Stellungnahme zu nötigen. Der Hintergrund war delikat. Schon ein Dutzend Jahre zuvor hatte sich Heine mit dem österreichischen jüdischen Komponisten Josef Dessauer aus nicht näher bekannten Ursachen überworfen und ihn, den ‚Wanzerich‘, wiederholt auf üble Weise attackiert.[2] Nun aber drohte die Fehde zu eskalieren, da der Wiener Journalist Moritz Gottlieb Saphir Heines Hass mit einem Vorwurf begründete, den dieser bereits in der Lutezia erhoben hatte: Dessauer sei das „kriechende[] Insekt, [das] sich rühmt, mit George Sand in intimem Umgange gestanden zu haben“.[3]
Eilig sprangen Freunde des Komponisten per Presse-Leserbrief für ihn in die Bresche und unterstellten Heine, seine Abneigung gegen Dessauer gehe vielmehr auf eine einst abgelehnte Bitte um ein Darlehen zurück. Saphir reagierte zunächst mit einem wütenden Dementi, dann mit dem Wiederabdruck eines Briefs, den Heine seinem Bruder Gustav zur Veröffentlichung im Fremdenblatt geschickt hatte und in dem Auersperg, sein „lorbeergekrönter und hochgefeierter College, Anastasius Grün“[4], als Gewährsmann für die Klatschgeschichte um die berühmte französische Autorin herhalten musste. Erst dessen Bericht hätte ihn die „geißelnde Personal-Schilderung“[5] in der Lutezia schreiben lassen. Dass Dessauer nun eine Stellungnahme George Sands, die ihm versicherte, solchen Verleumdungen keinen Glauben zu schenken, in der Presse abdrucken ließ und sich zugleich überzeugt zeigte, sein Freund Auersperg sei derartiger Diffamierungen nicht fähig, brachte wiederum Heine in Zugzwang.
Kennengelernt hatte er Anastasius Grün – damals noch ein umjubelter, von Metternich erst jüngst gemaßregelter oppositioneller Dichter – im Winter 1838/39 während dessen ersten Paris-Aufenthalts. Man traf sich „sehr oft im freundschaftlichsten Verkehre“[6], tauschte Meinungen und Bücher aus. Aber erst 1853 sah man sich wieder und der bereits von seinem schweren Leiden gezeichnete Heine empfing den Krainer Grafen, der inzwischen ein renommierter Politiker geworden war, am Krankenbett. In einem ihrer Gespräche hatte Heine – so Auersperg im Rückblick – die „harmlos hingeworfene Frage ‚welcher Art die Beziehung Dessauers zu George Sand gewesen?‘ mißverstanden oder mißgedeutet“[7]. Als sich Auersperg zwei Jahre später während der Industrie-Ausstellung erneut in Paris aufhielt und Heine seinen Besuch abstattete, drang dieser in ihn, Dessauers kolportierte Entgleisungen als Zeuge zu bestätigen. Da der Graf sich weigerte und eilig seinen Abschied nahm, schrieb ihm Heine die dringlichen Zeilen, die sich im Grazer Auersperg-Nachlass erhalten haben.
Die Objektivierung der Fehde durch Zeitungsartikel, die geschickten Freundschaftsbeteuerungen und subtilen Drohungen, die suggestiven Appelle an Urteilskraft und Loyalität, die Zusicherungen von Diskretion und auch das mitgesandte Geschenk – all das blieb letztlich erfolglos, denn in einem reservierten Brief vom 15. September 1855 monierte Auersperg
auf welche, meine Gefühle verletzende Weise ein vor zwei Jahren zwischen uns stattgehabtes, unbefangenes Privatgespräch vor die Öffentlichkeit gezogen und mein Name in eine mir durchaus fremde Streitsache eingemengt wurde. Auch jetzt kann ich brieflich nur wiederholen, was ich Ihnen bereits mündlich erklärt habe: Ich kann es nämlich mit Ehre, Gewissen und Wahrheit nicht vereinbaren, die mir abverlangte Zeugenschaft in dem von Ihnen gewünschten Umfange abzugeben, weil ich in Ihrem Briefe an Ihren Bruder meine damalige Äußerung, weder dem Wortlaute, noch dem Sinne nach, wiederzuerkennen vermag, und weil ich namentlich jene Ausdrücke, welche in Ihrem Exemplare zu unterstreichen ich mir erlaubte, nie und nimmer gebraucht habe.[8]
Zu einer Versöhnung kam es nicht mehr. Auersperg reiste am folgenden Tag ab; Heines Tod wenige Monate später ließ er öffentlich unkommentiert.
Dass Heines Brief an Auersperg als erstes Einzeldokument mit Zustimmung der Besitzerin überhaupt ediert werden konnte, war ein Präzedenzfall mit längerer Vorgeschichte. Das schriftliche Erbe des Grafen war nach dem frühen Tod seines Sohnes Theodor 1882 per Legat an die Universität Graz gegangen, die fast drei Jahrzehnte relativ glücklos versuchte, die verstreuten Teile der vermachten ‚Schriften und Manuskripte‘ einzufordern. Was heute den Hauptbestand bildet, sind Auerspergiana aus dem Nachlass seines ersten Biographen Ludwig August von Frankl-Hochwart, die dieser noch von der Witwe des Dichters entlehnt hatte. Das Vorhandene ließen die beiden namhaften Grazer Germanistik-Professoren Anton E. Schönbach und Bernhard Seuffert 1898 sperren, um „eine Zerstückelung des Nachlasses in kleine Publikationen“[9] zu vermeiden. Die „wissenschaftliche Verwahrung“[10] übernahm das Seminar für Deutsche Philologie.
Als im Juni 1948 der renommierte Heine-Experte Friedrich Hirth von der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz das Deutsche Seminar erstmals um „abschriftliche oder photokopische Übermittlung“[11] von Heine-Korrespondenz für seine neue Briefausgabe bat, erinnerte man sich offenbar des Publikationsverbots und – ließ die Sache vorerst auf sich beruhen. Erst als sich Jahre später die Gelegenheit bot, 193 Briefe (darunter viele von Auersperg selbst) aus dem Besitz der Rechtsanwaltswitwe Frida Baldauf, Tochter des Auersperg-Kenners Anton Schlossar, anzukaufen, kam Bewegung in den Behördenapparat. Denn das Unterrichtsministerium wollte die Kaufsumme nur bewilligen, „wenn ein bestimmtes Institut in den Besitz der Briefe käme“.[12] Eine „Besitzübertragung des Grün-Nachlasses aus der Hand der Universität in die des Deutschen Seminars“, das de facto für den Bestand verantwortlich war, schätzte das Rektorat 1951 zwar als „nicht möglich“[13] ein. Doch konnte der Ankauf unter den bestehenden Vorgaben abgewickelt und in diesem Zusammenhang auch die Causa Heine-Briefe höheren Orts behandelt werden, worüber der Vorstand des Instituts, Hugo Kleinmayr, Hirth mit mehr als dreijähriger Verspätung vorab informierte.[14]
Doch der Instanzenweg benötigte seine Zeit. Nach der Zustimmung des Rektorats und Senats schickte der damalige Universitätsassistent Alfred Kracher am 21. Dezember 1951 die eigens erstellten Fotokopien an Hirth. Dieser urgierte am Folgetag – in Unkenntnis der inzwischen positiven Erledigung seines Ansuchens von 1948 – beim Direktor der Grazer Universitätsbibliothek. Als er am 9. Jänner 1952 die ersehnten Abbildungen endlich in Händen hielt, war die Freude entsprechend groß. Zum Dank ließ er noch am selben Tag der Institutsbibliothek die bereits erschienenen Bände I und IV seiner Werkausgabe zukommen. Den Druck des Briefs und seiner Kommentierung sollte Hirth jedoch nicht mehr erleben, denn am 20. Dezember 1952 verstarb der aus Wien stammende erste deutsche Professor für Vergleichende Literaturwissenschaften unvermutet über seiner Arbeit.[15]
Die Fertigstellung der Bände III und VI (Kommentarteil) übernahm seine Mitarbeiterin Claire Hartgenbusch, unterstützt u.a. von Dr. Fritz Eisner, der aus London noch einmal Kontakt mit dem Grazer Seminar aufnahm, um verbliebene Fragen zu klären. Ihm ist auch die Zusendung der übrigen Teile der Brief-Ausgabe Hirths zu verdanken, in deren drittem Band auf S. 635 das Schreiben Heines an Auersperg erstmals abgedruckt ist. Bequemer sind Transkription, Kommentierung und Kontextualisierung heute über das Heinrich-Heine-Portal zugänglich; der Brief vom 13. September 1855 wird dort (ohne Abbildung) auf Basis der Weimarer Säkularausgabe in überarbeiteter Form digital präsentiert.[16] Die Transkription des fotokopierten Briefs weicht lediglich in editorischen Details von der im Anhang wiedergegebenen Übertragung des Originals ab.
Christian Neuhuber
Transkription
Paris d[en] 13 Sept[ember] 1855
Hochgeehrtester u[nd] viel theuerster Zeitgenosse!
Anbey schicke ich Ihnen das Fremdenblatt u[nd] den Humoristen, in welchen auch der est erste Angriff gegen mich wiederabgedruckt ist, so daß Sie sämmtliche Hauptakta in Handen haben u[nd] selbst beurtheilen können wie genau ich Ihnen referirt. Ich fühle wohl, daß Sie solcher Sicherheit bedürfen um den Brief schreiben zu können, den ich wahrlich nicht für deutsche Klatschblätter (ich schwör es Ihnen zu) nicht gebrauchen werde, aber dritten Personen gege[n]über (z. B. der unglückseligen G. Sand) sehr bedarf um zu erweisen wie wenig meine Angaben aus der Luft gegriffen. Sie würden es nach meinem Tode bereuen, aus Wanzenfurcht abgehalten worden zu seyn mir einen Liebesdienst zu erweisen dessen ich bedurfte um mir vielleicht das Geschmeiß selber vom [f. 1v] Halse zu halten.
Ueberwinden Sie den Eckel, der gemeinsam guten Sache wegen. Ich müßte Sie sonst für einen Egoisten halten. – Ich glaube mit Ihren Brief im Sacke, den ich wie gesagt nur intimen u[nd] sichren Freunden zeige, auch meinem Bruder wenn er herkömt (ich lasse ihn aber nicht von ihm kopirn) – hat die ganze Sache ein Ende.
Vergessen Sie nicht, nächst mir mit dem Brief, den ich sobald als möglich erwarte, die zwey Zeitungsfragmente zurück zuschicken.
Anbey schicke ich Ihnen meine Allemagne (die Sie als témoignage affectueux de mon amitie behalten können.) Inderthat, in der Vorrede nenne ich Sie meinen Freund, und muß nun sehen ob ich oder der Wanzerich Dessauer dazu berechtigt ist. An einem andern Orte sprach ich weitläuftiger von Ihnen – doch ich kann nicht mehr sehn.
Ihr Heinrich Heine.
[1] Brief Heines an Auersperg vom 13. September 1855 (FNI-Grün, Briefsammlung, Sch. 3 (H–J), o. Sign.).
[2] Zur Rekonstruktion der Dessauer-Affäre vgl. (neben den verfügbaren Originaltexten auf https://anno.onb.ac.at/) Bruno von Frankl-Hochwart (Hg.): Briefwechsel zwischen Anastasius Grün und Ludwig August Frankl (1845-1876). Berlin: Concordia 1897, S. 63-78. – Heinrich Heine. Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Gesamthandschriften. Hg., eingeleitet und erläutert von Friedrich Hirth. Bd. VI. Mainz: Kupferberg 1951 [recte 1953], S. 246-253. – Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr (= Düsseldorfer Heine-Ausgabe). Bd. 3: Romanzero. Gedichte. 1953 und 1954. Lyrischer Nachlaß. Text. Bearb. von Frauke Bartelt und Alberto Destro. Hamburg: Hoffmann und Campe 1992, S. 1488-1494. – Dietmar Scharmitzer: Anastasius Grün (1806-1876). Leben und Werk. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2010, S. 283f.
[3] Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe 13/1, S. 43.
[4] Moritz Gottlieb Saphir: Variation auf den „Dessauer Marsch“, in: Humorist vom 30. August 1855, S. 981f., hier S. 981.
[5] Ebda.
[6] Brief Auerspergs an Heines ersten Biografen Adolf Strodtmann vom 16. August 1868, in: Heine, Briefe VI, S. 250-252, hier S. 251.
[7] Ebda.
[8] Brief Auerspergs an Heine vom 15. September 1855, in: Heine, Briefe VI, S. 246f., hier S. 246.
[9] Memorandum Schönbachs und Seufferts an den Senat vom 30. März 1898, f. 2r (FNI-Grün, Mappe ‚Auersperg’schen Nachlass betreffend‘, o. Sign.). Dass diese unzeitgemäße Sperre weiterhin eine Publikation von Archivalien verhindern konnte, belegt ein entsprechender Entscheid des Rektorats vom 19. Februar 1960, der der slowenischen Dissertantin Breda Požar nur Einsicht in den Auersperg-Nachlass gewährte, sofern sie sich schriftlich verpflichtete, „keinerlei Teile des Nachlasses durch den Druck zu veröffentlichen“ (ebda., o. Sign).
[10] Gutachten Schönbachs für den Senat vom 16. März 1903 (Z. 992), f. 2v und 3v (ebda., o. Sign.).
[11] Brief Hirths an den Vorstand des Deutschen Seminars (Hugo Kleinmayr) vom 8. Juni 1948 (FNI-Grün, Mappe ‚Auersperg’schen Nachlass betreffend‘, o. Sign.)
[12] Brief Alfred Krachers an Fritz Eisner vom 15. Juni 1953 (ebda., o. Sign.).
[13] Auskunftsschreiben des Dekanats an Kleinmayr vom 5. März 1951 (ebd., o. Sign.).
[14] Brief Kleinmayrs an Hirth vom 29. Oktober 1951 (ebda., o. Sign.).
[15] Vgl. Gudrun Jäger: Friedrich Hirth – Heine-Forscher und erster Komparatist im Nachkriegsdeutschland. In: Heine-Jahrbuch 43 (2004), S. 216-234.
[16] Vgl. http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/briefe/showletter?lineref=0&mode=1&letterid=W23B1693.
veröffentlicht am 17. Dezember 2024 in Objekt des Monats