Valerie Fritsch: Die Einzelheiten Stalingrads
veröffentlicht am 20. Juli 2023 in Writers' Blog Fünfzehn Jahre Literaturhaus Graz
Es war ein Napoleon Winter, eine Jahreszeit, die die aufeinander zustürmenden Menschen überrannte. Es gab Brot hart vor Kälte und ungezuckerten Tee. Der Wind riss den Schnee vom Boden und trug ihn durch die Luft. Die Stalinorgeln pfiffen. Von den Steppen schleppten sich jene, denen die Beine erfroren waren, auf Knien in Richtung der Stadt. Dürre, unterernährte Soldaten, eingekesselt und wahnsinnig standen an den Fenstern. Zweimotorige Kampfflugzeuge flogen in ihren leeren Bombenschächten Fleisch und Konservendosen und warfen die Nahrungsmittel aus dem Winterhimmel, ein paar Gramm für jede Knochengestalt.
Man verteidigte Ruinen. Man schützte eine Hölle. Die meisten traf keine Kugel, aber der Hunger. Es muss ein spöttischer Tod gewesen sein fürs Vaterland, für die verhungerte Idee davon. Sie starben mit verkleinertem Herzen, die Soldaten, der Mangel schrumpfte ihnen das Fett vom und die Organe im Körper. Viele erloschen einfach, manche töteten sich selbst, verschwanden in einer Ecke, aus der sie nicht wieder kamen oder stellten sich mit weit ausgebreiteten Armen dem Feind entgegen. Kein Mensch konnte die Toten begraben, nur der Schnee. Weil man sie nicht füttern konnte, schlachtete man auch die Pferde und aß sie. Am vierundzwanzigsten Dezember wurden künstliche Weihnachtsbäume für die eingeschlossene Armee über der Stadt abgeworfen, kleine aufgeputzte Tannen, die durch den Frost auf die zerstörten Häuser niederfielen. Sie regneten hinab, wie jene verwundeten Männer, die sich verzweifelt an die Fahrgestelle der aus der Stadt herausstartenden Flugzeuge hängten, und die irgendwann die Kraft verließ, hoch über den Panzern, den Dächern, den Schornsteinen.
Was war das für ein Winter. Und wie hat er geendet. In den letzten Wochen der Besatzung zogen die russischen Soldaten mit Grammophonkoffern durch die Straßen. Um die in den Ruinen versteckten Gegner zu zermürben, spielten sie Tag und Nacht Platten mit dem Ticken einer Uhr.
Valerie Fritsch, Schriftstellerin, geb. 1989 in Graz. Studium an der Akademie für angewandte Photographie, Mitglied der Grazer Literaturgruppe „plattform“. Zuletzt erschien der Roman „Winters Garten“ (Suhrkamp, 2015).