Valerie Fritsch: Lepra und die kühlen Gürteltiere
veröffentlicht am 20. Juli 2023 in Writers' Blog
Kürzlich habe ich geträumt, dass Leprakranke ihre Gliedmaßen mit hölzernen Klammern auf Wäscheleinen hängen und schöne Frauen in Korsagen hinzukommen, um die Arme und Beine abzunehmen und in Körben über die Felder davonzutragen.
Lepra ist eine der ältesten Krankheiten der Welt, biblisch, früh überliefert, mit den Sklaven in alle Ecken des Erdballs verkauft bis zu den entlegensten Inseln. Ein Aussatz, der einem dem Volksglauben nach die Körperteile vom Leib regnen lässt. Wahr ist nicht, dass einem die Finger und Ohren abfallen, aber, dass das Mycobacterium leprae die Nerven sterben macht und die Kranken nicht Schmerz, nicht Hitze und Kälte spüren mit der Zeit. So bleiben die Wunden unbemerkt und unversorgt und so übersahen die Miselsüchtigen und Ausgestoßenen einst in den Elendssiedlungen in der Nacht die Ratten, die ihnen an den eitrigen Gliedern nagten. Noch heute erkranken jährlich hunderttausende, bekommen Flecken auf der Haut, taub und rot, Geschwülste, die zum Löwengesicht zusammenwachsen, Leprome an den Fingern, die Hände in Klauen verwandeln. Die Eindämmung der epidemischen Krankheit kam in Gestalt der Tuberkulose und des Gürteltiers. Die Tuberkulose tötete die Opfer und verhinderte Ansteckung und Ausbreitung. Das Gürteltier wurde die pharmazeutische Rettung und Schlüsselfigur in der Impfstoffindustrie. Da eine Anzüchtung des stäbchenförmigen Erregers in vitro bis heute nicht möglich ist, kultiviert man das Bakterium in Gürteltieren, die ob ihrer niedrigen Körpertemperatur ein ideales Nährmedium darstellen und die einzige Säugetiergattung sind, die an Lepra erkranken können. In den letzten zwanzig Jahren wurden so sechzehn Millionen Menschen geheilt. Nur die kalten Gürteltiere sind verloren.
Valerie Fritsch, Schriftstellerin, geb. 1989 in Graz. Studium an der Akademie für angewandte Photographie, Mitglied der Grazer Literaturgruppe „plattform“. Zuletzt erschien der Roman „Winters Garten“ (Suhrkamp, 2015).