„Aber ich sah nur den Knochenmann“. Ein Anfang und zwei Enden der einen Langen Nacht von Grete Scheuer
veröffentlicht am 1. Oktober 2021 in Objekt des Monats
Grete Scheuer: Die lange Nacht (1946), S. 1. und S. 94 bzw. S. 96 der Typoskripte in zwei Fassungen, aus dem Nachlass von Grete Scheuer am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Signatur: FNI-Scheuer.
Es ist der 12. März 1945, knappe zwei Monate vor Kriegsende. Der Tag eines der heftigsten Luftangriffe auf Wien, bei dem auch der Philipphof nahe der Albertina getroffen wird und einstürzt. Etwa 300 Menschen, die sich im darunterliegenden Luftschutzkeller in Sicherheit wähnten, werden verschüttet. Lediglich 36 davon überleben. Nur wenige der Toten können geborgen werden. Nun ist Wien zwar im Vergleich zu Städten wie Rotterdam, Dresden und Hamburg in Hinblick auf den Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg geradezu glimpflich davongekommen, dennoch sitzt der Schrecken tief, kamen doch insgesamt in den letzten beiden Kriegsjahren um die 9.000 Menschen im Rahmen von 53 Fliegerangriffen ums Leben. Mehr als doppelt so oft schrillte die Luftschutz-Sirene durch die Gassen der Stadt. Ein Trauma, das lange nachwirkte.
Erst Ende der 1990er Jahre postulierte der Literaturwissenschaftler und Autor W. G. Sebald – insbesondere in Bezug auf Deutschland – eine mangelnde Aufarbeitung des Luftkriegs in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Tatsächlich fand aber sehr wohl eine Auseinandersetzung mit diesem Thema statt, allerdings wurde keiner dieser Texte sonderlich beachtet, weshalb Volker Hage später davon spricht, dass es sich weniger um eine Lücke der „Produktion als der Rezeption“[1] handelte. Zahlreiche diesbezügliche Romane, Erzählungen, Gedichte und Aufsätze gerieten im Laufe der Zeit in Vergessenheit. So auch eine Publikation der selbst immer mehr der Vergessenheit anheimgefallenen Grete Scheuer, die das Kulturleben in der Steiermark der zweiten Hälfte des 20. Jhs. entscheidend mitgeprägt hat. Am 6. Juni 1900 im obersteirischen Aflenz als Margaretha Rosina Edle von Scheuer geboren, wächst sie als Tochter eines adeligen Werkarztes in Thörl auf. Mit 24 Jahren geht die selbstbewusste junge Frau eine Ehe mit dem Kunsthistoriker Karl Garzarolli von Thurnlackh ein. Zu Beginn der Weltwirtschaftskrise macht sie sich – nach einvernehmlicher Scheidung – nach Berlin auf. Dort erscheint ihr erster Roman Filmkomparsin Maria Weidmann (1933) im Rowohlt-Verlag, eine authentische Schilderung der verheerenden Verhältnisse innerhalb der Filmbranche der damaligen Zeit. In Berlin arbeitet sie unter anderem als Lektorin, Setzerin und Kulturjournalistin. 1932 tritt sie der NSDAP bei, wird jedoch ein Jahr später wieder abgemeldet. Später leugnet sie ihre kurzfristige Parteimitgliedschaft zeit ihres Lebens vehement. Da ihre politische Gesinnung angezweifelt wird, erhält sie von den Nationalsozialisten mehrere Vorladungen, weshalb sie ständig ihren Wohnsitz wechselt und 1938 nach Wien übersiedelt. Erst 1947 kehrt die Autorin nach Graz zurück, wo sie sich zunächst für die Wiederbelebung des Steirischen Schriftstellerbundes stark macht und Ende der 1950er Jahre als Mitbegründerin des Forum Stadtpark in Erscheinung tritt. Neben der Schriftstellerei betätigt sie sich bis zu ihrem Tod 1988 als engagierte Journalistin und Kulturvermittlerin.
Grete Scheuers Auseinandersetzung mit den Folgen des Luftkriegs erscheint bereits 1946 im Wiener Verlag unter dem Titel Die lange Nacht. Die Novelle erzählt vom Leben und Sterben einer kleinen Gruppe von Menschen in einem Wiener Keller unter den Tuchlauben „nah beim Steffel“ (LN, S. 54). Dem Text zur Seite gestellt sind Zeichnungen von Walter Behrens, einem Maler, Grafiker und Illustrator, der bis 1950 Mitglied der KPÖ war und der Wiener Schule des Phantastischen Realismus nahestand. Geschildert aus der Perspektive einer namenlosen Ich-Erzählerin mittleren Alters wird vor allem die aufkeimende Beziehung zwischen der Schauspielerin Eva und dem Schleichhändler Paul beleuchtet, wobei diese Entwicklung hauptsächlich anhand von Gestik, Mimik und wenigen gewechselten Worten abzulesen ist. Dem Leser/der Leserin wird lediglich der statische Ausschnitt des Kellers präsentiert – die Außenwelt wird nur in Erinnerungen aufgerufen: Erst am Ende wird sie zur Realität. „Wir waren Gefangne“, heißt es daher zu Beginn und weiter: „Unser Atem rührte nicht an den freien Atem der Welt“ (LN, S. 5).
Innerhalb dieses Kerkers bildet sich in den letzten Wochen vor Kriegsende eine Schicksalsgemeinschaft aus sieben Personen, die während der Luftangriffe im Kohlenverschlag von Tante Novotny ausharren, der sich neben dem offiziellen Luftschutznetz befindet. Je länger der Krieg andauert, desto häufiger klingen die „Kuckucksrufe aus dem Wald der Radioröhren“ (LN, S. 5), desto häufiger werden die Aufenthalte in den Kellern unter Wien, wo sich eine eigene Art von Alltag einstellt, der die Menschen – auch unter dem Einfluss von Alkohol – immer mehr abstumpfen lässt. Bald changiert das (Über)Leben im Keller zwischen Träumen und Wachen:
Noch heute frage ich mich oft, wer damals lebendiger war: die erträumte Welt oder das Bild der Wirklichkeit; ich finde keinen Unterschied. Alles Geschaffne hat seinen Bestand, gleich, ob es aus dem Stoff oder dem Geist oder aus beidem geboren ist. (LN, S. 20)
Die abgesonderte kleine Gesellschaft wird von außen her kritisch bis neidisch beäugt, da sie ein gewisses Maß an Privatsphäre und Selbstbestimmung genießt, das den Insassen des öffentlichen Kellers vorenthalten bleibt. Insbesondere ein Mann, den die Erzählerin aufgrund seines entstellten Gesichts als Knochenmann bezeichnet, weiß zu provozieren. Unverhüllt tritt hier die Analogie zum Sensenmann zutage. Dem entspricht auch sein apokalyptischer Gestus, wenn er etwa äußert:
Gott wäre auch gefallen, millionenmal; schon am Isonzo und kürzlich erst in Polen, ermordet liege er in Massengräbern, mit jedem Mann, mit jedem Weib, mit jedem Kind gestürzt; zerrissen, verbrannt, zerstäubt; es gebe nur den Tod (LN, S. 67).
Als nach einer Verschüttung infolge eines Bombenangriffs der offizielle Luftschutzraum geräumt wird, kümmert sich niemand um das Klopfen, das aus dem angrenzenden Kohlenkeller dringt. Hier setzt die titelgebende Lange Nacht ein, die erst durch einen Wassereinbruch ein jähes Ende findet. Nur zwei Menschen kommen mit dem Leben davon: Rosi und die Erzählerin. „So viele Menschen waren um den angebombten Stephansdom geschart, aber keine Eva, kein Paul …“, heißt es zum Abschluss einer früheren Typoskriptfassung. Später wird der Hinweis auf die zwei wichtigsten fehlenden Personen ebenso ausgespart wie jener auf den beschädigten Sakralbau. Im Schluss der Druckfassung ist es der Knochenmann, der einen letzten Auftritt erhält – ob realer Mensch oder Personifikation des allgegenwärtigen Todes bleibt offen.
Grete Scheuers Sprache ist sehr bildhaft und bisweilen deutlich mystisch-religiös aufgeladen. Dennoch gelingt ihr mit Die lange Nacht eine eindringliche, ob ihrer Klarheit und Schärfe dem Schreiben der Moderne verwandte Schilderung des Schreckens der letzten Kriegswochen, die sich bewusst auf das Schicksal einer kleinen Gruppe von Menschen fokussiert, sodass deren Leid, stellvertretend für das vieler anderer, besonders nachvollziehbar wird. Die zur Perfektion neigende Autorin überarbeitete ihre Werke vielfach, wobei von dieser Novelle zwei Typoskripte erhalten sind. Bei dem einen handelt es sich eventuell um die spätere Abschrift eines nicht mehr greifbaren Manuskripts, worauf die darauf vermerkte falsche Jahreszahl der Veröffentlichung der Novelle (1964 statt 1946) hinweist. Anhand der beiden Typoskriptvarianten des Schlusses lässt sich nachweisen, dass Scheuer radikal kürzte, wodurch etwa die Sinneseindrücke der Erzählerin stärker eingeschränkt werden. Im letztlich gedruckten Buch ist auch der Satz „Ich wollte Gott glauben, aber er zeigte sich nicht“ weggelassen, wodurch die einzige und letzte aktive Wahrnehmung der Erzählerin nach ihrem Entkommen aus dem Keller nun dem Knochenmann gilt.
Scheuers Novelle lässt sich auch als Zeitzeugnis lesen, werden darin doch anschaulich der Alltag in den Luftschutzkellern sowie die grausamen Zustände, die nach Fliegerangriffen herrschten, beschrieben. Die Erzählerin erinnert sich etwa an den verheerenden Angriff des 12. März:
Im Augustinerkeller klopften die Eingeschloßnen über sieben Tage; stündlich hockten Leute auf den Trümmern der Rampe unter der Albertina und horchten; als keine Klopfzeichen mehr zu hören waren, wurde mit den Ausgrabungen begonnen.“ (LN, S. 51)
Hierin wird die drastische Kriegsrealität eindrücklich literarisiert. Während sich Österreich auch Jahrzehnte nach Kriegsende häufig noch als erstes Opfer des Nationalsozialismus verstanden wissen wollte, schwingt in Scheuers Text noch (oder viel später wieder) ein Schuldbewusstsein mit, wenn sie etwa schreibt: „Es wurde mit der Vergeltung gerechnet, […] eine Rechnung, in die folgerichtig Hunderttausende getöteter Juden, gemordeter Kinder, geschändeter Frauen eingesetzt wurden“ (LN, S. 91). So verarbeitet Grete Scheuer in ihrer unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Novelle Die lange Nacht nicht nur eigene Erfahrungen des Luftkriegs in Wien, sondern wirft darin auch Fragen auf, die in der Zweiten Republik erst später virulent werden sollten.
Anna Fercher
[1] Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt/Main: Fischer 2008. (= Fischer Taschenbuch. 16035.) S. 119.