„Aufenthaltsort vermutlich Paris“. Maurice Blanchots Die Idylle in „manuskripte“

veröffentlicht am 1. November 2019 in Objekt des Monats

Das 123. Heft der „manuskripte“, welches im März 1994 erschien, stand nicht nur im Zeichen des zu Beginn des Jahres plötzlich verstorbenen Dramatikers Werner Schwab, sondern präsentierte den Leserinnen und Lesern – zumindest österreichische Literaturzeitschriften betreffend – ein enigmatisches Novum der modernen französischen Literatur. Neben einem Auszug aus Gerhard Roths Roman Der See, einem Hörspiel von Helmut Eisendle, Prosa von Friederike Mayröcker und des US-amerikanischen Schriftstellers William H. Gass, der 1995 seinen Jahrhundertroman The Tunnel vorlegen sollte, stand an zweiter Stelle ein Text mit dem Titel Die Idylle von Maurice Blanchot in der Übersetzung des Schweizer Autors Jürg Laederach.
Blanchot, dessen umfangreiches Werk im deutschen Sprachraum bis in die jüngste Zeit unterrepräsentiert war – zentrale Essays erschienen in den letzten Jahren bei Diaphanes und Turia + Kant –, fand in Laederach einen Übersetzer, der sich der kürzeren Erzählungen, der sogenannten „récits“, annahm. Für Suhrkamp übersetzte Laederach u. a. Thomas l’Obscur (1941, Thomas l’obscur. Seconde version, 1950; Thomas der Dunkle, 1987), L’arrêt de mort, (1948; Das Todesurteil, 1990) und später für den Verlag Engeler Au moment voulu (1951; Im gewollten Augenblick, 2004), Celui qui ne m’accompagnait pas (1953; Jener, der mich nicht begleitete, 2006) und Le Dernier Homme (1957; Der letzte Mensch, 2005).

In Bezug auf den Literaturkritiker, -theoretiker und Schriftsteller Blanchot, verlaufen diese einzelnen Arbeitsbereiche und Sphären nicht trennscharf, sondern bedingen einander. Der 1907 in einer kleinen Ortschaft der Gemeinde Devrouze im Département Saône-et-Loire geborene Blanchot zählt zu den einflussreichsten französischen Literaturtheoretikern nach 1945, der sich von Jean-Paul Sartres Konzept einer „Littérature engagée“ absetzt und in den 1960er Jahren eine wesentliche Rezeption durch die poststrukturalistischen Theoretiker und Denker der Dekonstruktion erfuhr. Im deutschsprachigen Raum war Blanchot lange Zeit ein Unbekannter, was auch daran liegen mag, dass seine Texte im Ruf standen, opak, sperrig, gar hermetisch zu sein.
Blanchots umfangreiches literaturkritisches Werk wird durch „récits“ und Romane flankiert, deren Gegenstand Erfahrungen des Verlustes, des Todes und der Alterität sind. Seine literarischen Texte gehen über die traditionellen Gattungsgrenzen hinaus, denn die Formen vermischen oder nähern sich einander an und in den „erzählenden“ Texten sind beinah alle herkömmlichen Erzählelemente ausgeschaltet. In seiner Literatur findet sich das Substrat der zentralen literarischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, von Franz Kafka, Marcel Proust bis zum Surrealismus, Existenzialismus und dem Nouveau roman in einer eigenwilligen Schichtung wieder. Seine Literatur wird oft als eine Synthese aus Martin Heideggers Existentialphilosophie und der Poésie pure Stéphane Mallarmés beschrieben.
Hatte sich Blanchot in den 1930er Jahren noch nationalrevolutionären Tendenzen verpflichtet und als Literaturkritiker politische Artikel, die auch vor Antisemitismus nicht haltmachten, für die rechtsgerichtete französische Presse verfasst, vollzog sein Denken in den 1940er Jahren eine „Kehre“ und er wandte sich der Linken zu. Nicht nur seine Freundschaft mit dem Philosophen Emmanuel Levinas, mit dem er an der Universität Strasbourg studiert hatte, sondern auch die intensive Beziehung zu Georges Bataille, den er 1942 kennengelernt hatte, dürften bei seiner Konversion eine Rolle gespielt haben. Er engagierte sich mit dem Manifest der 121 (1960) gegen den Algerienkrieg, spielte im Mai 1968 eine nicht zu unterschätzende Rolle und plante eine internationale Zeitschrift, die „Revue Internationale“, deren deutsches Komitee u. a. aus Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson bestanden hätte, mitherauszugeben.

Während ihn die Meisterdenker des Poststrukturalismus in Frankreich wie Jacques Lacan, Michel Foucault, Roland Barthes und Jacques Derrida in ihren Werken zitierten oder ihm sogar Studien widmeten und ihn damit als Autorität adelten, erschienen bis in die 1990er Jahre im deutschen Sprachraum seine „récits“ und Essaybände nur vereinzelt und verstreut. Die Rezeption Blanchots ist trotz dieser Leerstellen international vielgestaltig: Paul Auster übersetzte gemeinsam mit seiner Frau Lydia Davis einige Erzählungen und Essays von Blanchot, in Jonathan Littells Les Bienveillantes (2006; Die Wohlgesinnten, 2006) erwirbt der SS-Offizier Max Aue während eines Aufenthalts in Paris den Essayband Faux Pas (1943), dessen Seiten Aue erst mühsam mit einem Messer auftrennen muss. „Der Pfahl“, das Jahrbuch des Matthes & Seitz Verlags, veröffentlicht immer wieder Texte von Blanchot, ebenso der Merve Verlag, z. B. La littérature et le droit à la mort (1949; Die Literatur und das Recht auf den Tod, 1982). In der Anthologie Ich gestatte mir die Revolte (1986), die von Bernd Mattheus und Axel Matthes herausgegeben wurde, war ein Auszug aus dem 1980 erschienenen Spätwerk L’écriture du désastre (Die Schrift des Desasters, 2004) unter dem Titel Das Unheil zu finden.

Der in den „manuskripten“ abgedruckte Text Die Idylle ist ein Jugendwerk Blanchots. Entstanden ist die kurze Erzählung im Juli 1936, so Blanchots Biograph Christophe Bident. Publiziert wurde der Text erstmals 1947 und dann 1951 gemeinsam mit Dernier Mot (Das letzte Wort) unter dem Titel Le Ressassement éternel bei Editions de Minuit. Es handelt sich bei der titelgebenden Idylle jedoch nicht um jenen Topos, der seit der Antike als Gattung besteht, sondern um „die Idylle schlechthin“ (Judith Kasper). Der Text ist strukturell, die erzählte Zeit und die Erzählzeit betreffend, aber auch hinsichtlich der auftretenden Figuren, durchschossen mit „Lacuna“ (Michael Holland) und der Plot erschließt sich auch bei sorgfältiger Lektüre nicht leicht. Laederach hat in Zwei Ex-Zentritäten über seine Arbeit als Leser und Übersetzer von Blanchots Texten bemerkt: „Der Blanchot-Leser muß im Erkennen von Lücken, Fehlbeträgen, Unterschlagungen, plötzlich eintretender Inpotenzen [sic] usw. beschlagen sein, benötigt demnach zur richtigen Erkenntnis von Blanchots Versehrungen eine gute Portion affirmativer Normalität.“

Ein zunächst namenloser Fremder, der später den Namen Alexander Akim tragen wird, betritt eine Stadt, wo er sofort in einem Hospiz interniert wird, das von einem Ehepaar, Pierre und Louise, geleitet wird. Jedes Glück, so wird zu Beginn der Erzählung festgestellt, ist nur Schein: Die Züge des Hospizes changieren zwischen einem Auffanglager, Gefängnis, aber auch einer utopischen Gemeinschaft. Akim wird zur Zwangsarbeit in einen Steinbruch geschickt. Etwaige Lesererwartungen unterläuft der Text konsequent, etwa bezüglich binärer Wertvorstellungen von Glück und Unglück, die mit der Gattung „Idylle“ gemeinhin assoziiert werden. Die Erzählung gipfelt in der durch das Direktorenehepaar arrangierten Hochzeit für Akim, die sich jedoch, aufgrund eines Fluchtversuchs desselben am Vorabend, als Exekution entpuppen wird. Erstaunlich ist die Tatsache, dass der Text die nationalsozialistischen Konzentrationslager antizipiert und evoziert, besonders in jenem grausigen Detail, in der von einer „riesigen Duschanlage“ berichtet wird: „Er [Akim] setzte sich auf den Boden, und während das Wasser in den Dampf und in den Lärm von zehn an der Decke befestigten Brausen zu fallen anfing, wurde er von Ekel ergriffen und verlor das Bewußtsein.“

Von Blanchot waren zu seinen Lebzeiten keine Fotografien im Umlauf. Trotz seiner physischen und medialen Abwesenheit galt er dennoch in Frankreich als souveräne Autorität von der nicht klar war, ob sie noch am Leben oder bereits verstummt war. Nicht zufällig fällt in die 1960/70er Jahre, jene Epoche, in der er in Frankreich am wirkungsmächtigsten war, die Parole vom „Tod des Autors“, denn Blanchot gilt sozusagen als Theoretiker des eigenen Verschwindens. Zeitungen berichteten bereits vor 2003, als er im 96. Lebensjahr in einem Vorort von Paris verstarb, von diesem Ereignis. Auch in den „manuskripten“ stand im Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, neben einer kleinen Auswahl aus dem übersetzen Werk zu lesen: „Aufenthaltsort vermutlich Paris“.

 

Stefan Maurer