„Auflösung“ (Wilhelm Hengstler). Das Drehbuch als dynamischer Text und aufschlussreiche Archivalie
veröffentlicht am 1. April 2022 in Objekt des Monats
Mappe „Auflösung“, insgesamt 22 Blatt (u.a Drehbuchausschnitte, Storyboardfragmente, räumliche Auflösungsskizzen, handschriftliche Notizen) zum Film Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus aus dem Vorlass Wilhelm Hengstlers.
Die vorliegende Mappe entstammt einem in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Konvolut aus dem Vorlass Wilhelm Hengstlers. Sie ist Teil jenes umfangreichen Bestandes, der die Arbeiten am Film Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus (Regie: Wilhelm Hengstler) nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman des verurteilten Frauenmörders und ‚Häfenliteraten‘ Jack Unterweger dokumentiert. Die Veröffentlichung des Romans – als ‚Fortsetzungsroman‘ von 1981–1983 in den manuskripten, Hefte 74–80, und in gesammelter Form dann 1983 beim Augsburger Maro Verlag – und der damit einhergehende Erfolg Unterwegers waren begleitet von einer öffentlichen Debatte um das österreichische Strafvollzugssystem, an der sich auch etliche namhafte österreichische Autor:innen beteiligten. Zu Beginn fruchtende Bemühungen um einen humaneren Strafvollzug und den Ausbau von Resozialisierungsprogrammen, für die Unterweger nach seiner Entlassung 1990 als Positivbeispiel diente, wurden mit der erneuten Inhaftierung 1992 und Verurteilung Unterwegers 1994, wie Hengstler in einem Interview mit der Krone bemerkt, „völlig pulverisiert“[1].
Zu bemerken ist also einerseits der zeitgeschichtliche Wert des Materials, das mit umfangreichen Korrespondenzen und weitreichender Recherche einen recht unmittelbaren, wenn auch limitierten Einblick in einen der meistbeachteten Kriminalfälle der österreichischen Geschichte nach 1945 gibt, der aus unterschiedlichen Gründen auch zu einem Teil österreichischer Literaturgeschichte geworden ist. Andererseits stellt der Bestand als umfängliche Dokumentation eines (Drehbuch-)Produktionsprozesses in seiner Fülle und Dichte auch so etwas wie eine archivarische Rarität dar, so sind darin neben Recherchematerialien, Korrespondenzen, (Förder-)Verträgen und anderen filmbegleitenden Materialien auch etliche, zum Teil handschriftlich annotierte Fassungen des Drehbuchs versammelt, die den komplexen, mehrjährigen Schaffensprozess auf organisatorisch-administrativer Ebene ebenso wie in künstlerisch-kreativer Hinsicht nachvollziehbar machen.
Auch wenn sich die akademische Beschäftigung mit dem Drehbuch unter interdisziplinären Ansätzen der Screenwriting Studies in den letzten Jahren einen Platz in den Filmwissenschaften erarbeiten konnte, kann das Drehbuch immer noch als vergleichsweise „unteranalysierte Textform“[2] betrachtet werden. In seiner rein funktionalistischen Betrachtung als Hilfstext oder ‚Blaupause‘, als „Struktur, die eine andere Struktur sein will“[3], erscheint das Drehbuch immer noch als Dokument, das mit dem Erscheinen eines Filmes entbehrlich wird. Ihm wird der Werkcharakter abgesprochen und auch sein dokumentarischer Gehalt findet wenig Beachtung. „[I]st der Film einmal fertig, landet es bestenfalls im Archiv.“[4] Aber gerade die koordinierte Archivierung von Drehbüchern und anderen filmbegleitenden Materialien stellt häufig ein Problem dar. Vereinzelt verfügen Kinematheken über umfangreichere Schriftgutarchive und punktuell verschreiben sich auch Bibliotheken und Archive einer gezielten Sammlung von Drehbüchern und anderer filmbegleitender Dokumente, aber eine systematische Lösung, die auch den Ansprüchen einer kritischen Film- und Drehbuchedition genügen würde, hat sich bis heute zumindest im deutschsprachigen Raum nicht etablieren können. Auch die in Fördergesetzen verankerte Abgabe von Belegexemplaren betrifft hinsichtlich der österreichischen Filmförderung nur Einzelexemplare und damit meist Letzt- bzw. Drehfassungen – umfangreichere Konvolute mit mehreren Fassungen sind also die Ausnahme.
Dabei eröffnet gerade die eingehende Analyse verschiedener Textstufen in Verbindung mit Begleitmaterialien Perspektiven auf das Kunstwerk, aus denen die „Interdependenz von Erzählweise und Produktionsmodi“[5], von ästhetischen und organisatorischen Belangen, sichtbar wird.
In seiner Fülle an Material gibt auch der Bestand aus dem Vorlass Hengstlers in eben solcher Weise Einblick in die Produktionsumstände des Filmes und die ihnen zugrundeliegenden künstlerischen Prozesse – fünf vollständige Drehbuchfassungen sind im Vorlass erhalten, dazu umfasst die Sammlung diverse Fragmente und Vorarbeiten, mehrere hundert Blatt Korrespondenz und etliche sich immer wieder an die Förderlage anpassende Kalkulationen und Förderansuchen. Das Drehbuch erweist sich dabei einmal mehr als ‚boundary object‘[6], als ‚Grenzobjekt‘, an dem verschiedenste Parteien und künstlerische Positionen im Laufe des Produktionsprozesses teilhaben, als gemeinsamer Bezugspunkt, auf Basis dessen eine Praxisgemeinschaft wie im Film erst zustande kommen kann. Neben den letztlich in den Credits angeführten Autoren Wilhelm Hengstler, Jack Unterweger und Bernhard Seiter waren von den ersten Vorarbeiten bis zur letztlichen Drehfassung auch der Dramatiker und Theaterregisseur Ernst Binder und der spätere Regiestudent Martin Singer an verschiedenen Drehbuchfassungen beteiligt. Zwischen 1984 und 1987 wurde das Fördergesuch fünf Mal abgewiesen, insgesamt sieben umfassende Drehbuchfassungen wurden erarbeitet, dazu etliche fragmentarische Entwürfe. Binder, der an den ersten drei Fassungen mitwirkte und in der Frühphase der Produktion sehr wichtig für die Bewerbung des Projekts und die Förderaquise war, schied noch 1985 aus, wohl aufgrund persönlicher Vorbehalte gegenüber der Person Jack Unterwegers und dessen Beteiligung am Projekt. Parallel dazu lassen sich auch ästhetische Richtungswechsel im Text ausmachen. So weicht eine anfänglich realistischere Erzählhaltung, die der Handlung von der frühen Kindheit bis zum Leben in Haft weitgehend chronologisch folgt, recht bald einer offeneren Struktur, die jegliche Chronologie auflöst und in der sich verschiedene Zeitebenen zum Teil überlagern. Eine Strukturübersicht von 1986 nennt drei grundlegende Zeitebenen: „1… als Kleinkind / 2… als Lehrling und jugendlicher Erwachsener / 3… als Lebenslänglicher“, zwischen denen in „achronologische[n] Übergängen“ hin- und hergewechselt wird und innerhalb derer zusätzlich noch einmal mit Zeitsprüngen gearbeitet wird. Die zu Beginn noch dialektal gefärbten Dialoge werden zudem standardsprachlich stilisiert und das Buch allgemein an eine formalistische, distanzierte Film-Noir-Ästhetik herangeführt. Man wollte keinen „sozialen Realismus“, keine plumpe Moral und auch kein „die Milieutheorie propagierendes Epos“, sondern ein eigenständiges Kunstwerk, das gemäß einem vorangestellten Motto von Susan Sontag „Distanz schafft, zum Nachdenken provoziert“. Die Co-Autorschaft mit Bernhard Seiter erwies sich in diesem Zusammenhang, so Hengstler, als durchaus fruchtbar, die Zusammenarbeit mit Unterweger gestaltete sich hingegen nicht nur aus Gründen der Logistik doch eher friktionsreich.
Der Bestand macht die Schreibarbeit als dynamischen und kooperativen Prozess greifbar, im Laufe dessen die verschiedenen Fassungen auch verschiedene Funktionen zu erfüllen haben. Dienen frühere Fassungen häufig der Erarbeitung von Material und dem Aufbau grundlegender Strukturen, werden in späteren Überarbeitungen in der Regel vor allem Bezüge zur filmtechnischen Umsetzung konkreter. Auch Dialoge werden häufig bis zuletzt überarbeitet und präzisiert. Die im Bestand erhaltene Korrespondenz zeigt, dass in der Ausarbeitung neben persönlichen Befindlichkeiten auch politische und pragmatische Überlegungen eine Rolle spielen können. Je nach Adressat:in, ob potentielle Fördergebende, Schauspieler:innen, Kameraleute oder am Schreibprozess Beteiligte, werden dabei andere Anforderungen an den Text gestellt, was sich wiederum in den verschiedenen Fassungen, die im Laufe des häufig mehrjährigen Prozesses entstehen, spiegeln kann.
Die vorliegende Mappe markiert in diesem Zusammenhang einen bedeutenden Punkt im Produktionsprozess. Die Beschriftung „Auflösung“ meint hier nicht das Zerfließen der Handlungschronologie in ein „Chaos der Erinnerung“ (Seiter), sondern die szenische Auflösung, die Übersetzung der Handlung in eine visuelle Struktur – eine Weiterführung des Drehbuchs mit anderen Mitteln. Dabei werden Einstellungsgrößen und -folgen, Kamerabewegungen und -positionen und häufig auch schon Anforderungen an die Ausleuchtung beschlossen. In der Regel erfolgt eine umfassende Auflösung in einer Zusammenarbeit aus Regie und Kamera – die vorliegende, zu Papier gebrachte Ausarbeitung stammt allerdings weitgehend von Hengstler allein. Ein Großteil der Auflösungsarbeit erfolgte ob der Meisterschaft des Kameramanns Jirí Stibr und der begrenzten Planungsmöglichkeit im Zuge von Drehs an Originalschauplätzen mehr oder weniger spontan vor Ort. Die Auflösung umfasst allgemein nicht nur den künstlerischen Aspekt, die bis dahin meist rein sprachlich ausformulierte Handlung in Einstellungen und Bilder zu überführen, sie erfüllt auch einen sehr pragmatischen Zweck. So werden damit die technischen und logistischen Anforderungen an die einzelnen Szenen festgelegt, die wiederum in Wechselwirkung mit der Planung des Drehs stehen.
In der Mappe befinden sich nächst Drehbuchfragmenten, in denen Einstellungen schriftlich festgelegt sind, vor allem damit korrespondierende handschriftliche Notizen und Skizzen zur Auflösung einiger Szenen, die in der Gefängniszelle Jack Unterwegers spielen. Neben schriftlichen Anmerkungen und per Hand skizzierten Storyboard-Segmenten (Blätter 4, 3 und 7), die Einstellungsfolgen zum Teil in Einzelbilder auflösen, stechen vor allem Zeichnungen hervor, die den Grundriss der Zelle darstellen und darin eingetragen Figuren- und Kamerapositionen definieren (WB = Wachbeamte, JU = Jack Unterweger, K = Kamera – Blätter 1, 2, 5 und 6). Darin sind auch die Bewegungen der Akteure und der Kamera sowie die exakte Position der wichtigsten Requisiten notiert – so wird der gesamte Ablauf der Szene auch räumlich konzipiert. Die Skizzen wurden in weiterer Folge als sozusagen ‚bereinigte‘ Bleistiftzeichnungen mit Ausschnitten aus dem Drehbuch zusammengeführt (Blätter 10–13). Besonders interessant ist auch Blatt 7, auf dem eine der Szenen (Szene 71 auf Blatt 8) auf verschiedenen Ebenen und in mehreren Varianten aufgelöst wird: Rechts in blau, um 90° gedreht und von oben nach unten zu lesen, werden die ersten vier Einstellungen in Form eines grob skizzierten Storyboards aufgelöst – die Szene beginnt mit einer Großaufnahme auf ein Typoskript des zugrundeliegenden Romans. Die weiteren zwölf Kästchen lösen die Szene in einer Kombination aus Grundrissskizzen und schriftlichen Notizen auf: eine Zelleninspektion durch zwei Wachbeamte. Zwei Fotos werden konfisziert und die Beamten stellen Unterweger vor die Wahl: Nur eines ist erlaubt, welches von beiden will er behalten? Letztlich zerreißt JU beide Bilder und schlingt die Reste hinunter. Dialogfetzen finden in die Skizze ebenso Eingang wie Hinweise auf Einstellungsgrößen, Kamerafahrten und die Bewegungsabläufe der Figuren. Die Auflösung bricht schließlich schon vor dem Höhepunkt mit Einstellung 7 ab: „WB2 angeschnitten: Gib die Bilder her“.
Das Blatt illustriert damit in komprimierter Form den komplexen und dynamischen Prozess einer Drehbuchproduktion, bei der stets verschiedene Überlegungen pragmatischer, ökonomischer und ästhetischer Natur zusammenspielen. Schon allein die Materialität der ‚Mappe‘, eine umfunktionierte Produktbroschüre der im Film verwendeten moviecam super, verweist dabei auf die Verschränkung von Produktionsmodus und Darstellungsweise. Ihr Inhalt gibt einen kleinen Einblick in Prozesse, die in eben jenem Wechselverhältnis nicht nur die Form des Drehbuchs bedingen, sondern die Ästhetik der Produktion als Ganzes prägen. Es sind Prozesse, die in einer eingehenden Aufarbeitung und Analyse des gesamten Materials noch wesentlich umfassender und präziser greifbar gemacht werden könnten. Letztlich ist die vorliegende Mappe Teil eines Bestandes, der tiefe produktionsästhetische Einblicke in ein bemerkenswertes Filmprojekt gibt und damit den dokumentarischen Wert von Drehbüchern und anderen filmbegleitenden Materialien als Archivalien aufzeigt.
David J. Wimmer
[1] Christoph Hartner: „Es gab Menschen, die mich vor Jack gewarnt haben.“ In: Kronen Zeitung (Graz) vom 28.2.2022. URL: https://www.krone.at/2639074 [3.3.2022]
[2] Steven Maras: Screenwriting. History, Theory and Practice. London: Wallflower Press 2009, S. 5. [Übersetzung von D. W.]
[3] Pier Paolo Pasolini: Ketzererfahrungen. Schriften zu Sprache, Literatur und Film. München, Wien: Hanser 1979, S. 205.
[4] Hier und allgemein zu wesentlichen Perspektiven der Drehbuchforschung: Claus Tieber: Perspektiven. Drehbuchforschung zwischen Narratologie und Produktionsästhetik. In: MEDIENwissenschaft 32 (2015), H. 3. DOI: https://doi.org/10.17192/ep2015.3.3672 [03.11.2021], S. 311-323, hier S. 311.
[5] Ebda., S. 318.
[6] Der Begriff wurde eingeführt von Susan L. Star und James R. Griesemer. Rosamunde Davies hat ihn erstmals mit dem Drehbuch in Verbindung gebracht (Vgl. R. D.: The screenplay as a boundary object. In: Journal of Screenwriting 10 (2019), H. 2, S. 149-164.)