Barbara Frischmuth: Das alte Funkhaus in Graz
veröffentlicht am 20. Juli 2023 in Fünfzehn Jahre Literaturhaus Graz
Es war Anfang der sechziger Jahre, ich studierte an der Uni Graz Türkisch und Ungarisch, hatte in „Reflexe“ und etwas später, in der Nummer 4 der „manuskripte“, meine ersten Gedichte publiziert, als ich von dem für die Literatur zuständigen Dr. Alfred Holzinger in die Zusertalgasse zitiert wurde, um meine Gedichte vorzulesen, zum Glück nicht in einer Life-Übertragung, aber immerhin.
Schon in der Straßenbahn Richtung Andritz hatte ich nasse Hände und mein Blutdruck beschloss, sich bis zur Ohnmachtsgrenze zu senken, unterschritt sie jedoch nicht, und das anschließende Bergaufgehen tat meinem Kreislauf gut.
Vor der Villa, in der damals der ORF stattfand, war ich dann so weit, dass ich mir die Sache wieder zutraute. Der Portier maß mich mit kritischem Blick, ich fragte nach Dr. Holzinger, und er wies mir per Handzeichen den Weg. Der führte in einen großen Vorraum, in dem Dr. Holzinger bereits auf mich wartete. Er hatte die Durchschläge meiner Gedichte in der Hand, fächerte sich damit ein wenig Luft zu und war insgesamt sehr freundlich.
Ich hatte mich an der Uni, ohne Germanistik zu studieren, in eine Vorlesung über das Vortragen von Gedichten inskribiert, das heißt, ich wusste bereits, dass auf Hochdeutsch ein S zu Wortanfang fast immer ein stimmhaftes ist, dass es offene und geschlossene E’s und O’s gibt, ein G manchmal wie ein sanftes CH ausgesprochen wird, was die meisten Österreicher nicht zu wissen schienen, damals schon gar nicht. Das Fernsehen war zwar schon erfunden, aber nicht sehr verbreitet und daher auch der Einfluss der Berliner Synchronstudios noch nicht flächendeckend.
Die Villa erinnerte mich in ihrer Bauweise an meine Internatszeit in Gmunden, wo ich die ersten Jahre in einer Villa Aichholz untergebracht war, in deren ähnlich großem Vorraum (beziehungsweise Halle) ich als Zehnjährige einmal nachts Scheitelknien hatte müssen. Allerdings fehlten im Funkhaus die dazugehörigen Wandbilder und Gobelins. Aber irgendwie schien mir das Ambiente vertraut und Scheitelknien war zu dieser Zeit kein Thema mehr.
Dr. Holzinger ging mit mir die Gedichte noch einmal durch, gab mir gutgemeinte Ratschläge zur Sprechweise, lobte zwischendurch die eine oder andere Formulierung und fragte mich dann, ob ich bereit wäre, mit ihm ins Aufnahmestudio zu gehen.
Meine Hände waren wieder feucht, an den Stellen, an denen ich die Schreibmaschinenseiten hielt, wellte sich das Papier ein wenig, und ich verschluckte mich kurz. Das, was da auf mich zukam, fühlte sich ähnlich an, wie der Aufruf zum ersten Flug meines Lebens von Ankara nach Erzurum. Aber da ich ihn überlebt hatte, ging ich davon aus, dass ich es auch mit dieser rein menschlichen Herausforderung aufnehmen konnte.
Ich erhob mich, suchte nach etwas wie einem Halt für meinen Blick, gewissermaßen nach etwas Ermutigendem, und fand ein Fenster, in dem ein paar alte Bäume zu sehen waren, deren Äste gemächlich im Wind schaukelten. Eine alte Villa, die sich schon vieles anschauen hatte müssen und alte Bäume, die dem allen zugeschaut hatten, das beruhigte mich.
Der nächste Schock blieb allerdings nicht aus. Als ich meine Stimme zum ersten Mal aus einem Aufnahmegerät hörte, wäre ich jede Wette eingegangen, dass es nicht meine war. Was mich dabei am meisten entsetzte: Ich konnte mich dabei lauthals atmen hören. Aber Dr. Holzinger redete mein Schnaufen klein und meinte, ich solle einfach nicht dran denken und mich nur auf den Text konzentrieren. Mit der Zeit würde das schon werden. Wurde es auch. Aber wann immer ich während der sechziger und siebziger Jahre zu einer Aufnahme in die Zusertalgasse kam, versuchte ich, beim Vorgespräch so zu sitzen, dass ich freien Blick auf das Fenster mit den alten Bäumen hatte.