Barbara Frischmuth/ Raum – Mensch – Geschichte

veröffentlicht am 1. Juli 2018 in Objekt des Monats

Manuskriptbuch A5 blau m. hs. Beschriftung „ADA I.“ aus dem Vorlass von Barbara Frischmuth am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, dat. 12.9.2010, 96 Bl. Original, hs., teilw. beids. beschr., pag. 1-95.

„Sie lag mitten im See, den Rücken durchgestreckt, die Arme ausgebreitet, die Beine gespreizt.“ Ein Satz, der zu Beginn des 2012 erschienenen Romans Woher wir kommen steht. Eines Romans, verfasst von der 1941 in Altaussee geborenen und seit 1999 wieder dort lebenden Autorin Barbara Frischmuth, die selbst eine leidenschaftliche Schwimmerin ist. Eine geographisch-biographische Zuschreibung, ein Mehr an Information, das gemeinsam mit dem an späterer Stelle im Buch vorkommenden Satz „Die Sonne stieg gerade hinter der großen Felswand empor, ihre Strahlen […] wiesen in einer Linie auf den See“ den Blick verengen und gleichsam konkrete Bilder freigeben kann. Erhebt sich plötzlich der Trisselberg mit seiner markanten 600 Meter hohen Felswand neben der schwimmenden Protagonistin Ada? Oder taucht unwillkürlich der Loser, der Hausberg des Ausseerlandes, vor den Augen der Leser_innen auf und dient als real verortbare Kulisse einer fiktionalen Szenerie? In Woher wir kommen finden sich zahlreiche Textstellen, die ein Inbezugsetzen mit der Gemeinde im steirischen Salzkammergut ermöglichen, ohne dass Altaussee als Schauplatz direkt genannt wird. Fotografien aus dem Vorlass, die den See und seine Umgebung zeigen, sind weitere Indizien für diese Lokalisierung der Handlung. Räumliche Hinweise, durch die sich auch Möglichkeiten eröffnen, Biographie und Fiktion neben- und miteinander zu denken, begleiten das Schreiben Frischmuths seit Anbeginn. Nach-lesend könnte man sich so etwa in Gmunden beim ehemaligen Mädchenpensionat der Kreuzschwestern, dessen Unterstufe die Autorin besuchte, auf die Suche nach dem Weg, der rechts vom Schulportal in einen Buchenwald mündet (Klosterschule/1968), machen. Oder man könnte bei dem Gestüt in Oberweiden, auf dem sie einige Jahre lebte, nach dem Hollerbusch neben dem Brunnenhäuschen (Herrin der Tiere/1986) Ausschau halten und unter ihm sitzend erfahren, ob sich die Stalleinfahrt direkt gegenüber befindet. Der Abgleich zwischen Realität und Fiktion könnte in Ansätzen durchaus gelingen, er könnte dem Wunsch nach Einordbarkeit Rechnung tragen („Augenschein ist Bestätigung“/HdT) und sie doch auch wieder verunmöglichen, wenn nichts von der Existenz eines Brunnens zeugt, sich der Wald als Wiese oder der Weg als Sackgasse herausstellt. In einem Interview mit Stefanie Raudaschl, die eine Arbeit zu Realität und Fiktion in eingangs erwähntem Roman verfasste, verwendet Frischmuth den Begriff der Wahrnehmungs-Autobiographie, der in zwei Richtungen verstehbar ist. Zum einen geht es der Autorin um die Authentizität ihrer eigenen Wahrnehmung, wenn sie meint: „Das musste ich nicht erfinden, weil es meiner Wahrnehmung entspricht.“ Zum anderen erfasst der Begriff aber auch das Verständnis des Lesenden: Was mit real Existentem abgeglichen werden kann, was sich als literarischer Raum auftut, obliegt auch dessen Wahrnehmungsbiographie. Und in diesem Verständnis und mit Projekten wie dem eines Literaturatlas Europas im Hinterkopf wird aus der Wahrnehmungs-Autobiographie auch eine Wahrnehmungs-Kartographie – wiederum vom Lesenden abhängig. Nicht länger münden all die Spurensuchen in eine bloße geografische Verortung literarischer Räume, sondern sind als Basis für Landkarten zu verstehen, in denen Ab- und Neubildungen, Auslöschungen sowie Umformungen von Real-Fiktionalem nebeneinanderstehen. Woher wir kommen spielt in Altaussee und auch in Wien und in Istanbul – aber es sind, wie auch in allen anderen Werken, die Frischmuth’schen Interpretationen dieser Orte, die durch das Rezipieren zu wieder neuen, anderen, sich der Vereinnahmung entziehenden werden. Denn in ihrer Beschreibung geht es der Autorin nicht um ein Abbilden, sondern um – manchmal herbeigeführt durch minimale Verschiebungen – ein Öffnen, ein Erweitern, um eine Möglichkeit unter vielen. Und so lässt sich das Erschaffen der Räume in direkten Bezug zu den Lebensmöglichkeiten, die sie ihren Protagonist_innen erschreibt, setzen.
Die geographischen „Auslegungen“ sind in Ansätzen auch auf die historischen Einbettungen ihrer Handlungen übertragbar: Frischmuth geht es weder im Roman Woher wir kommen noch in Einander Kind oder Vergiss Ägypten primär um eine Wiedergabe von Geschichte im Sinne einer Wissensvermittlung. Sie kennt die einschlägige Literatur (nachweisbar durch zahlreiche Interviews sowie Notizen, die sich ebenfalls im Vorlass befinden), weiß um belegbare Gegebenheiten und geht auf dieser Basis der Frage nach, wie es gewesen sein könnte. Stimmungen, die erzeugt werden, das Hineinwirken des Gestern in die Gegenwart vermitteln dabei ein lebendiges Bild der Vergangenheit, das durch erfundene Lebenswelten von Figuren, die Frischmuth eng mit konkreten historischen Handlungen verbindet, noch klarer sichtbar wird. „Es gibt keine unschuldigen Gegenden“, heißt es im 2001 erschienenen Roman Die Entschlüsselung. Es gibt kein keine Spuren hinterlassendes Miteinander von Mensch und Raum. Das Ausseerland bildet da keine Ausnahme: Braunfärbung der Landschaft, Widerstand im Nationalsozialismus, die Rettung der Kunstschätze, die Rückkehr von Vertriebenen („Auf dem Platz, auf dem ich hier sitze, kann nicht gleichzeitig ein Nazi sitzen“/EK). Frischmuth nähert sich dieser Thematik – über das Werk betrachtet – langsam, mit respektvollem Abstand, ehe sie in Woher wir kommen zur basalen Matrix für das Geschehen wird. Die Autorin schreibt Geschichte dabei nicht neu, sie schreibt sie ein – den Menschen, den Gegenden. Raum – Mensch – Geschichte. In Frischmuths Werk geht das eine in das andere über, ist das eine ohne das andere nicht denkbar.

Silvana Cimenti