Birgit Birnbacher: "future perfect: Vom Erzählen aus der Zeit heraus". Zukunftsrede
Vorbemerkung:
Ich habe diese Rede am 10. Oktober 2023 in Graz gehalten, während einer Zeit, in der wir alle in Gedanken bei den Opfern des Krieges und der Kriegsverbrechen in Israel sind. Ich habe lange überlegt, ob man zu einer solchen Zeit überhaupt sprechen darf oder soll, ob man über eine Zukunft nachdenken darf in Zeiten, in denen Hunderte und Tausende einer solchen beraubt werden. Diese Überlegungen habe ich im Vorfeld meiner Rede in Graz dem Publikum geschildert. Letztlich habe ich mich gegen das Schweigen entschieden und es auch als eine Art Pflicht betrachtet, meine Sprache aus der privilegierten Position heraus, aus der ich spreche, weil ich in Frieden und Freiheit leben darf, zu nutzen und meine Gedanken auf eine gerechte und endlich friedliche Welt zu richten.
Birgit Birnbacher, 12. Oktober 2023
future perfect: Vom Erzählen aus der Zeit heraus
„Nicht das Genie ist 100 Jahre seiner Zeit voraus, sondern der Durchschnittsmensch ist um 100 Jahre hinter ihr zurück“, schrieb Robert Musil vor ungefähr 100 Jahren und vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb es auf der Höhe der Zeit wirkt, wenn Musil gewisse „Möglichkeitsmenschen“ als jene beschreibt, die in einem „feineren Gespinst“ leben, als der sogenannte „Wirklichkeitsmensch“, in einem von „Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven“, also alles, was heute eigentlich nicht mehr besonders gefragt ist, zumindest abseits der Welten der Künste. Freilich bekennt Musil, dass eine mögliche Wahrheit nicht gleichzusetzen ist mit einer (sogenannten) wirklichen Wahrheit, jedoch hat sie, die mögliche Wahrheit, „(…) ein Feuer in sich, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.“[1]
Die Wirklichkeit als Aufgabe und Erfindung, mit diesem Gedanken möchte ich das Nachdenken über die Gegenwart beginnen, das Kreisen um die Frage, was sie ausmacht, unsere, wenn wir so wollen: Höhe der Zeit. Um beidem, der Höhe unserer Zeit und der Frage nach ihrer Beschreibung, entgegenzutreten, braucht es unseren ganzen „Möglichkeitssinn“, aber auch unsere ganze Geistesgegenwart, das hier und jetzt Begreifen, was in Kürze der Fall sein wird. Die Fähigkeit, vom Jetzt auf Gleich zu schließen.
Die wiederkehrende Frage, wie sich ein geistiger Mensch zur Wirklichkeit seiner Welt verhalten soll[2], scheint mir grundsätzlich weder erklär- noch erzählbar. Mit beidem setze ich mich aber auseinander, weil es mein Auftrag ist. Dem muss ich vorausschicken, dass es einen Grund geben wird, weshalb ich Zeit meines Lebens statt des Wortes „erklärbar“ Erklärbär las, und so wird es nicht verwundern, dass ich das Erzählen dem Erklären stets vorgezogen habe.
In der Schule lernten wir die Erzählzeit, in ihr sollten wir uns alles Erzählte zuführen und selbst erzählen. In ihr, der Erzählzeit, dem Präteritum, das für mich stets eine Märchensprache blieb, sollten wir reflexiv berichten, mit dem Blick über die Schulter, was wir erlebt hatten, aber dort, wo ich herkomme, im salzburger Innergebirg, hat nie jemand auch nur ein Wort im Präterium gesprochen. Die Verwendung der Erzählzeit fühlte sich für mich an wie Kapitulation: Als ob jemals jemand gesichert behaupten könne: So oder so war das. Und so hätte die Verwendung der Erzählzeit für mich als Schreibende ein Kapitulieren vor dem Erzählen selbst bedeutet, denn ich erzähle ja, weil ich genau dieser Tatsache misstraue. Wahrscheinlich beginnt jede wirkliche Auseinandersetzung mit dem Verstummen. Und ähnlich, wie ich mich fühlte, angesichts des Erzählens insgesamt, kommt mir jetzt auch unser Zustand angesichts der faktischen Lage unserer Zukunftsaussichten vor: Jetzt noch stumm, aber gleich nicht mehr.
Ich will mit ein paar Begriffen spielen, weil sie mir wesentlich scheinen für die Skizze über die Höhe unserer Zeit. Fangen wir an mit dem Hier und Jetzt, mit dem dauernden Eintreten des Später, mit dem ständigen Hinter-uns-lassen des Gewesenen, von dem wir meistens erzählen (im Gegensatz zu dem, was kommen wird). Das Hier und Jetzt zuerst: Je jünger ein Mensch ist, desto eher glaubt er, alles würde für immer so bleiben, wie es jetzt ist. Erst mit der Zeit gewöhnt er sich an die Zeit. Moment für Moment seines Lebens erlebt er, dass Momente vergehen und andere folgen, und die Momente, die gewesen sind, werden mehr und mehr, bis es irgendwann so normal ist, dass die Gegenwart zur Zukunft wird und damit bereits schon wieder Vergangenheit ist, dass der Mensch verzweifeln kann über seinen Bericht über das Hier und Jetzt, über das Sprechen aus der Gegenwart, denn was bitte sollte das sein. Dazu kommt, dass sich nicht einmal die einfache Ebene, die Physis, tatsächlich im Hier und Jetzt befindet: Unser Dasein stets gesplittet ist auf mehrere Gespräche zugleich, analog hier und vielerorts digital dort. Unser Denken, Sprechen, Kommunizieren, befindet sich ja nicht hier, sondern in vielen Gegenwarten zugleich, innerhalb dieses Jetzts. Der sogenannte Second Screen Mensch[3], der nicht mehr stillhält, wenn er nur einen Bildschirm verfolgen kann, sich nicht mehr konzentrieren kann, wenn er nicht mehrere Screens zugleich vor sich hat, zeigt: Es gibt auch ein Bedürfnis nach mehreren Gegenwarten, differenzierten Jetzts, einer Aufsplittung des Hierseins. Hier ist vielerorts, und jetzt ist alles zugleich.
Die Gegenwart ist ein viel größeres, komplexeres Feld geworden, und je breiter es sich macht, desto ferner rückt ein Später. Jetzt ist es noch so, dass die meisten Menschen im Alter immer weniger Platz brauchen. Ihre Räume verkleinern sich. Die Häuser werden zu Wohnungen, die Wohnungen zu Zimmern, die Wege werden kürzer. Wie der Platz im Mutterbauch irgendwann so wenig wird, dass Mutter und Kind die Geburt herbeisehnen, wird – im Idealfall – das Interesse an der Umgebung irgendwann so klein, dass die Bereitschaft für den nächsten Schritt erwächst. Die Entwicklung zur Zukunft hin ist eine unserer Existenz immanente und natürliche Bewegung, die auch am Ende des Lebens nicht aufhört. Wie der Mensch aus dem Mutterbauch hinausdrängt ins Leben, stelle ich mir vor, dass auch der letzte Schritt in Beziehung zu diesem ersten steht. Ein Drängen zum Später also gibt es, aber wird es weniger, diffuser, rückt es weiter weg, wenn das Jetzt – so wie heute – immer mehr Raum einnimmt? Szenarien über unsere Zukunft im Anthropozän gibt es, aber wie wenig stellen wir sie uns tatsächlich vor, wie wenig erzählen wir uns von ihr, und warum? Stagniert unser Erzählen angesichts all der Standpunkte, Haltungen, Postings, Behauptungen, Szenarien, all der Fürs und Widers unserer Zeit? Stirbt unser Erzählen über die Zukunft gerade am Mangel an Zwischentönen, Widersprüchen, Grauzonen, dem Vagen – am Mangel an „Möglichkeitssinn“?
Nicht zu wissen, was noch sein könnte, davon lebt ja dieser „Möglichkeitssinn“. Denken wir zum Beispiel an Hiroo Onoda[4], den japanischen Leutnant, der auf seinem winzigen Einsatzgebiet im Zweiten Weltkrieg, einer Insel im Pazifik, die Kapitulation Japans vor den USA nicht mitbekommt und jahrzehntelang einen Krieg führt, den es gar nicht mehr gibt. Onoda lebte an seiner Gegenwart vorbei, dennoch fällt es ihm schwer, das zu begreifen. Was er erlebt hat, war schließlich „seine“ Zeit.
„Intellektuelle Demut“, von der ich zuletzt zum Beispiel bei Ingrid Brodnig las, intellectual humility, das Anerkennen der Tatsache, dass man das meiste nicht weiß, dass es Lücken im Wissen gibt und die eigenen Vorstellungen auch falsch sein könnten, bildet die Grundlage des musilschen Möglichkeitssinns und die Grundlage eines jeden Weitererzählens aus der Zeit heraus, und wohl auch über sie hinweg. Niemals kennen wir die Größe des Raumes unseres Nichtwissens, doch allein das Bewusstsein über ihn kann ihn aufspannen, diesen Rest Raum – nicht jenseits des Faktischen, sondern um das Faktische herum. Das „Was-es-noch-gibt“, das „Wie-es-auch-sein-könnte“, der Stoff, aus dem Erzählungen über jetzt und später sind.
Ich setze Nichtwissen nicht gleich mit Fiktion, aber siedle doch das Bewusstsein über die Existenz beider, meines Nichtwissens und der Möglichkeit, jedes Faktum anhand von Fiktion weiterzudenken, in demselben, diesem Rest Raum an, allein schon deshalb, weil es Platz braucht, den es eigentlich nicht hat, über den jemand, also ich, verfügen kann, den ich ihm eines Tages, also jetzt, einräumen muss, um endlich nicht mehr nur zu erzählen, was gewesen ist, sondern auch, was noch nicht ist, was erst sein wird, was ausgehend vom Jetzt kommen kann. Die Sehnsucht nach einer großen gemeinsamen Erzählung birgt immer Gefahren, aber die Hoffnung, dass es jenseits von Ideolgien eine weltumspannende Richtung geben kann, die als Handlungsimmanenz den Fortbestand unserer Art mitbedenkt, lässt mich troztdem nicht los.
Als Schriftstellerin erfinde ich andauernd Dinge, von denen ich selber nicht weiß, ob sie wahr sind. Ich habe einen, sagen wir, verschobenen Bezug zur Wirklichkeit, weil mein Leben daraus besteht, an Dingen festzuhalten, die es gar nicht gibt, oder „nicht so“, oder nicht mehr, oder nur zufällig und ohne mein Wissen, oder mit meinem Wissen aber erst später und dann ganz anders, aber doch wieder so, wie ich einst einmal schrieb, als ich wirklich glaubte, das sei Fiktion. Worauf ich hinauswill: Der Rest meines Raumes muss geräumig sein, da ich ihn laufend befülle und Dinge wieder entnehme oder dort liegenlasse, die ich erst Jahrzehnte später abhole, oder nie. Von manchen Dingen darin weiß ich, dass sie wahr sind, auch wenn sie sich niemals zutragen, so wie Liebe nicht verschwindet, wenn einer dement wird und sich nicht erinnert, den anderen jemals geliebt oder gekannt zu haben. Diese Liebe ist dann nicht mehr, aber sie ist auch noch. Sie ist nur nicht mehr gebunden an Gesichertes, oder das, was wir damit verwechselten, als die Dinge klar erschienen.
Jetzt ist aber das nicht Messbare, das Vage und das vielleicht Mögliche in Zeiten von Fakenews und alternativen Fakten in Verruf geraten, seine Einordnung verlangt nach Abgrenzung und diese Abgrenzung vollziehen wir allzu gern anhand einer heute sehr beliebten Messlatte, der Authentizität. Sie ist es, die gewissermaßen den legitimierten Korridor zwischen Fakt und allem anderen bietet, denn solange etwas immerhin (engl.:) real oder „total gefühlt“ worden ist, scheint es auch irgendwie wahr zu sein. Alle wollen andauernd wissen, was echt ist, Roger Willemsen in seinem Essay „Wer wir waren“, der dieser Reihe den Titel gibt: „Echt?“, alle jungen Menschen fragen andauernd, „echt?“, in der Literatur verschwindet die Sehnsucht nach dem Autofiktionalen gar nicht mehr. Allerorts wird das Authentische gepriesen. Wenn wir Schriftsteller:innen Figuren authentisch beschreiben, wird häufig nicht unser Handwerk anerkannt, sondern unsere Fähigkeit zur Empathie gewürdigt. Viel lieber will man glauben, dass jemand etwas „total fühlt“, anstatt anzuerkennen, dass jemand sein Handwerk beherrscht. Die Sehnsucht nach dem wirklich Empfundenen ist Symtom einer Gegenwart, in der wahr und falsch, echt und unecht andauernd ineinanderschwimmen.
Für etwas bekannte Personen des öffentlichen Lebens posten Selfie um Selfie mit Hashtag um Hashtag zum Nachweis ihrer Echtheit und Authentizität, indem sie, besonders beliebt, „Fehler“ eingestehen oder „Mängel“ preisgeben, die sie – überflüssig zu erwähnen – niemals wirklich unansehnlich erscheinen lassen, sondern gerade so wohldosiert fehlbar, dass sich Identifikation und Mitgefühl im Geiste ihrer Follower begegnen und in einem Like verweltlichen.
Das Breastcancerawareness-Posting, das eigentlich zu Zwecken der erhöhten Aufmerksamkeit für die Influencerin veröffentlich worden ist, und nur zweitrangig, um wirklich auf die Gefahren von Brustkrebs hinzuweisen, hat vielleicht zur Folge, dass tatsächlich mehr Frauen zur Vorsorge gehen. Wieso sollte im kleinen Ein-mal-Eins der Echtheit nicht echt sein, was aus nicht-echten Motiven entstanden ist? Unser „Wirklichkeitssinn“ ist der Dauerprobe ausgesetzt, der Mensch der Gegenwart laufend dazu aufgerufen, nicht nur dem Echten, sondern auch dem Gefühlten, allem voran aber vielleicht der Kombination aus beidem, zu misstrauen.
Etwas „total fühlen“[5], etwas gut oder schlecht finden, dafür oder dagegensein, kann ziemlich schnell hinwegtäuschen über die Grenzen von Fakt und Fiktion, schließlich halten wir ja vor allem unsere unzuverlässigsten Begleiter, die Gefühle, für besonders „echt“, dabei wären genau sie eigentlich anschaulichstes Gedankenmaterial für die Widersprüche und die Zwischentöne, allerorts verblasst scheinen und zunehmend unpopulär geworden sind. Die Tatsache, dass etwas richtig und falsch zugleich sein kann, ist nicht beliebt und hat es immer schwerer, je mehr sie mit Fakenews und Fälschung verwechselt wird. Noch komplizierter wird es, wenn es sich tatsächlich um Fakenews und Fälschung handelt, die Auswirkungen aber so real sind, dass ein Zurechtrücken der Tatsachen kaum noch Wirkung hat.
Das berühmte Verhaftungsfoto Donald Trumps zum Beispiel ist, in der neuesten Ausführung, die wir alle kennen, echt. Lange bevor es jedoch aufgenommen wurde, kursierte ein gefälschtes Polizeifoto Trumps im Internet. Obwohl das Foto gefälscht war, bildete es eigentlich die – mittlerweile juristisch bestätigte, Wirklichkeit ab – Trump als Verbrecher. Nun hat sich herausgestellt, dass bereits das falsche Foto hohe Unterstützungsbeiträge in die Wahlkampfkasse Trumps spülte. Wie es die einen abschreckte oder anwiederte, forderte das viral gegangene Foto die anderen zur Unterstützung heraus. Die abschreckende Wirkung des echten Fotos war wohl bei Erscheinen nicht mehr so groß – jeder kannte es ja bereits.
Selbstverständlich kritisiere ich nicht ein Beharren auf der Echtheit der Dinge, schon gar nicht oder auch nicht, wenn es um das Fakefoto von Präsidenten geht. Ich möchte aber behaupten, dass das Beharren auf der Echtheit der Dinge mitunter auch an einer Echtheit der Dinge vorbeigeht, die am Faktischen allein eben oft nicht oder nur ungenau zu überprüfen ist, zum Beispiel, weil die jeweiligen Auswirkungen real und messbar sind, oder wenn das vermeintlich total Echte bei näherem Hinsehen offenbart, dass einem gewissen Anliegen ein Leben jenseits der Aufmerksamkeitsgenese gar nicht bestimmt gewesen ist.
Trotz allem ist es so, dass das, was einmal gesagt, geschrieben, behauptet oder imaginiert ist, in der Welt ist. Als Schriftstellerin gehe ich, wie viele andere auch, behutsam mit dieser Gewissheit um. Ist der eigene Krankheitstod einmal beschrieben, ist sein Eintreten nicht zwingend fern, und sei er zum Zeitpunkt des Verfassens noch so fiktiv. Einst erzählt, ist er in der Welt, und ähnlich verhält es sich mit anderem Fiktionalen, das seine Quellen ja oft im Unbekannten, Verborgenen hat und laufend mit der Möglichkeit operiert, dass es so etwas wie lauernde Wahrheiten gibt, die wir zur Zeit des Verfassens noch nicht kennen. Was aber für Katastrophen gilt, muss auch für Erbauliches gelten, und ähnlich, wie es sich mit dem Vernichtenden und Üblen verhält, kann es sich theoretisch vielleicht auch mit dem Guten und Schönen zutragen. Die Wirklichkeit eben nicht nur als Aufgabe, sondern immer auch als Erfindung[6], Sie erinnern sich.
Unsere Wirklichkeit ist eine Aufgabe, aber wie wir ihr gerecht werden, wird kontrovers diskutiert. Denken Sie an unser Faktenwissen in der Klimakatastrophe. Nie haben wir so viel gewusst wie jetzt. Im Einzelnen, zaghaft vielleicht sogar gesamtgesellschaftlich, geschieht etwas, aber immer noch ist es deutlich zu wenig. Auf der Höhe unseres Wissens leben wir, könnte man sagen, an unserer Zeit vorbei. Wir wissen alles, aber tun zu wenig. Die Mühlen der gesellschaftlichen und der wirtschaftspolitischen Veränderungen mahlen viel zu langsam, verglichen mit dem allerorts Zustimmung heischenden Ernst unserer Situation. Aber warum ist das eigentlich so?
Judith Schalansky setzt uns in ihrem Essay „Schwankende Kanarien“[7] auseinander, was die Mitglieder des Club of Rome heute als die drängendsten Probleme unserer Gegenwart ausrufen. Überraschenderweise sind den renommierten Expert:innen zufolge „nicht der Klimawandel, der Verlust an Biodiversität oder Pandemien“ unser größtes und dringlichstes Problem, sondern „unsere kollektive Unfähigkeit, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden“. Dieser Mangel an Unterscheidungsvermögen führe dazu, dass wir „angesichts der kollektiven Herausforderungen unfähig sind, zusammenzuarbeiten oder uns auch nur über Grundtatsachen zu verständigen“[8].
Nicht die Katastrophe an sich sei also das Problem, sondern unsere Unfähigkeit, ihr angemessen zu begegnen, aber unsere Mittel scheinen erschöpft, auch, weil wir auf das setzen, worauf wir schon lange setzen, weil wir alle Lügen glauben, die uns die Märchenonkel unserer Zeit (Kapitalismus und Patriarchat) erzählen. Es ist ja nicht so, dass wir noch aktiv zuhören würden, in der Märchenstunde des Kapitalismus. Die Inhalte nehmen wir eher osmotisch auf, vieles, wie beispielsweise partriachale Strukturen, sehen wir immer noch als Gegebenheiten an, die nicht zu ändern sind. Bisweilen vergessen wir, dass eine Erzählung immer auch eine Aufforderung zu einer nächsten ist, aber bisweilen vergessen wir auch, dass sich in der Mitvergangenheit keine Zukunft erzählen lässt.
Faktum ist, ohne das Messbare und die Wissenschaft sind wir verloren. Wir brauchen Berichte, um zu verstehen, aber um zu begreifen, brauchen wir mehr, weil wir sehen, dass alles Wissen nicht genügt, um uns zum Handeln zu bewegen. Weil es vielleicht einfach falsch ist, davon auszugehen, übers Wissen käme man ins Handeln. Weil es vielleicht einfach ungenau ist, zu behaupten, übers Fühlen käme man ins Handeln. Den Körper bewegt ein komplexes Netz, genannt Nervensystem, und dieses Netz bewegt auch unser Inneres. Müssten wir nicht etwas von der Gestalt dieses Nervensystems spinnen, das uns innerlich und äußerlich, seelisch und körperlich bewegt, um handlungsfähig unserer Zukunft entgegenzutreten? Etwas, das nicht aus einzelnen Standpunkten besteht, nicht nur auf gesicherten Fakten basiert, sondern sich aus diesen heraus erhebt zu einer Erzählung über den Fortbestand unserer Art.
Für den Fall, dass Sie nicht wie Hiroo Onoda an der Gegenwart anderer vorbeiexistieren, wenn Sie also im Großen und Ganzen im Hier und Jetzt in der Welt stehen und lieber Fakten auf Basis ihrer Möglichkeiten und mittels der Sprache der Gegenwart und Vergangenheit analysieren, oder in der Mitvergangenheit über sie berichten, kann dagegen faktisch überhaupt nichts eingewendet werden. Trotzdem ist es doch zumindest interessant, dass der Mensch ja nicht nur die Erzählzeit erfand, sondern auch das Futur 2 oder Futur perfekt, im Englischen in diesem Zusammenhang besonders verheißungsvoll klingend: Future perfect – Wir werden überlebt haben.
Im Versuch, der hier unternommen wird, die Auslotung einer Wirklichkeit als Aufgabe und Erfindung, muss ich mir zuerst vielleicht selbst etwas erzählen, eine Art inneren Dialog beginnen. Möglicherweise sollte eine Übersetzung ins future perfect erfolgen, der Auftrag an mich also lauten: Betrete den Rest des Raumes und bediene dich all des Möglichkeitssinns, der dir zur Verfügung steht, und darüber hinaus (dem Unvorstellbaren).
Beginne einfach, wild zu denken. Nenne ein Beispiel:
„Das Mädchen, das sich aus mir in die Welt geschoben hat, wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Beginn des 22. Jahrhunderts noch erlebt haben.“
Da geht mehr.
„Es wird gesehen haben, dass es mit Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern beginnen musste, um jene zwischen den Staaten herzustellen.“
Und weiter.
„Es wird erlebt haben, dass Kooperation kein Schmuckwort mehr ist, sondern überlebenssichernde Maxime eines weltumspannenden Handelns.“
Was meinst du damit?
„Dass wir uns retten – gerettet haben werden. Das impliziert ein sofortiges und ausnahmsloses Beenden der Kriege. Eine Nivellierung der Verteilungsgerechtigkeit und ein Angleichen der Lebensverhältnisse, das den Anspruch auf einen Ausgleich durch klimabedingte Nachteile mitbedenkt.“
Was hieße gerettet haben werden?
„Dass es weitergeht mit unserer Art.“
Und ist man erst einmal so drinnen im Erzählen im Futur 2, scheinen alle Handlungen, die folgen könnten, dieser Erzählung immanent. Verweltlicht gesprochen heißt so etwas auch „Klimaziel“, aber wer versteht schon einen solchen Begriff, und vielleicht wichtiger: Wer handelt schon danach? Wir jedenfalls nicht. Wenn alles Erklären nichts gebracht hat, müssen wir eben erzählen.
Einmal in der Erzählung im future perfect angelangt, ich bleibe bei der englischen Bezeichnung, allein wegen des Wortspiels, wirkt es überhaupt nicht schwer, einer Richtung zu folgen, die impliziert, schädigendes Verhalten zu vermeiden. Es fühlt sich nur nicht wie Vermeidung an.
Eine der stärksten Kräfte des Erzählens kann sein, dass es sich von Tatsachen nicht bremsen und nicht lähmen lässt. So können wir wahrheitsgemäß festhalten: Es sieht nicht gut aus für uns und das wissen wir. Faktum ist aber auch, dass uns selbst das tausendste Faktum über die ernste und traurige Lage unseres Planeten nicht ausreichend bewegt hat. Nicht einmal zu einer allgemeinen Anerkennung des Problems hat es ja bisher gereicht.
Doch wir haben es nun einmal, dieses Problem, und es ist so groß, dass Stephen Hawking, einer, der „Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn“[9] auf brillante Weise verknüpft hat, uns mit Alpha Centauri sogar einen Ausweichplaneten vorschlug, falls uns nichts Besseres einfiele. Ich persönlich bin der Meinung, die ich mir heute erlaube, mit Ihnen zu teilen: Uns fällt etwas Besseres ein:
In die Zukunft getragen haben könnte uns Wissen und Kenntnis, die Anerkennung und Verbreitung von Fakten und die Fähigkeit zu Denken und zu Sprechen, aber nur, weil wir sie vermengt haben werden, mit diesem Rest Raum, der die Wahrheit wirklicher macht, als sie ist.
Die Verwischung von Fakt und Fiktion bleibt ein Feind, wie die Ermächtigung über Fakt mittels Fiktion ein Weg sein kann, den wir als geistesgegenwärtige Akteuer:innen einer Gegenwart im Anthropozän gehen können. Das verlangte freilich eine Neuauslegung unseres Bildungssystems, die sich zum Ziel setzt, auch den Möglichkeitssinn zu pflegen. Wenn wir eine Zukunft wollen, müssen wir auch bereit sein, sie uns vorzustellen.
Begriffen wie „glauben“ oder „wissen“ können wir zurecht skeptisch gegenüberstehen, und das „meinen“ gerät uns in Verruf, wenn das unreflektierte Hinausposten Wirklichkeit in Splitterbilder teilt. Gerade dagegen müssen wir es verteidigen, dieses „meinen“, ist es doch jener unter diesen Begriffen, der am ehesten die Voraussetzung zur Formbarkeit, die Anlange zum Netz hat, das eines Tages die neuronale Struktur unserer Erzählung bilden kann. Ein „Meinen“ ist es, das eine Tür offenlässt zum Rest des Raumes, eine Tür zur Widersprüchlichkeit der Verhältnisse, zur aufrichtigen Offenheit im Dialog, und ein Bekenntnis darstellt, dass die Verhältnisse so – aber auch anders – sein könnten oder: gewesen sein werden.
Wir können uns die Zukunft genauso düster und grausam erzählen, wie es das Faktische uns aufbereitet und das Gegenwärtige uns anbietet. Eine an der Höhe der Zeit nicht nur erkaltete, sondern schließlich an der Grausamkeit der gegenwärtigen Weltlage verstummte Erzählung, die eigentlich ins Präteritum gehörte, wäre das. Oder aber, wir nehmen sie auf, alle Fäden, die verfolgt und erdacht oder ersponnen werden können, weil wir dieses Netz brauchen, das nur das Erzählen zu spinnen vermag. Eines Tages werden wir sie uns erzählt haben, die Geschichte einer Zukunft im Anthropozän. Daran glaube ich, mit allem, was ich weiß.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
[1] Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. S. 22ff, Jung und Jung 2016
[2] Vgl. Musil, Robert: In Zeitungen und Zeitschriften, Jung und Jung 2016
[3] Vgl. Willemsen, Roger: Wer wir waren. Zukunftsrede, S. Fischer, 2018
[4] Vgl. z.B. Herzog, Werner: Das Dämmern der Welt. Hanser, 2021
[5] Vgl. Gugic, Sandra: Ich fühl das toatal, Essay, Die Presse Sprectrum, 2021
[6] Vgl. Musil, Robert: In Zeitungen und Zeitschriften, Jung und Jung 2016
[7] Schalansky, Judith: Schwankende Kanarien. Essay. Verbrecher Verlag. 2023
[8] Schalansky, Judith: Schwankende Kanarien. Essay. Verbrecher Verlag. 2023
[9] Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung 2016
veröffentlicht am 13. Oktober 2023 in Out of joint