„DAS GEHIRN IST SELBST EIN LABYRINTH“. Gerhard Roth und das „Labirinto Borges“ als Labyrinth im Labyrinth im Labyrinth
veröffentlicht am 1. März 2021 in Objekt des Monats
3 Fotografien des „Labirinto Borges“ auf der Insel San Giorgio Maggiore in Venedig © Gerhard Roth aus dem privaten Fotoarchiv des Autors, publ. in: Gerhard Roth: Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit. Hrsg. v. Daniela Bartens und Martin Behr (Brandstätter 2020, S. 283-285); 2 davon siehe unten sowie auch: Cover von „Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth“ (Rowohlt 1957) sowie 2 Buchseiten mit hs. Anm. von Gerhard Roth aus: Gustav René Hocke: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst (Rowohlt 1959) aus dem Vorlass des Autors am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung
Das „Labirinto Borges“, das Gerhard Roth aus unterschiedlichen Blickwinkeln mehrfach fotografiert hat, steht nicht in Buenos Aires, sondern auf der Isola San Giorgio Maggiore in Venedig. Es ist ein Doppelgänger jenes Labyrinths, das nach Entwürfen des britischen Diplomaten und späteren Architekten von Gartenlabyrinthen, Randoll Coate, noch zu Lebzeiten von Borges, aber ohne dessen Wissen geplant wurde und auf dem Landgut einer gemeinsamen Freundin in der argentinischen Provinz Mendoza, wo Borges immer wieder zu Gast war, als Denkmal für den Schriftsteller errichtet werden sollte. Das Vorhaben, dessen Geschichte sich wie eine Erzählung von Borges liest und mit Traum, Tod und einem wiederaufgefundenen Brief zu tun hat, konnte schließlich über 20 Jahre nach den ersten Entwürfen doch noch in die Tat umgesetzt werden. 2003 wurde auf der Finca „Los Alamos“ das Urbild jenes Labyrinths eröffnet, dessen Kopie anlässlich des 25. Todestags von Borges 2011 im Garten des Klosters von San Giorgio Maggiore gegenüber dem Markusplatz als Koproduktion der Fondazione Cini und der internationalen Borges-Stiftung eingeweiht wurde. Hatte doch der argentinische Autor zeitlebens ein Faible für die ins Wasser gebaute Stadt mit ihren labyrinthischen Fußwegen und Kanälen gehabt und war immer wieder als Besucher dorthin zurückgekehrt.
„Bei der Führung wurde uns zuerst das Benediktinerkloster von Palladio gezeigt, mit Kreuzgängen und einer großen Bibliothek. Dann erst betraten wir eine Terrasse, von der aus wir auf das nahe ‚Labirinto Borges‘ schauen konnten“, schreibt Gerhard Roth, der die Venedig-Leidenschaft mit Borges teilt, in seinem jüngst erschienenen Fotobuch „Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit“. Roth nähert sich dem Borges-Labyrinth fotografisch von oben. Nicht seine lebenslang kultivierte „Lust am Sich-Verirren“ scheint Motor dieser Annäherung zu sein, sondern vielmehr die komplementäre Lust am Dechiffrieren. Kann doch in dem künstlich angelegten Labyrinth aus über 3000 in Heckenform zurechtgestutzten Buchsbäumen, die wegen des Betonbodens in eigens nach seinem Grundriss angefertigten Stahlcontainern gepflanzt und in einer Höhe von 75 Zentimetern beschnitten wurden, höchstens ein Kind oder ein extrem Kleinwüchsiger die Orientierung und somit den Ausgang aus den Augen verlieren. Dennoch wird auch im Buchsbaum-Labyrinth wie in jedem Irrgarten die unhintergehbare Perspektivierung und Ausschnitthaftigkeit unserer Wahrnehmung zum Thema. Nur aus der Vogelperspektive öffnet sich nämlich jenes Buch, als das das Gesamtlabyrinth angelegt ist, mit seinen Symbolen, die wie Suchrätsel in der Geheimschrift der durch die Hecken gebildeten Gänge verborgen sind und Leben und Werk des argentinischen Autors charakterisieren: >>LABERINTODEBORGES
Auf den geöffneten Seiten erscheint (wie von Borges in den endlosen Aufspaltungen des Prosatexts „Borges und ich“, 1960, thematisiert) um eine horizontale Achse gespiegelt zweimal der Name „BORGES“ – einmal davon in Spiegelschrift. In den Schriftzügen formieren sich chiffriert die Vornamen des Autors, sein Todesjahr („86“), die Initialen seiner Witwe María Kodama, aber auch der Spazierstock, der für den älteren Borges auch Blindenstock war, oder die Sanduhr, die – als Unendlichkeitszeichen aus zwei gespiegelten „O“s gebildet – zugleich das Vergehen der Zeit und deren Aufhebung in einer ewigen Wiederkehr abbildet. Und schließlich das große Fragezeichen ganz rechts unten, mit dem (auf der Buchseite) alles endet, denn die Rätsel der Welt lassen sich nicht wie die im Gartenlabyrinth verborgenen Symbole entschlüsseln.
Wer das Chaos der Welt durch Erklärungssysteme, seien sie wissenschaftlich oder fiktional, ordnen will, erzeugt zugleich Ordnung und Unordnung, Wissen und Nichtwissen , die – notwendig aufeinander bezogen – zu immer neuen Erkundungen anstacheln, bedeutet doch jede einmal gewählte Alternative immer den Ausschluss unter gewissen Bedingungen ebenso plausibler anderer Möglichkeiten. „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ (1941), jene Erzählung von Borges, an die sich das venezianische Gartenlabyrinth anlehnt und die in Braille-Schrift auf einem Handlauf auf dem Gelände angebracht ist – wohl mit der Botschaft, dass „nur Blinde den Ausgang aus dem Labyrinth finden“ (Aglaia Bianchi) –, kann demgegenüber als Modell eines (Text-)Universums gelesen werden, in dem alle linearen Seins-Möglichkeiten sich in Parallelwelten gleichzeitig nebeneinander ausfalten, sodass – wie es im Text heißt – „ein Webmuster aus Zeiten“ entsteht, „die sich einander nähern, sich verzweigen, sich schneiden oder jahrhundertelang nicht voneinander wissen“.
Jeder Pfad wird in einem solchen Labyrinth gleichzeitig zum Weg und zum Irrweg. Findet man die geeignete Perspektive, so ordnet sich das Labyrinth zum sinnvollen Ganzen, verschiebt sich die Perspektive jedoch nur ein klein wenig, drohen Orientierungslosigkeit und Wahnsinn, bis sich im Chaos der Möglichkeiten schließlich doch ein neuer Sinn herauskristallisiert. „Die verworrenen Wege […] beziehen sich symbolisch auf die Unzulänglichkeit der rationalen Wahrnehmung der Realität, die mit ihrer scheinbaren Ordnung die Präsenz komplexer und tieferer Bedeutungen verschleiert.“ (Flavia Pastò)
Als Labyrinth im Labyrinth wird das „Labirinto Borges“ mit seiner Hommage an die (Gedanken-)Welt von Borges zu einem „Spiegelbild“ jenes Venedig, das wiederum in seinem labyrinthischen Charakter für Roth zum „Spiegelbild der Menschheit“ wird: „Wenn man mit seiner Geburt einen riesigen Irrgarten betritt, in dem man sich bis zum Lebensende aufhält, so ist Venedig für mich ein sichtbarer Teil dieses Labyrinths“, äußert Gerhard Roth im ORF-Interview anlässlich des Erscheinens von „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ (2017), des ersten Romans seiner Venedig-Trilogie. Und in dem eben erscheinenden letzten Teil der Trilogie, „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ (2021), wird das „Labirinto“ selbst zum Schauplatz, bei dessen Anblick die nach dem unerwarteten Tod ihres Ehemannes in Venedig – selbst ziemlich neben der Spur – auf seinen Spuren wandelnde Lilli angesichts des gespiegelten Namens „BORGES“ die spiegelsymmetrische Anordnung der menschlichen Gehirnhälften assoziiert und zu der Erkenntnis gelangt, „dass die Rätselhaftigkeit die einzig wahre Gewissheit auf Erden ist“ (S. 199).
Verlusterfahrungen und Desorientierung prägen die Befindlichkeit der Protagonisten in allen drei von Roth so bezeichneten „Verbrechensromanen“. Die Figuren geraten durch ihren Ausnahmezustand in labyrinthische Situationen, denen die Wahrnehmung eines labyrinthischen Außenraums korrespondiert. Der venezianische Irrgarten wird darin zum Mikrokosmos, zu jenem „Ort“, der „alle Orte des Erdenrunds“ enthält und in dem sich folglich – wie in Borges’ Erzählung „Das Aleph“ – der Makrokosmos spiegelt. „Jedes Ding (etwa die Scheibe eines Spiegels) war eine Unendlichkeit von Dingen, weil ich sie aus allen Ecken des Universums deutlich sah.“ Roth hat Venedig immer wieder als „Welt in der Nussschale“ bezeichnet und damit auf ein berühmtes „Hamlet“-Zitat verwiesen – „O God, I could be bounded in a nutshell and count myself a King of infinite space“ –, das auch als Motto jene Erzählung von Borges einleitet und auf die imaginative Dimension einer solchen Wahrnehmung verweist.
Und wie der um seine verlorene unerfüllte Liebe Beatriz Elena trauernde Ich-Erzähler namens Borges – im Keller eines Abbruchhauses auf dem Rücken liegend – jenes mystische Erlebnis, das ihm aus dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, dem Aleph, das „unfassliche Universum“ als Schöpfung offenbart, durch eine achtundsiebzigmal „ich sah“ wiederholende Aufzählung zu fassen sucht, holt Roth das Universum mittels essayistischer Passagen über die Museen, Gotteshäuser, Archive und Bibliotheken in die Unterwelt im Oberstübchen der im venezianischen Irrgarten gleichsam metaphorisch auf dem Boden liegenden Protagonisten. Eine Elena und eine Beatrice, nunmehr aufgespaltet auf zwei Figuren, spielen auf diesen Irrfahrten durch die labyrinthischen Gehirnwindungen der Protagonisten ebenso eine Rolle wie zahlreiche Doppelgänger- und Spiegelfiguren, deren Realitätsstatus angesichts des dezentrierten Zustands der Protagonisten fragwürdig erscheint. Chiffrierte, mit ihren Initialen auf das ABC beziehungsweise das Alphabet verweisende Namen – von Aldrian bis Zacchini – tauchen (wie in „Das Aleph“) auf, aber auch Zeichen und Symbole aller Art, die sich zu einem durch und durch labyrinthischen Erzählkosmos fügen, der neben dem Raum auch die Zeit affiziert, bleibt doch – insbesondere im zentralen Mittelteil „Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier“ (2019) – geradezu systematisch offen, ob es sich um ein extrem zeitdehnendes Halluzinieren von Trauminhalten handelt oder um die Wiedergabe von in der Fiktion realen Erlebnissen. Und auch die von Borges betriebene Spiegelung ins Unendliche mittels mise-en-abyme-Technik – „Ich […] sah im Aleph die Erde und in der Erde abermals das Aleph und im Aleph die Erde“ – findet sich in den ersten beiden Romanen von Roths Venedig-Zyklus, die jeweils Zeitschleifen beschreiben, die den Erzählprozess ins Unendliche perpetuieren. Erst im letzten Band kann die „Akte Leviathan“ – aus Thomas Hobbes’ „Leviathan“ stammt übrigens das zweite Motto von Borges’ „Das Aleph“ – geschlossen werden, die Leichen sind begraben und die realen und imaginären Ungeheuer besiegt – und ein Ausgang aus dem Labyrinth scheint sich anzudeuten.
Daniela Bartens
Das Fotobuch „Gerhard Roth: Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit. Hrsg. von Daniela Bartens und Martin Behr“ mit ca. 900 Fotografien und begleitenden Originaltexten von Gerhard Roth, einem Essay über die Venedig-Fotografien von Martin Behr und einem Beitrag von Daniela Bartens zu Roths damals im Manuskript bereits abgeschlossener Venedig-Trilogie ist Ende Dezember 2020 im Brandstätter Verlag erschienen. Der dritte und letzte Roman des Zyklus wird am 24.2.2021 unter dem Titel „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ bei S. Fischer erscheinen.