DER REVOLVER. Ein Kuriosum aus dem Nachlass von Gerhard Roth

Objekt des Monats: Oktober 2023

Der wohl merkwürdigste Gegenstand, der sich unter den Lebensdokumenten im Nachlass von Gerhard Roth finden lässt, ist ein alter verrosteter Revolver. Dieser wurde gemeinsam mit einer Plastikdose voll Munition im Oktober 2015 an das Franz-Nabl-Institut übergeben. Es soll gleich eingangs gesagt sein, dass ein Einsatz der Waffe nicht mehr möglich ist, da die Verrostung schon so weit vorangeschritten ist, dass sowohl Abzug als auch Sicherung nicht mehr betätigt werden können.

Dass es sich bei der Waffe um einen Revolver und nicht um eine Pistole handelt, ist dadurch erklärbar, dass der „Patronenlagerblock über mehrere Kammern verfügt und drehbar ist“ 1. Diese Vorrichtung nennt sich Trommel. Dies führt zur Erkenntnis, dass es sich bei dem Revolver um einen Trommelrevolver handelt, da sich hinter dem Lauf eine Trommel befindet, die durch „Betätigen des Abzugs oder Spannen des Hahns gedreht und wieder in Schussposition gebracht wird“2. Somit könnte man, nachdem man die Patronen in die Trommel eingelegt hat, mit der Waffe schießen und gleich nach dem Drehen der Trommel einen weiteren Schuss abgeben. Die vorstehende kleine Stange unter dem Lauf dient zur Verriegelung der Trommel im Rahmen, nachdem die Waffe mit Munition befüllt wurde, und ermöglicht auch das Auswerfen der Hülse nach Abgabe eines Schusses.3

Bei der dazugehörigen Munition handelt es sich um Randpatronen, die durch ein R am Hülsenboden gekennzeichnet sind. Dieser Hülsenboden ist bei Randpatronen überstehend, wodurch verhindert wird, „dass die Patrone im Patronenlager nach vorne gleitet“4. Somit haben die Munitionshersteller einen größeren Toleranzspielraum bezüglich der Größe und Form der Patronen, da diese nicht mehr speziell auf das Patronenlager angepasst werden müssen.5

Das genaue Modell des Revolvers lässt sich leider nicht erschließen, da keine Beschriftung auf der Waffe aufzufinden ist. Außerdem ist die Verrostung schon so weit fortgeschritten, dass ein Vergleich mit verschiedenen Revolvern im Internet auch zu keinen Ergebnissen führte. Auf Nachfrage bei einem Grazer Waffengeschäft konnte ich jedoch herausfinden, dass es sich wahrscheinlich um einen italienischen Revolver mit dem „Kaliber .320 Corto“ handelt. Das Kaliber kann man dadurch bestätigen, dass die Umrechnung von 0.320 Inches auf Millimeter ungefähr 8mm ergibt und diese Länge auf den Durchmesser des Laufes zutrifft. Somit kann man aber auch darauf schließen, dass die Munition in der Plastikdose nicht zu dem Revolver gehört, da es sich um Kleinkaliberpatronen mit einem ungefähren Durchmesser von 6mm handelt und diese somit zu klein für den Lauf des Revolvers sind.

Die Waffe selbst gibt uns also leider keine genauere Auskunft über deren Herkunft, jedoch lässt sich genau beweisen, wie der Revolver in die Hände von Gerhard Roth kam. Dieser wuchs, wie in seinem autobiografischen Roman Das Alphabet der Zeit beschrieben, ab der vierten Klasse Volksschule6 in einer Wohnung am Geidorfgürtel 16 in Graz auf. In diesem fünfgeschossigen Gebäude an der Ecke zur Leechgasse, das 1737/38 von Siegfried Theiss, Hans Jaksch und Werner Theiss erbaut wurde7, wohnte im gleichen Stockwerk auch ein pensionierter Deutschlehrer namens Hofmann.8 In diese Wohnung, die der junge Gerhard Roth immer wieder betrat, um sich Bücher aus der großen Privatbibliothek des Professors Hofmann auszuborgen, zog Gerhard Roth einige Jahre später im Erwachsenenalter selbst ein. Genau dort fand dann während Renovierungsarbeiten, als Gerhards Roths Tochter bei ihrem Einzug die Badewanne zu einer Dusche umbauen ließ, folgender Fund statt:

Weitere zwanzig Jahre später fanden Handwerker bei Renovierungsarbeiten unter der Wanne im Badezimmer einen verrosteten Trommelrevolver mit abgesägtem Lauf und eine Schachtel Munition, die ich heute noch besitze. Die Waffe stammte von einem SS-Sturmbannführer Lindner, der mit seiner Frau in der Zeit des Nationalsozialismus dort gewohnt hatte. Nach dem Krieg sei er spurlos verschwunden und seine Frau habe ihn für tot erklären lassen, bevor auch sie untertauchte, erfuhr ich bei meinen Nachforschungen. Lindner hatte die Waffe vermutlich für den Fall seiner Verhaftung dort deponiert. Sie könnte aber auch aus dem Besitz eines Staatspolizisten stammen, der, nachdem Lindner verschwunden war, neun Monate in der verlassenen Wohnung auf dessen Rückkehr gewartet hatte und von ihm nicht wehrlos überrascht werden wollte. Den Namen »Lindner« aber hatte ich, ohne diese Umstände zu kennen, ein Jahrzehnt zuvor der Hauptfigur meines Romans »Landläufiger Tod« gegeben.9

Begibt man sich auf die Suche nach dem von Gerhard Roth recherchierten früheren Besitzer des Revolvers, SS-Sturmbannführer Lindner, dann findet man tatsächlich einen SS-Sturmbannführer namens Heinrich Lindner, der im fraglichen Zeitraum am Geidorfgürtel 16 wohnte. Ein Adressbuch aus dem Jahre 1943/44 gibt Aufschluss darüber.10

Die Waffe gehörte also wahrscheinlich wirklich, wie von Gerhard Roth vermutet, einem SS-Sturmbannführer namens Heinrich Lindner. Ein Taufbuch11 ermöglicht uns Einblick in dessen Lebensdaten: Heinrich Lindner wurde am 5.5.1909 in Arnfels geboren und am 6.5.1909 getauft. Das Geburtshaus hat die Adresse Arnfels 53 und die Eltern hießen Heinrich und Josefa. Ein Vermerk im Taufbuch gibt außerdem auch Auskunft darüber, dass Heinrich Lindner am 14.10.1938, also ein gutes halbes Jahr nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland, aus der Kirche austrat. Heinrich Lindner verstarb am 14.11.1951 in Graz.
Wann der Umzug nach Graz genau geschah, lässt sich nicht sagen, jedoch waren die Lindners laut Adressbuch der Stadt Graz 1936 und 1938 noch nicht am Geidorfgürtel 16 wohnhaft.
Es kann also der Schluss gezogen werden, dass die Waffe höchstwahrscheinlich dem SS-Sturmbannführer Heinrich Lindner gehörte, bevor sie durch Zufall in den Besitz von Gerhard Roth gelangte und so später in den Nachlass des Franz-Nabl-Institutes.

Paul Taglieber

Ein großer Dank gilt Dr. Gerhard Fuchs, der mich bei den archivarischen Recherchen zu Heinrich Lindner tatkräftig unterstützte.

 

[1] Wikipedia: Revolver. Zuletzt geändert am 8.5.2023. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Revolver [Zugriff: 14.9.2023]
[2] Ebda.
[3] Vgl. ebda.
[4] Wikipedia: Randpatrone. Zuletzt geändert am 7.1.2022. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Randpatrone [Zugriff 14.9.2023]
[5] Vgl. ebda.
[6] Vgl. Gerhard Roth: Das Alphabet der Zeit. Frankfurt/M.: S. Fischer 2007, S. 415.
[7] Vgl. Grazwiki: Baugeschichte. Geidorfgürtel 16. Zuletzt geändert am 12.3.2015. URL: https://www.grazwiki.at/Geidorfg%C3%BCrtel_16 [Zugriff 14.9.2023]
[8] Vgl. Roth, Alphabet der Zeit, S. 449.
[9] Ebda., S. 456f.
[10] Vgl. Adressbuch der Stadt Graz 66 (1943/44). Graz: Ulrich Moser [1943], S. 192. URL: https://www.findbuch.at/adressbuch-graz-19431944 [Zugriff: 14.9.2023]
[11] Vgl. Taufbuch Pfarre Arnfels 8 (1882-1918) [Signatur 15475]. Arnfels: unbek. [1882-1918], S. 425. URL: https://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/graz-seckau/arnfels/15475/?pg=427 [Zugriff: 14.9.2023]

veröffentlicht am 25. September 2023 in Objekt des Monats