DER TIEFE ATEM. Zeitungsausschnitt von Peter Handkes Petrarca-Preisrede auf Alfred Kolleritsch
veröffentlicht am 1. Februar 2020 in Objekt des Monats
Peter Handke: DER TIEFE ATEM. Zur Verleihung des Petrarca-Preises an Alfred Kolleritsch. In: Kleine Zeitung (Graz), 13. Juni 1978, S. 3 f. (ERSTABDRUCK).
Später publiziert in: Petrarca-Preis 1975-1979. Privatdruck (Edition Petrarca 1980), Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. Hg. v. Peter Laemmle, Jörg Drews (dtv 1978) und in Peter Handke: Das Ende des Flanierens (Suhrkamp 1980).
Der abgebildete Zeitungsausschnitt stammt aus der „Schwarzbauer-Sammlung“ des Franz-Nabl-Instituts, das Ausschnittarchiv wurde 1991 übernommen und seither bis 2016 kontinuierlich ausgebaut.
Am 17. Mai 1978 schrieb Alfred Kolleritsch in einem seiner vielen Briefe an seinen langjährigen engen Freund Peter Handke: „ich freue mich sehr, wenn du zu den gedichten etwas sagst, ich wollte dich nur nicht drängen mit dieser freude. In den nächsten tagen müssen die letzten gedichte noch eintreffen bei dir. ich freue mich schon auf das treffen, obwohl ich mir als so herausgestellter ziemlich schutzlos vorkomme. ich versuche gerade, diesen körper ruhig zu stellen, aber es bleibt so wenig zeit dafür.“ [1]
Alfred Kolleritsch bezieht sich hier auf die am 10. Juni 1978 in Siena bevorstehende Verleihung des von Hubert Burda gestifteten Petrarca-Preises, ihm zuerkannt für seine im Band „Einübung in das Vermeidbare“ (Residenz 1978) versammelten Gedichte.
Davor hatte der Schriftsteller, Herausgeber der Literaturzeitschrift „manuskripte“, Präsident des Forum Stadtpark und Gymnasiallehrer neben regelmäßigen Publikationen in den „manuskripten“ die Romane Die Pfirsichtöter (Residenz 1972) und Die grüne Seite (Residenz 1974), die Erzählung Von der schwarzen Kappe (Styrian Artline 1074) sowie den Lyrikband Erinnerter Zorn (Privatdruck 1972) publiziert.
Die Vergabe des Petrarca-Preises fand 1978 zum dritten Mal statt, in der Jury saßen neben Peter Handke die Schriftsteller Nicolas Born und Urs Widmer, der Fluxus-Künstler und Kunsttheoretiker Bazon Brock und der Leiter des Hanser-Verlags Michael Krüger.
Die Laudatio zur Preisverleihung hielt Peter Handke, der diese exklusiv der Kleinen Zeitung für den Erstabdruck am 13. Juni 1978 zur Verfügung stellte.
Im flankierenden Artikel „Zur Bescherung einer unverhofft lebendigen Zeit“ (siehe Zeitungsausschnitt) beschreibt Ingrid Melzer (spätere Traversa), die ebenfalls von Graz nach Siena angereist war, die intime Stimmung rund um die Verleihung und Michael Krüger erinnerte sich 20 Jahre später: „Im Jahr 1978 trafen wir uns mit dem Preisträger Alfred Kolleritsch in Siena zur festlichen Verleihung: Oskar Pastior kam aus Berlin zur Lesung, Jürgen Becker aus Köln, der Soziologe Reinhard Brandt feierte mit […]. Alfred Kolleritsch, der philosophische Poet aus Graz, der eines der geschlossensten Dichtungswerke dieser Zeit geschrieben hat, wies uns den Weg, und Bazon Brock, der enthusiastische Historiker, stand in der Mitte der muschelförmigen Piazza des Campo und erklärte die Welt, daß uns Augen und Ohren aufgingen.“ [2]
Wie in seiner Ansprache auf die „mit Feuerzungen redenden Liebespoeme“ nachzulesen ist, hat sich Peter Handke sehr intensiv mit den Gedichten von Alfred Kolleritsch auseinandergesetzt, doch dürfte Alfred Kolleritsch schon eine Vorahnung gehabt haben, als er den oben zitierten Brief an Handke schrieb, bekam er doch kurz vor der Verleihung als so schutzlos Herausgestellter tatsächlich noch einen kräftigen Seitenhieb von Peter Handke ab: „Plötzlich ist der Peter dagewesen, hat einen Sessel umgestoßen im Kaffeehaus, kommt auf mich zu und sagt: ,Was hast du da für einen philosophischen Quatsch geschrieben!‘ “ [3]
Alfred Kolleritsch warf dies Peter Handke viele Monate später in einem Brief vor: „Erst nach deiner Rede begann ich, Deine Blicke zu ertragen, und es war mir klar, daß Du sehr oft Dein Gegenüber verletzen musst, ehe Du frei bist, den anderen so anzunehmen, wie Du ihn annehmen möchtest.“ [4] Die innige Freundschaft der beiden sollte diese Episode während der Petrarca-Preisverleihung nicht erschüttern.
Stifter des Preises war der junge Kunsthistoriker Hubert Burda, dessen Mutter Aenne Burda nach 1945 mit Burda-Moden einen der größten Zeitschriftenverlage im deutschsprachigen Raum aufgebaut hatte. Er sollte nach dem Tod des Vaters im Jahr 1986 das Familienunternehmen übernehmen und den Erfolgskurs der Burda Holding (später Hubert Burda Media) u.a. mit Zeitschriften wie „Bunte“, „Focus“ und diversen Onlinemedien konsequent fortsetzen. Als er 1975 den nach dem Poeten der Frührenaissance benannten Petrarca-Preis auf vorerst fünf Jahre als Preis für zeitgenössische Dichterinnen und Dichter von Weltliteratur stiftete, sollte Hubert Burda damit wesentlich die europäische Literaturlandschaft prägen und sich als der Literaturmäzen Deutschlands etablieren: Es war damals mit 20.000 DM einer der höchstdotierten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum. Bazon Brock hatte im Sommer 1974 anlässlich des 600. Todestages Francesco Petrarcas angeregt, einen Literaturpreis zu stiften, „der sich gegen die vorherrschende engagierte und politisierende Literatur richtete. Der Name des Lyrikers Francesco Petrarca (1304 – 1374) sei Programm genug für eine ästhetisch richtig verstandene Moderne.“ [5]
Einmal ins Leben gerufen, wurden die Treffen rund um die Preisverleihungen für den Stifter und seine Jury zu einem alljährlichen willkommenen Ritual – der Preis durfte und sollte, darauf einigte sich die Runde, nach fünf Jahren doch kein abruptes Ende nehmen: Schließlich wurde der Petrarca-Preis von 1975 bis 1995 und dann wieder von 2010 bis 2014 an zeitgenössische DichterInnen und ÜbersetzerInnen vergeben (von 1999 bis 2009 wurde zwischenzeitlich der Hermann Lenz-Preis in Nachfolge des Petrarca-Preises verliehen).
Ab 1987 wurde Alfred Kolleritsch Jurymitglied des Petrarca-Preises (und zwischenzeitlich des Hermann Lenz-Preises) und somit Teil des engsten Freundeskreises rund um den Stifter Hubert Burda – am 14. Dezember 1986 hatte Peter Handke in einem Brief bei Alfred Kolleritsch angefragt: „Wir wollen den Petrarca-Preis neu auflegen, und Du sollst, mit Peter Hamm, Michael K. [Krüger] und moi Mitglied der Jury sein. Ich hätte dich schon längst fragen sollen aber s.o. Willst Du? Wir werden uns wohl Ende Januar zum Bestimmen desjenigen treffen. Sei einverstanden, und streit ein bißchen mit.“ [6]
Fortan machte sich Alfred Kolleritsch jedes Jahr von Graz aus auf zu den Treffen mit seinen Mitstreitern: im Frühling zu den gemeinsamen Jurysitzungen u.a. in Italien, Frankreich und München und Anfang Juni nach Italien zu den Petrarca-Preisverleihungen. Die Orte, an denen sie stattfanden, allesamt ausgewählte Wirkstätten Petrarcas, waren außergewöhnlich, die auf opulente drei Tage angelegten Dichtertreffen hatten einen erhabenen Festcharakter, der Kreis der geladenen Gäste – AutorInnen und LiteraturfreundInnen – war freundschaftlich geprägt. Hubert Burda fasste 2012 zusammen: „Heitere drei Tage im Süden, mit Freunden, mit Dichterlesungen und einfühlsamer Betrachtung antiker Bauwerke und Renaissance-Kunst, das war der Petrarca-Preis. Die Exkursion entsprach der Grand Tour, die Zöglinge der englischen Aristokratie im 18. Jahrhundert zur Horizonterweiterung ihrer Bildung nach Italien und Griechenland unternahmen. Fast vierzig Jahre später existiert der Petrarca-Preis immer noch, zusammengehalten durch prägende Freundschaftserlebnisse seiner Teilnehmer.“ [7]
1975, im ersten Jahr, war der Preis posthum an Rolf Dieter Brinkmann gegangen und wurde von dessen Witwe Maleen Brinkmann entgegengenommen. Nach der Verleihung von 1976 an Sarah Kirsch und Ernst Meister war es 1977 zum Eklat gekommen, als Herbert Achternbusch aus Protest seinen Scheck zerriss, ab der Verleihung an Alfred Kolleritsch sollte es wieder persönlicher zugehen. Nach ihm ging der Preis u.a. an europäische SchriftstellerkollegInnen wie Jan Skácel, Philippe Jaccottet, Ilse Aichinger, John Berger, Florjan Lipuš und den späteren Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer.
Als Peter Handke am 6. Dezember 2019 in seiner eigenen Literaturnobelpreisrede das in Italien angesiedelte Gedicht Romanska bågar / Romanische Bögen von Tranströmer im schwedischen Original zitierte, mochte er sich dabei auch an die gemeinsamen Tage im Juni 1981 in Vicenza erinnert haben, als dort Tranströmer den Petrarca-Preis entgegennahm.
2014 wurde der Petrarca-Preis an Tomas Venclova endgültig zum letzten Mal vergeben, doch es sollte weitergehen, wenn auch in anderer Form: Fünf Dokumentationsbände waren begleitend zu den Preisverleihungen als Privatdrucke in der Edition Petrarca erschienen – herausgegeben von Hubert Burda und den Jurymitgliedern Peter Hamm, Peter Handke, Alfred Kolleritsch und Michael Krüger. 2017 initiierte die Herausgeberrunde eine Fortsetzung der Edition Petrarca im Wallsteinverlag. Den Auftakt bildete ein Essayband von Michael Hamm über Peter Handke, seither sind laufend weitere Bücher von Petrarca-Preisträgern erschienen.
Und in den Jahren 2017, 2018 und 2019 richteten in München die Hubert Burda Stiftung, die Bayerische Akademie der Schönen Künste und das Lyrik Kabinett gemeinsame Sommerfeste in der Tradition des Petrarca-Preises aus, wo Gedichte von ehemaligen Preisträgern gelesen wurden. Zuletzt lasen beim Sommerfest im Juni 2019 im Gedenken an den kärntnerslowenischen Lyriker und Übersetzer Fabjan Hafner (1966-2016; 1990 Petrarca-Übersetzerpreis) Peter Handke, Michael Krüger sowie der mittlerweile verstorbene Peter Hamm letzte Gedichte von Lars Gustafsson (1936-2016) und neue Gedichte von Alfred Kolleritsch. Michael Krüger und Peter Handke hatten ihn im Vorfeld überredet – nach seinem letzten Lyrikband Es gibt den ungeheuren Anderen aus dem Jahr 2013 – wieder Gedichte zu schreiben und zusammenzustellen.
Soeben sind diese neuen Gedichte von Alfred Kolleritsch unter dem Titel Die Nacht des Sehens mit einer Nachbemerkung von Michael Krüger in der Edition Petrarca bei Wallstein erschienen.
Hinweis:
Am 5. Februar 2020 um 19 Uhr liest im Literaturhaus Graz Alfred Kolleritsch mit Daniel Doujenis aus Die Nacht des Sehens (Edition Petrarca im Verlag Wallstein, 2020) und Michael Krüger liest aus Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch (Haymon 2019).
Siehe auch: petrarca-preis.de
[1] Peter Handke, Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht (Jung und Jung 2008), S. 113ff.
[2] Michael Krüger: Vorwort. In: Isolde Ohlbaum: Im Garten der Dichter. Der Petrarca-Preis (Gina Kehayoff Verlag 1997), S. 6.
[3] Malte Herwig: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie (DVA 2010), S. 290.
[4] Alfred Kolleritsch: Brief an Peter Handke vom 7. März 1979, Privatbesitz, zitiert nach Malte Herwig: ebda.
[5] Hubert Burda: Petrarca. In: Die BUNTE Story. Ein People-Magazin in Zeiten des Umbruchs, ab S. 88 (2012) und online im Internet (https://www.petrarca-preis.de/petrarca) [Stand 9.1.2020]
[6] Peter Handke, Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht, S. 158.
[7] Hubert Burda: Petrarca.
Elisabeth Loibner