Die Pornographie der Verhältnisse. Der Skandal um Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, roman in den „manuskripten“
veröffentlicht am 1. April 2020 in Objekt des Monats
Undat. hs. Briefentwurf von Alfred Kolleritsch an Oswald Wiener nebst Mailabschrift vom 28.10.2005, Archiv der Literaturzeitschrift „manuskripte“, Ordner „Autorenbriefe 2005“, mit freundlicher Genehmigung von Alfred Kolleritsch und Andreas Unterweger.
„die manuskripte habe ich inzwischen auch, danke, die größte nummer ist das ja nicht gerade, aber wiener ist ganz schön, auch artmann, das andere ist wohl ziemlich unter der kanone von rio de janeiro“, schreibt Peter Handke am 22.11.1966 in einem Brief an seinen Freund Alfred Kolleritsch (Schönheit ist die erste Bürgerpflicht, Jung und Jung 2008, S. 9) und bezieht sich dabei auf eben jenes Heft 18 der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“ (1966/67), das schon bald als angebliche „Porno-Nummer“ in die Literaturgeschichtsschreibung eingehen sollte. Corpora Delicti in dem empört herbeigeschriebenen Skandal: Sprach-Akte wie „gegenstand zieht sein glied aus der wirklichkeit“ (25) aus Oswald Wieners „reportage vom fest der begriffe“, der „4. fortsetzung“ seiner ab Heft 13 (1965) kontinuierlich in den „manuskripten“ abgedruckten verbesserung von mitteleuropa, roman, welche die reaktionären Sittenhüter der konservativen Grazer Presse, von der Kulturzeitschrift „Das Programm“ bis zur „Süd-Ost-Tagespost“, auf den Plan riefen. Was da wieder einmal mit den wohlbekannten Argumenten hochkochte, war jenes „gesunde“ Volksempfinden, das sogenannte „Unzüchtigkeit in der Kunst“ nur tolerierte, insofern sie sich durch die ästhetische Form gebändigt präsentierte, wie dies etwa der Kulturredakteur der „Tagespost“, Wolfgang Arnold, in einem retrospektiven Kommentar unter dem Titel Kunst und Pornographie in der Zeitschrift des Alpenländischen Kulturverbandes Südmark „Lot und Waage“ (1968, H. 11/12) forderte. Die Argumentation war so altbewährt wie zynisch: Nicht die Freiheit der Kunst sollte infrage gestellt werden, sondern dem jeweils angeprangerten Werk wurde sein Kunstcharakter abgesprochen, wodurch es als Ausgeburt der obszönen Phantasie seines Verfassers innerhalb eines Krankheitsdiskurses entschärft werden konnte und zugleich unter den – im übrigen heute noch gültigen – § 1 des Pornographie-Gesetzes von 1950 „über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung“ fiel und somit zum gerichtlich verfolgbaren Straftatbestand wurde.
Die Konsequenzen im konkreten Fall sind bekannt und hatten eine existenzbedrohende Rufmordkampagne gegen den Herausgeber der „manuskripte“ in seiner Funktion als Gymnasiallehrer, eine polizeiliche Voruntersuchung, ein Verbreitungsverbot des betreffenden Hefts sowie die Sistierung von Subventionen für das Forum Stadtpark als Trägerverein der Zeitschrift zur Folge, aber auch eine vom Herausgeber initiierte Ehrenbeleidigungsklage gegen den Chefredakteur der Zeitschrift „Das Programm“, Kurt Kirmann, und eine Solidaritätsaktion, die in eine Flut von Unterstützungsbriefen für die „manuskripte“ aus dem In- und Ausland mündete – von Jürgen Becker über Ernst Jandl und Friederike Mayröcker bis Martin Walser, von der Galerie nächst St. Stephan über das Literarische Colloquium Berlin, den Suhrkamp bis zum Rowohlt Verlag, in dem schließlich Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, roman 1969 erscheinen sollte. Zum Pornographie-Prozess ist es übrigens nie gekommen, das Vorverfahren wurde laut Auskunft des Herausgebers 1968 eingestellt (vgl. die marginalie von 1968, H. 22).
Alfred Kolleritsch hat in der Rückschau-Nummer 149 (2000) anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums etliche der Dokumente aus jenem Konflikt nachlesbar gemacht. In einer ebenfalls in diesem Heft abgedruckten Rede anlässlich 15 Jahre manuskripte von 1975 erinnert er sich: „Die manuskripte ‚profitierten‘ von dieser durchschaubaren Dialektik von Reaktionären und neuer Kunst, von dieser gefährlichen Raunzerei, daß das Neue das Alte zerstöre und daß die Welt wieder einmal gerade am Ende sei, sie profitierten von dieser geradezu mythischen Dummheit, die in der Nazizeit aufglänzte und weiterstrahlt … Der Profit daraus war für uns der Zusammenhalt. Er ermöglichte das Überleben der manuskripte“ (85).
Oswald Wiener selbst, dessen Text zum eigentlichen Ausgangspunkt der Kalamitäten, aber auch der sich daran entzündenden „Widerstandsnarration“ wurde, ließ sich zu keinerlei Unterstützungserklärung bewegen und unterlief gemäß seinem individualanarchistischen Ansatz aggressiv-polemisch jegliche Vereinnahmung. Aufschluss über die geradezu sado-masochistisch wirkende Beziehung zwischen dem Herausgeber und seinem widerborstigen Autor geben Holger Englerths ausführliche Zitate aus dem Briefwechsel der beiden Autoren in seinem online über die Österreichische Nationalbibliothek nachlesbaren Essay über die Literaturzeitschrift „manuskripte“ (S. 19-22).
Wenn Alfred Kolleritsch in seinem Briefentwurf von 2005 retrospektiv die Bedeutung der verbesserung von mitteleuropa, roman für die „manuskripte“ hervorhebt und sich um die erneute Mitwirkung Wieners an der Zeitschrift bemüht, so hat dies aber – jenseits aller Kanonisierungsdebatten – vor allem inhaltliche Gründe, die in der Radikalität der Ansätze Wieners begründet liegen. War doch etwa, was in Heft 18 als Pornographie unschädlich gemacht werden sollte, Wieners „allah kherim [!] [Gott ist groß]. die erscheinungen sind gerettet. reportage vom fest der begriffe“, nichts weniger als der Versuch, den von Wiener konstatierten gordischen Knoten aus „sprache, staat und wirklichkeit“ (verbesserung, CXLII) zu durchschlagen, indem die (philosophischen) Begriffe, ihrer Zweckrationalität innerhalb der jeweiligen Denkgebäude entkleidet, in ihrer nackten Materialität zum „Fest“ geladen werden und dort freilich rauschinduziert-orgiastisch, ihrer wiederentdeckten Sprach-Körper-Lust gehorchend, neue – sinnliche – Verbindungen eingehen. Vom Eintreffen der Geladenen samt förmlicher Vorstellung („die existenz des tisches, seine hierheit. / die sitzung des ich, die schauung, die empfindung, die anwesenheit. das denken, der gedanke, die anschauung, die veranschaulichung der anwesenheit des tisches. / das ich…“, LXXXIX) über das Ablegen der Gäste und Sichtbarwerden des Darunterliegenden („der tisch ist ein tisch, das sein ist ein hirnöderl, die hierheit präsentiert gewähr…“, ebd.) bis zum „beginn der unzucht“ („jedes hauptwort wählt sich ein eigenschaftswort. jeder begriff wählt sich einen satz mit dem geschmust wird“, XCI) wird hier das (sprach)philosophische Universalienproblem literarisch ad absurdum geführt und insbesondere Ludwig Wittgensteins realistische Abbildtheorie der Bedeutung in seinem Tractatus logico-philosophicus ironisch aufs Korn genommen – wenn es etwa ausgerechnet unter der Regieanweisung „die stimmung lockert sich“ heißt: „die hauptwörter entsprechen den gegenständen, die eigenschaftswörter dem sosein, also der qualität der gegenstände, die verhältnis- und bindewörter den zwischen den gegenständen bestehenden beziehungen und verhältnissen, die tätigkeitswörter den zwischen den gegenständen sich abspielenden vorgängen.“ (XC)
Eben jene normierten Äquivalenzbeziehungen zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit aufzubrechen, indem der vorformulierte Sinn zum Schweigen und die Sprache zum Delirieren gebracht wird, die sinnstiftende Funktion der Sprache zu sistieren und damit die konkrete Materialität der Wirklichkeit, aber auch der Sprache als Teil der Wirklichkeit, wieder unvermittelt sinnlich und also individuell wahrnehmbar zu machen, war in den 1960er Jahren Wieners durchaus ernstgemeintes Anliegen mit seiner verbesserung von mitteleuropa, roman: „alle begriffe liegen auf einem haufen. man sieht förmlich die welt, wie sie alles ist was der fall ist (kasus).“ (XCII)
Eine Stelle wie „h) der höhepunkt des festes nähert sich […] / schließlich lassen die begriffe die wirklichkeit hochleben, prima inter pares. / gegenstand zieht sein glied aus der wirklichkeit und fällt schallend ein“ (XCIV) kann also nur im Kontext von Wieners damaligen sprachtheoretischen Überzeugungen einer – auch politisch notwendigen – Aufsprengung (sprachlich vermittelter) geschlossener Denksysteme gelesen werden.
Die Subversivkraft des Erotischen, die dem Herausgeber der „manuskripte“ jenen Pornographie-Skandal bescherte, diente dabei als ein, aber nicht das einzige Mittel zum Zweck: „überall steht das erotische ausserhalb der begrifflichen wirklichkeit, ausserhalb von sinn und bedeutung. Es ist anti-sozial, ausserhalb der kommunikation des verstandes, die eigentliche anarchie“, wie Wiener in seinem Anhang zu Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt betont. (Beiträge zur Ädöologie des Wienerischen, Rogner & Bernhard 1969, S. 287f.) Die Skandalisierungs- und Zensurversuche zeigen, dass die Radikalität der anarchischen Ablehnung und damit auch die Sprengkraft von Wieners verbesserung (auch für die „manuskripte“ und die dort publizierenden Autorengenerationen) von konservativer Seite zumindest intuitiv erahnt wurde. Wiener selbst hat sich nach einer Phase der, wie er selbst meint, Überschätzung der Rolle der Sprache, von der Literatur ab- und den naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorien zugewandt. Sein Zögern, seine Essays nach 2005 wieder in den „manuskripten“ zu publizieren, ist von daher verständlich; für die „manuskripte“-Autorinnen und -Autoren im Gegenzug wird die Auseinandersetzung mit dem in der verbesserung von mitteleuropa, roman erreichten Endpunkt eines Schreibens zum point of no return der poetologischen Selbstbefragung.
Pikantes Detail am Rande: In der über die Universität Maribor online verfügbaren „Marburger Zeitung“ vom 7.11.1944 steht auf Seite 4 über einen gewissen Kurt Kirmann zu lesen: „Im vergangenen Sommer hatte in einem öffentlichen Schwimmbad das Treiben des Grazers Kurt Kirmann mit mehreren Mädchen Empörung unter den anderen Badegästen hervorgerufen. Kirmann wurde verhaftet. Die Erhebungen führten zur Anklage wegen Verbrechens der Schändung. Aufgrund der Ergebnisse wurde der Angeklagte zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.“
Daniela Bartens
Am 23. und 24. April ist unter dem Titel „Wie es mit der Literatur weitergeht. 60 Jahre Literaturzeitschrift manuskripte“ ein Symposium des Franz-Nabl-Instituts in Kooperation mit „manuskripte – Zeitschrift für Literatur“ im Literaturhaus Graz geplant.