Doron Rabinovici: Von Luft und Liebe (Out of Joint 2021)

veröffentlicht am 20. Juli 2023 in Out of joint

Es ist eine Seuche. Ich war von ihr befallen und ich bin nun von ihr genesen. Wer weiß, wie lange ich immun sein werde. Die Folgeschäden, die werden bleiben. Diese Atemnot, wenn ich an sie denke. Der Druck auf der Brust. Das wird nicht mehr heil. Da ist etwas weg, amputiert. Es bleibt der Phantomschmerz im Morgengrauen, wenn ich die Hand ausstrecke nach ihr, nach Mania, aber sie ist fort.
Keine Ahnung, was sie je an mir fand. Unbegreiflich war mir das von Anfang an. Ich sah sie das erste Mal auf einer Demo. Ich ging gegen die Abschiebung eines Mädchens, das hierzulande aufgewachsen war, auf die Straße. Es war wohl bloß ein Unfall gewesen, dass mich ein Uniformierter niederstieß, aber als ich wieder zu mir fand, stand sie über mir. Mania: Sie war eigentlich nur da, weil sie die Anwältin war, die das Mädchen vertreten hatte – aber nun half sie mir auf.
Ich muss damals für einen Moment das Bewusstsein verloren haben und zuweilen ist mir, als wäre Mania nichts als eine Traumgestalt gewesen. Ich sei, denkt es in mir dann, bei jenem Sturz ins Koma gefallen, aus dem ich seither nicht mehr erwache. Alles, was danach geschah, war einfach zu gut, um wahr zu sein.
Allein ihr Interesse für mich gab mir das Gefühl, mich auserwählt fühlen zu dürfen. Sie, die Juristin, hilft jenen, die Asyl brauchen – oft auch ohne Honorar. Wahrscheinlich war es das, was uns verband und trennte zugleich. Sie glaubt an die Menschenrechte. Ich glaube daran, dass die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Vielleicht sah sie in mir den Kronzeugen für eine andere Wirklichkeit jenseits ihrer Ordnung und Verfassung. Ich erzählte ihr von Indien, von den Gruppen, die ich dort herumgeführt hatte, von meinem Reisebüro. Stundenlang sprach ich ihr davon. Habe ich sie damit angesteckt? Oder waren es die benghalischen Speisen, die ich für sie kochte – ja, das wird es gewesen sein – damit habe ich sie eingekocht… Oder verfiel sie mir, weil ich sie, die an Rückenschmerzen litt, wenn sie von der Arbeit heimkehrte, nach alter ayurvedischer Heilkunst massierte. Die leise Musik im Hintergrund, jene klassischen Ragas und dazu der Duft von Oud, vom Harz des Adlerholzbaumes taten wohl auch ihren Teil. Ich raunte ihr dabei zu: „Entspann dich. Schön locker bleiben. Atme – ein und aus – in den Schmerz hinein.“
Wir heirateten in Amritsar. Die Hochzeitsreise endete für Mania mit Durchfall. Zuhause wollte sie nicht mehr Scharfes essen und zog plötzlich heimische Kost meinen exotischen Spezialitäten vor.
Erst im Laufe der Zeit begriff sie, dass mein Unternehmen in der Krise steckte. Die Leute buchen ihren Urlaub nur mehr übers Internet. Niemand kommt noch zu mir. Es ist überall dasselbe. Eine Pandemie. Alles Click and Go.
Ich war einer der ersten, die vor dem Virus warnten. Durch meine Kontakte nach Fernasien wusste ich früh von der Seuche. „Mania“, sagte ich: „Da kommt was über uns… Nein… das ist schon da. Ich habe ein Video davon gesehen.“
„Du solltest nicht die ganze Zeit vor dem Laptop sitzen“, meinte sie: „Du wirst sonst krank, Frank“ und dann kehrte sie die Asche meiner Räucherstäbchen zusammen und öffnete das Fenster.
Damals schauten mich Manias Bekannte noch spöttisch an, wenn ich ihnen nicht die Hand gab, sondern mit einer indischen Verbeugung grüßte. Ich mied Umarmungen und Bussis, ehe alle begriffen, was Corona war.
Einige Tage später lachte keiner von denen mehr über mich. Alle verzichteten jetzt auf Berührungen und Küsschen. Das ganze Land wurde stillgelegt. Betriebe, Schulen und Gaststätten waren geschlossen. Veranstaltungen wurden untersagt. Alle blieben daheim. Lockdown.
Zunächst wurden wir beide angesteckt von der allgemeinen Welle der Freundlichkeit. Es war ein Ausbruch von Eintracht. Der Wunsch nach einem Kind kam zwischen Mania und mir auf. Nachbarn musizierten in ihren geöffneten Fenstern über die Straße hinweg miteinander. Am Ende jeder Komposition klatschte der ganze Häuserblock.
Sie arbeitete von Zuhause aus. Home Office. Mein Geschäft brach ein. Während sie an meinem Schreibtisch saß, wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich verschlampte. Sie übernahm das Kochen, das Aufräumen und das Waschen, da die Putzfrau nicht in die Wohnung kommen konnte. Ich verlor mich in den sozialen Netzwerken. Die halben Nächte verbrachte ich vor dem Bildschirm. Es war eine Seuche. Ich kann nicht sagen, wovon ich damals befallen war. Ich klickte Beiträge an, von denen ich eigentlich wusste, dass sie nicht die ganze Wahrheit waren. Ich suchte nicht, was stimmte, sondern bloß was einstimmte. Ich wollte nicht stillhalten, sondern gemeinsam protestieren. Ich sammelte Likes und Zuspruch. Gegen die Einsamkeit der Massenquarantäne… Aber statt Menschen sah ich allein Tweets und Posts.
Bald fanden die nachmittäglichen Fensterkonzerte im Viertel kaum noch Beachtung. Nur manchmal schrie einer noch: „Ruhe“, wenn die Vorführung ihm zu lange dauerte.
Mania vermied jeden Körperkontakt zu Fremden. Sie wusch ihre Hände und rieb sie mit Desinfektionsmittel ein, bis die Haut so rau und schrundig geworden war, dass sie dagegen eigene Heilsalben brauchte. Sie trug außerhalb der Wohnung überall Maske. Wenn ihr auf dem Gehsteig Menschen entgegenkamen, ging sie auf der Fahrbahn weiter. „Du wirst noch überfahren werden“, sagte ich ihr: „Dann bist du gesund, aber tot.“
Nachdem der erste Lockdown beendet war, verlor ich die Geduld mit den Maßnahmen. Meine Firma erholte sich nicht. Alles, was mich einst ausgemacht hatte, war nun verboten. Ich durfte nicht fliegen. Es war mir nicht erlaubt, Reisen anzubieten. Ich konnte nicht einmal in mein Yogastudio. Ich sah meine Existenz nicht durch das Virus, sondern durch alle Verordnungen bedroht. Die Einschränkungen waren gegen mich persönlich gerichtet. Es war eine Entmündigung. Ich war doch gesund und fit! War es nicht immer um Eigenverantwortung gegangen? Sollten wir nicht an die eigene Kraft glauben? Wieso waren auf einmal die Schwächsten das Maß aller Dinge?
Mania fürchtete täglich, dass sie angesteckt worden war. Wachte sie mit einem Kratzen im Hals auf, glaubte sie, es sei Corona. „Ich kann dich nicht riechen.“
„Du bist ja krank“, entfuhr es mir.
„Meinst du wirklich? Denkst du, ich bin infiziert?“
„Ja, vom Coronawahn!“ antwortete ich. COVID19 sei nicht schlimmer als eine Grippe. Das Virus könne Mania und mir nichts anhaben … sei nur für Dahinsiechende letal. Es klinge hart, doch im Grunde hätten die meisten Schwerkranken ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt. Es sei eine Zumutung, so zu tun, als wären nun alle nicht gesund. Der Rest der Gesellschaft, die Wirtschaft und die Demokratie würden derweil zugrunde gehen. Mit demselben Eifer, mit dem ich vor der Pandemie gewarnt hatte, redete ich jetzt von Panikmache. „Entspann dich. Schön locker bleiben.“
Sie widersprach mir nicht. Sie ging mir nur aus dem Weg. Aber wir waren zusammengepfercht. Lockdown. Täglich räumte sie meinen Dschungel aus Tüchern, Töpfen, Pölstern, Statuetten und Räucherstäbchen zur Seite: „Ich brauche Platz zum Arbeiten.“
Ich sagte: „Kannst du bitte nicht immer die Fenster aufreißen. Ich hole mir noch den Tod.“
Sie erschrak: „Fühlst du dich krank?“
„Nein, mir ist einfach kalt.“
„Ich brauche die Frischluft Ich kann sonst in diesem Dunst nicht denken.“
Früher hatte Mania gerne an mir geschnuppert. Sie hatte mein orientalisches Parfum gemocht. Jetzt wandte sie sich ab, wenn ich ihr zu nahekam. Sie wollte auch nichts mehr von meinem Indien hören. Als ich ihr erzählte, die Menschen würden dort den Tod als Teil des Daseins annehmen, verließ sie das Zimmer.
Ich traf – trotz Pandemie – Freunde. Gleichgesinnte, die ich in deren Wohnungen aufsuchte, um mit ihnen darüber zu klagen, wie übertrieben die Maßnahmen gegen Corona wären. Einmal überredete ich Mania, mitzukommen. Ich hoffte, sie würde angesichts der anderen, ihre Ängste vergessen. Aber sie war nur abgestoßen von ihnen. Manche hatten keinen Mundnasenschutz aufgesetzt und beinahe alle saßen sie eng beisammen, als bestehe gar keine Infektionsgefahr. Sofort öffnete sie, obwohl es draußen schneite, ein Fenster, blieb dort – entfernt von den anderen – mit Maske stehen und begann, mit allen zu streiten.
Zurück zuhause brach es aus mir hervor: „Es ist nicht auszuhalten mit dir. Für niemanden.“
Vielleicht war es nichts als der Ärger über Manias Manie, weshalb ich Tage später auf die Demonstration ging. Womöglich war es auch der Zorn über die Reisebeschränkungen, der mich auf die Straße brachte. Mir war nicht wohl in dieser Masse. Manche hatten den gelben Stern mit der Aufschrift „ungeimpft“ angeheftet. Ich sah Plakate, auf denen stand: „Heimatschutz statt Mundschutz“ und eine Frau rief, ein jüdischer Milliardär müsse weg und ein anderer grölte, die wollten dem Volk mit der Spritze Mikrochips einpflanzen.
Ich kam mit schlechten Gewissen heim. Ich sah Mania mit Kopfhörern am Schreibtisch sitzen und ich wollte sie bloß berühren, sanft streicheln, aber sie erschrak, als sie meine Hand im Genick spürte. „Entspann dich. Schön locker bleiben“, sagte ich.
Sie wich mir aus: „Du warst bei der Kundgebung? Jetzt hast du die Maske also fallen gelassen.“
„Ich hatte sie die ganze Zeit auf“, antwortete ich. „Ich war nur aus Neugier da.“
„Bei den Nazis und Covidioten bist du gelandet.“
Ich schrie, sie gebe nur noch lauter Blödsinn von sich. Sie rede schon wie ein Quarantäneblockwart, ja, wie ein Seuchenmullah der Coronaverschleierung.
Am Tag darauf wurde Mania fiebrig. Sie hustete und hatte Kopfweh. Wieder hatte sie Angst, infiziert worden zu sein, doch alle Tests waren negativ. Sie war bloß verkühlt. Sie kroch mit dem Laptop ins Bett und schaute nach, ob ihr endlich ein Termin für eine Impfung zugeteilt worden war. Sie suchte nach ihrer Vormerkung. „Frank“, hörte ich sie aus dem Schlafzimmer: „Ich finde meinen Eintrag nicht.“
Im selben Moment sah sie es mir an. „Ich habe uns abgemeldet“, erklärte ich.
„Das glaube ich jetzt nicht. Sag, dass es nicht wahr ist.“ Der Rest ging in einem Hustenanfall unter.
„Mania, hast du es denn nicht gehört. Es gibt Berichte über Nebenwirkungen… Ich würde lieber zuwarten.“
„Worauf denn?“
„Wir wollen doch ein Kind.“
Nach meinen Worten keuchte Mania plötzlich. Ihr Atmen ein einziges Pfeifen. Sie schloss die Lider. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ihre Wangen glühten.
Ich rief: „Was ist denn? Mania? Schau mich an? Mania!“ Ich wollte die Rettung rufen, da öffnete sie die Augen wieder und schnaufte nur noch sehr schnell.
Ich schrie: „Entspann dich, Mania. Bitte. Schön locker bleiben! Alles gut. Atme – ein und aus – ganz langsam.“
Sie nickte.

Am nächsten Tag, als sie sich beruhigt hatte, versuchte ich einzulenken: „Wenn du willst, melde ich uns beide an.“
„Ich habe schon einen neuen Termin für mich gebucht.“
Ich erklärte: „Es tut mir leid. Ich habe mir einfach Sorgen gemacht. Das kann gefährlich sein für dich, aber auch für… Wegen einer Schwangerschaft. Wir wollen doch ein Kind.“
„Echt jetzt?“
Darauf ich: „An mir liegt’s nicht.“
Sie lachte auf, schüttelte den Kopf und dann: „Ich werde die nächste Zeit in der Kanzlei bleiben. Ich brauche jetzt Abstand.“
Ich griff nach ihr: „Nein, Mania…“
Aber sie stieß mich weg.
Sie schlief von da an auf der Couch im Wohnzimmer und bereits in der nächsten Woche packte sie das Nötigste, auch eine Yogamatte sowie Bettzeug ein und fuhr in die Kanzlei. Ob das, was zwischen uns gewesen war, an oder mit Corona gestorben ist? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht sagen, wann das Ende begann. Ich weiß nicht einmal, was Mania denkt. Vielleicht ist jede Liebe nichts als ein wechselseitiger Befall, eine virale Kontamination. Lebensgefährte – klingt das nicht immer nach Lebensgefahr?

Ich weiß nicht, was mich in jenen Monaten befallen hat. Dieser Wunsch, hinter all dem Wahnsinn eine Methode, einen Plan, eine Verschwörung zu sehen… Und geschah mir das trotz oder eher wegen Mania? Ich bin jetzt von dieser Seuche aus Irrsinn genesen. Aber bin ich nun immun? Und wenn, für wie lange? Die Folgeschäden sind jedenfalls geblieben. Die Atemnot, wenn ich an Mania denke, wenn ich morgens die Hand ausstrecke nach ihr und sie ist nicht da…
Als wir einander gestern – nach vielen Wochen – trafen, um in einem Café alle Modalitäten zu klären, sagte sie zu mir: „Lass dich lieber impfen“, und dann ihr kurzes Stocken, ein kleines Erstaunen, als ich antwortete, ich wäre schon längst doppelt geimpft. Wie zwei Fremde saßen wir einander gegenüber – mit Abstand und Maske.