Es gibt in Graz das Literaturhaus und rundum alles andere.
20 Jahre Literaturhaus Graz.
Zur Eröffnung des Literaturhauses im Mai 2003 im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres Graz. Capital of Europe 03.
Objekt des Monats September 2023.
Erste Eintragungen in das Gästebuch des Literaturhauses anlässlich der Eröffnung 03, mit ausgewählten Einträgen von Friedrich Achleitner, Ilse Aichinger, Aharon Appelfeld, Wolfgang Bauer, Bruno Ganz, Anselm Glück, Alfred Kolleritsch, Ilma Rakusa und Urs Widmer, sowie Fotos von der Baustelle und dem soeben eröffneten Literaturhaus © Lea Titz
Es gibt in Graz das Literaturhaus und rundum alles andere, so fasste Anselm Glück in seiner Eintragung ins Gästebuch des Literaturhauses anlässlich der Eröffnung im Mai 2003 schon vorwegnehmend dessen Bestimmung zusammen. Rundum alles Mögliche, und mittendrin ein Haus für die Literatur.
Im Mai 2003 wurde das Literaturhaus Graz mit einem dreitägigen Veranstaltungsreigen feierlich eröffnet. Es war ein Projekt, das im Rahmen von Graz. Capital of Europe 03 neben Institutionen wie dem Kunsthaus, der Helmut List Halle, dem Haus der Architektur, dem Kindermuseum FRida & FreD sowie der Murinsel geplant und umgesetzt wurde, und seit nunmehr 20 Jahren eine wesentliche Rolle spielt, den Ruf der Stadt als „heimliche“ oder „unheimliche“ „Hauptstadt der Literatur“ zu bewahren, zu untermauern, zu erweitern und in die Welt zu tragen. Das Stadtpalais in der Elisabethstraße, in dem bis dahin das Kulturhaus der Stadt Graz untergebracht war, wurde revitalisiert und durch einen Neuzubau für den Veranstaltungssaal, das Archivdepot und das Café nach Plänen des Architekturbüros Riegler/Riewe vergrößert. Das Literaturhaus ist ein Projekt der Stadt Graz, ist aber, wie das im selben Gebäude untergebrachte Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung mit Bibliothek und steirischem Literaturarchiv (mit Vor- und Nachlässen von u.a. von Barbara Frischmuth, Gerhard Roth und Werner Schwab), Teil der Karl-Franzens-Universität Graz, finanziert wird das Haus mit seinem Team sowie seinem Jahresprogramm von der Stadt Graz.
Zu den Anfängen: Eröffnung 03
Ein Eröffnungsprogramm für ein Literaturhaus zu gestalten, in einer Stadt, die eine so lebendige und etablierte Literaturszene hat, ist nicht leicht, ebenso wenig übrigens wie für die Jubiläen, die bisher gefeiert wurden, zu 10 Jahren, zu 15 Jahren, nunmehr zu 20 Jahren Literaturhaus.
Vielfalt und Offenheit sind seit Anbeginn die programmatischen Vorsätze gewesen, dem Anspruch sollte auch das Eröffnungsprogramm gerecht werden.
Vor dem offiziellen Eröffnungsakt gab es am 7. Mai eine inoffizielle Eröffnung mit „Ein Fest für steirische Autorinnen und Autoren“, zu dem die heimische Literatur-Szene aus Graz und der Steiermark geladen war. Ein „Klassentreffen“, bei dem gelesen, getrunken und getanzt wurde, ein Fest, so war die Idee, das all die Grazer Dichter und Denker zusammenbrachte, die alten und die jungen, die bekannten und neuen, all jene, die den Ruf der Stadt als Literaturstadt etablierten.
Am 9. Mai 03 fand dann die offizielle Eröffnung im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres statt, mit Reden von Christian Buchmann (Stadtrat für Kultur) sowie Alfred Kolleritsch und Gerhard Melzer und Bürgermeister Siegfried Nagl. Dann folgten Lesungen von Ilse Aichinger (Wien), Aharon Appelfeld (Jerusalem) und Melitta Breznik (Graubünden, CH) sowie die Eröffnung der permanenten Ausstellung Augen:Blicke – Schrift:Stücke. 45 + 1 mal Literatur aus Graz des Foto-Künstlers Branko Lenart. Diese Bilder samt Autographen der Abgebildeten hängen heute in den Gängen des Franz-Nabl-Instituts. In seiner Rede zum „utopischen Gedächtnis der Literatur“ anlässlich der Eröffnung sprach Gerhard Melzer über die „Hausübergabe“ [1]:
Natürlich ist damit zunächst bloß eine materielle Hülle bereitgestellt, die erst mit Leben gefüllt werden muss, doch der Auftrag, der dieser Hülle eingeschrieben ist, kann konsequenterweise nur lauten: das Widerständige der Literatur zu entfalten und Verständnis für das Besondere ihrer Weltzugänge zu wecken. (…) Jenseits der materiellen und organisatorischen Gebilde, die sie [die Literaturhäuser] darstellen, sind sie Resonanzräume für das utopische Gedächtnis der Literatur. Indem sie Reichtum und Vielfalt des literarischen Gegensinns präsent halten, tragen sie dazu bei, die verengten Spielräume des Lebens zu öffnen und zu weiten.
Alfred Kolleritsch, der die Festrede mit dem Titel „Ja, die Literatur existiert…“ [2] hielt, sprach darüber, warum es eben Literaturhäuser geben müsste:
Aus dem kurz Angedeuteten lässt sich natürlich nicht deduzieren, dass es Literaturhäuser geben muss, aber wohl, dass es sie geben müsste als Orte des vielfältigen Versammelns und Sammelns. Sie sind die Wohnungen für die Literatur, Ruhepunkte und Raststätten für die letztlich von ihnen völlig unabhängigen Wege der Literatur – allerdings auch Grab- und Erinnerungsstätten, archäologische Felder für die Zukunft, Felder, aus denen Erfahrungen für zukünftiges Schreiben gewonnen werden und wo Liebhaber der Literatur ihre Liebe zur Literatur auftanken. Literaten werden sich treffen, Lesungen werden umschlagen in Kommunikation mit dem Publikum. Das Schwierigste allerdings wird es sein, das Maß zu finden und den Mut, sich zur Qualität auswählend zu bekennen.
Die Stätte für alle wird das Literaturhaus auch nicht sein können und dürfen. Ein Literaturhaus ist eine Durchgangsstation für Autoren, die Anregungen bietet – gleich jenen Wirtshäusern, von denen Demokrit spricht, die auf mühsamen Wegen zur Rast und Erholung und Selbstfindung einladen.
So stelle ich mir das halt vor.
Alfred Kolleritsch betonte in seiner Rede schließlich auch die Chance von möglichen Synergien in der nicht nur räumlichen Nähe zum Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung:
Liebe Freunde des Literaturhauses! In euren Händen liegt die Zukunft, aber ein Literaturhaus hat auch, wie es weiland Lessing getan hat, Rettungen zu versuchen, das Werk von zu unrecht Vergessenen aufzuspüren und es zur Diskussion zu stellen und es mit hineinzunehmen in das Gebrodel des Gegenwärtigen. Das Nabl-Institut, das in das Literaturhaus hineingewachsen ist, hat manches vorbildlich gerettet. Die Bemühung, ein Archiv aufzubauen, gehört dazu.
Am 10. Mai 03 lud man zu einem „Offenen Haus“, das ab 15 Uhr mit einem Programm von Lesungen, Theater und Musik – mit Friedrich Achleitner, Martin Amanshauser, Wolfgang Bauer und The Neighbours, Hermann Beil, Petra Coronato, Doris Dörrie, Günter Eichberger, dem Georg Jantscher Trio, Daniel Glattauer, Heinz Hartwig, Kabinetttheater, Anna Nöst, Christine Nöstlinger, Jutta Richter – das neu eröffnete Haus bespielte. Alles sollte/musste hier schon von Anbeginn an Platz haben, um andeutungsweise die Vielfalt und die Offenheit zu demonstrieren und damit auch die Weichen zu stellen für ein ambitioniertes Programm: Die heimische Szene mit Einrichtungen wie dem Forum Stadtpark oder den Minoriten und den zahlreichen Literaturzeitschriften (wie manuskripte, Lichtungen, perspektive, Schreibkraft), die internationale Szene mit wichtigen, renommierten AutorInnen, die Jungen und die Neuen, nicht zu vergessen die historischen Vermächtnisse und jene heimischen Dichter, die den Ruf von Graz als „heimlicher Hauptstadt der Literatur“ begründeten und ihn hinaustrugen in die Welt. Ach, wo anfangen? Ach, wie niemanden vergessen? Eine Herausforderung für uns als kleines Team, dem neben Gerhard Melzer als Leiter, Riki Winter, Paul Pechmann und ich angehörten. Zumal es auch galt, dem Gegenwind Stand zu halten.
Dem drei-tägigen Eröffnungsreigen folgte kurz danach das Projekt Sprachmusik. Vom Klang der Worte oder Erkundungen im Zwischenfeld der Künste, das sich in Theater und Performance, in Ausstellungen und Installationen sowie einer Publikation Handke, Jonke, Bernhard, Rühm, Jelinek und Schwab widmete. Und danach noch das zweitägige Projekt Es liegt was in der Luft… Die Himmel Europas, ebenfalls ein Projekt im Rahmen von Graz 2003, mit Lesungen von Belen Gopegui, Ismail Kadare, Alfred Kolleritsch, Claudio Magris, Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar, Ilma Rakusa, Maria Rybakova, Eric-Emmanuel Schmitt, Yoko Tawada, Urs Widmer, John Wray, Joseph Zoderer. Der Auftakt war, wie in der selbst auferlegten Programmatik festgeschrieben, vielfältig, offen, international und sollte den Weg weisen für die Zukunft des Hauses. Liest man die Namen all jener, die in diesem Eröffnungsmonat Mai 03 im Literaturhaus Graz zu Gast waren, und blickt man nun auf 20 Jahre Literaturhausprogramm zurück, so kann man durchaus sagen: Man wurde den (eigenen) Ansprüchen gerecht.
In Zahlen
Misst man das Wirken des Literaturhauses Graz in diesen 20 Jahren quantitativ, so kommt man auf beeindruckende Zahlen: 2000 Veranstaltungen wurden von 200.000 Besucherinnen und Besuchern erlebt, 4000 Mitwirkende (bei Lesungen, Vorträgen, Moderationen, Gesprächen, Musik etc.) waren hier zu Gast. Man könnte sagen: Eine Grazer Erfolgsgeschichte, die weit über regionale Grenzen hinausreicht.
Literaturhaus Graz heute
Mittlerweile ist das Literaturhaus zu einer einmaligen „Institution“ geworden, die ohne Übertreibung ein Garant dafür ist, interessante, aktuelle und außergewöhnliche deutschsprachige, aber auch internationale Gegenwartsliteratur nach Graz zu bringen. Wobei seit nunmehr 20 Jahren Qualität und Vielfalt sowie Wertschätzung für Autorinnen und Autoren und ihr Publikum die obersten Parameter für die Programmgestaltung sind und das Haus als einen lebendigen Ort heutiger Literaturvermittlung etabliert haben. Ein Schwerpunkt liegt natürlich auf der Präsentation von Neuerscheinungen steirischer, österreichischer, deutschsprachiger und internationaler Autorinnen und Autoren, darüberhinausgehend finden diskursive Formate wie Gesprächsrunden, Vorträge oder Performances ebenso ihren Raum wie neue Formate, etwa Science meets Poetry oder die Literaturshow Roboter mit Senf. Eine Ergänzung in Hinblick auf die wissenschaftliche Bearbeitung von Literatur erfährt das Programm des Literaturhauses durch die Zusammenarbeit mit dem Franz-Nabl-Institut in Form von wissenschaftlichen Symposien oder durch Kooperationsveranstaltungen mit anderen Instituten der Universität Graz (etwa mit der Slawistik oder Romanistik) oder anderen Grazer Kulturveranstaltern (etwa dem steirischen herbst, Clio oder der Akademie Graz).
Für Klaus Kastberger, der das Literaturhaus seit 2015 leitet, ist die Aufgabe eines Literaturhauses „nicht allein die aktuelle, sondern auch die historische Vielfalt des literarischen Schaffens und seine Relevanz für die Gegenwart zu zeigen“, und sich auch mit neuen Formaten dem breiten Spektrum der Literaturvermittlung zu widmen:
Neue Formate haben sich am Literaturhaus Graz in den letzten Jahren etabliert: Die Reihe Grundbücher stellt wichtige Werke der österreichischen Literatur nach 1945 vor und befragt sie nach ihrer heutigen Relevanz. In der Literarischen Soirée, die für Ö1 aufzeichnet wird, diskutieren wir literarische Neuerscheinungen. In den Grazer Vorlesungen zur Kunst des Schreibens, die im Droschl-Verlag publiziert werden, denken Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Journalismus und Literatur über ihr Schreiben nach. In der Reihe Zur Sache reflektieren wir anhand von neu erschienenen Sachbüchern aktuelle Themen der Zeit. Einmal pro Jahr findet in Zusammenarbeit mit dem Franz-Nabl-Institut ein wissenschaftliches Symposium (in den letzten Jahren unter anderem zu Elfriede Jelinek, Clemens J. Setz und Gerhard Roth) statt. Im Literaturfestival Out of Joint, einer Kooperation mit dem steirischen herbst, sehen wir den Verwerfungen der Gegenwart ins Auge. Neue Wege der Literaturvermittlung beschreiten die Formate Science versus Poetry und die Literaturshow Roboter mit Senf.
Jubiläen
Vor allem den Autorinnen und Autoren Raum zu geben und etwas Bleibendes zu schaffen, war das Credo für die Jubiläen, die es zu feiern galt. Wie zum 10-Jährigen Jubiläum (kein Haus: ein szenischer Abend in 10 Stationen mit dramatischen Kurztexten von Valerie Fritsch, Anselm Glück, Elfriede Jelinek, Stefan Schmitzer, Monique Schwitter, Clemens Setz, Gerhild Steinbuch, Peter Turrini, Andreas Unterweger und Josef Winkler sowie mit Essays von Barbara Frischmuth, Ruth Klüger und Marlene Streeruwitz) und zum 15-Jährigen Jubiläum (Graz. Mit 60 Schriftsellerinnen und Schriftstellern an besondere Orte der Stadt, Anthologie 2015) gibt es auch zum 20-jährigen Jubiläum eine Publikation, die, wie es sein soll, vor allem Autorinnen und Autoren sprechen lässt und, wie könnte es auch anders sein, diesen besonderen Ort zum Thema macht. An die 300 Statements halten Graz als Ort der Literatur fest, nachzulesen ab September in GRAZ. Momente der Literatur.
Der Gästebuch-Eintrag von Urs Widmer anlässlich der Eröffnung des Hauses lautete übrigens: „Möge das Literaturhaus ein langes, glückliches Leben haben, und wir gleich mit.“
Agnes Altziebler
[1] Gerhard Melzer (Hg.): literatur h aus graz. Ein Bilderbuch 2003-2005 (Sonderzahl 2006), S. 21ff.
[2] Ebda, S. 27ff.
veröffentlicht am 24. August 2023 in Objekt des Monats