Grazer Literatur in 100 Jahren

Grazer Literatur in 100 Jahren

Das Literaturhaus Graz veranstaltete von 14. bis 15. März 2019 ein Symposion mit dem Thema „Graz 2000+. Neues aus der Hauptstadt der Literatur.“ Dabei sollte untersucht werden, ob es auch nach der Jahrhundertwende noch eine ähnliche lose Formation von Autorinnen und Autoren gibt wie jene, die in den 60er-Jahren als „Grazer Gruppe“ Literaturgeschichte geschrieben hat. Schriftsteller wie Wolfgang Bauer, Gunter Falk, Barbara Frischmuth, Peter Handke, Klaus Hoffer, Alfred Kolleritsch oder Elfriede Jelinek begründeten den Ruf von Graz als „Literaturhauptstadt“. Diese Autoren fanden sich rund um das Forum Stadtpark und die Zeitschrift „manuskripte“ zusammen. Nun sollte im Rahmen eines zweitägigen Symposions untersucht werden, ob und wie weit man heute noch eine ähnliche Gruppierung orten kann.

Auch die Zukunft war Thema: Die AutorInnen Günter Eichberger, Ralf B. Korte, Stefan Schmitzer, Cordula Simon und Kinga Toth verfassten ihre Visionen der „Grazer Literatur in 100 Jahren“. Diese sind hier nachzulesen:

veröffentlicht am 20. Juni 2023 in Allgemein

Günter Eichberger: Nach dem großen Knall

2119 gibt es, wie wir wissen, den Planeten Erde nicht mehr, weil der einstimmig von seinem Vater bestimmte Weltregent Barron Trump ihn während seiner Inauguration mit seinem hochtechnologisch aufgerüsteten Gameboy in die Luft gesprengt hat. Ob aus erblich bedingter, verzeihlicher Zerstreutheit oder in einem kostbaren Moment der Klarsicht, darüber streiten sich die Sonnensystemgeschichtsschreiber von Milchstraße zu Milchstraße. Die Hauptsache ist jedenfalls, dass die Grazer Literatur den sogenannten Weltuntergang zumindest in Teilen überstanden hat. Und so können wir heute als unseren Ehrengast auf dem virtuellen Podium Alfred Kolleritsch begrüßen, er hat den finalen Atomschlag überstanden, ohne seine menschliche Gestalt eingebüßt zu haben, letzter noch lebender Zeitzeuge neben Keith Richards.
Klaus Hoffer hat sein komplettes geistiges Potential nach dem Vorbild Oswald Wieners rechtzeitig in einen Computer einspeisen lassen. Als künstliche Intelligenz schweigt er künstlerisch noch eindrucksvoller. Als das Wünschen noch geholfen hat, ist Gerhard Roth Seite für Seite in seinem Archiv aufgegangen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit fiel Wilhelm Hengstler in ein Wurmloch. Barbara Frischmuth lebt faktisch alternativ als Frau im Mond. Alfred Paul Schmidt besiedelt die Rückseite.
Wir anderen haben uns in unsere Moleküle, Atome, Quarks aufgelöst, es fällt schwer, uns einer Person zuzuteilen, auch wissen wir selber nicht mit Bestimmtheit, ob wir leben, ob wir gestorben sind, die Wahrheit wird wohl sein, dass manche unserer Partikel durch die Radioaktivität besonders belebt wurden, sie scheinen auch ein Bewusstsein zu haben, unseren Bruchstücken sind lauter Mikrogehirne gewachsen, die gar nicht anders können als zu denken, und wer denkt, der dichtet auch. Nur dass wir in unserem aufgelösten Zustand nichts davon aufzeichnen. Wir schreiben nicht, wir dichten. Schon zu unseren unversehrten Zeiten hatten sich Menschen nur noch von Berufs wegen mit Literatur befasst. Alle anderen mieden sie wie Aussatz, Pestilenz und Cholera.
Das musste niemandem leid tun. Die Literatur nach der Moderne lebte davon, die alten Geschichten noch einmal zu erzählen, die vor der Moderne alle zum seligen Einschlafen gebracht hatten, und weil sich unbewusst alle an alles erinnern, was jemals erzählt wurde, wollten alle wie Kinder die gleichen Geschichten noch einmal und immer wieder hören. Neue Erkenntnisse verschaffte das nicht, das immer schon Gewusste wurde aufs freundlichste bestätigt. Aber die Erkenntnis war längst aus der Dichtung ausgewandert und anderswo daheim. Unbekannten Aufenthalts. Vielleicht ständig auf der Flucht.
Aber wenn die Literatur auch dahinsiechte und zu schwach zum Sterben war, so blieb doch immer noch – die Poesie. Die Poesie ist dieses benannte Unnennbare, das jeder kennt, der sich wünscht, fliegen zu können. Wer sie aber begrifflich fassen möchte, dem löst sie sich beim Sprechen auf. Die Poesie ist tatsächlich unsterblich, sie überlebt die Sonne, weil sie älter ist als sie. Auf die Poesie müssen wir nicht vertrauen, sie ist immer für uns da, auch wenn wir längst fort sind. Sie macht alles für uns, weil wir alles für sie tun. Und was bleibt uns auch anderes übrig? Mit der Literatur hat sie weniger zu schaffen, als uns scheinen mag. Wir wissen oder ahnen sehr stark, dass sie etwas anderes ist. Wir können nur sagen, was sie ganz bestimmt nicht ist. Ein Allerweltsunterhaltungsindustrieprodukt.
Wir sind reiner Geist, ein unhörbares Murmeln unerhörter Diskurse, wir sind eine Schwarmpoesie, die ganz Gegenwart ist, und deshalb ewig. Fern jeder Überlieferung flüchten unsere Eingebungen vor uns selbst.
Wohl gibt es haltbare Gerüchte, der eine oder die andere habe sich vorübergehend materialisiert, trotz Verwandlung unverkennbar mit einem früheren Selbst verwandt. So soll es Frequenzen geben, die alle Teilchen, auch die kleinsten, die sie vernehmen, in sich zusammenstürzen lassen. Auch erscheint an hohen Festtagen ein Himmelskörper, die tote Königin genannt, der sich von Sternen ernährt. Aber das sind wohl Mythen, die sich unsere Restbestände ausdenken, um über die Himmelsrunden zu kommen.
Unsere Hymne summt in uns: Unser Leben, das ist ein Schweben/ durch die Ferne, die keiner bewohnt. Ja, niemand außer uns nimmt uns wahr, das könnte uns traurig stimmen, aber so etwas wie Trauer kennen wir nicht, das Wort schon, das Wort, die Wörter alle, sie sind um uns, die Wörter hören uns womöglich, an die Wörter wenden wir uns, sie werden uns überleben, es sei denn, wir vergessen sie, wie wir uns selbst vergessen haben, denn wir könnten nicht sagen, wer wir einmal gewesen sein könnten, auf der Zunge das Fremde vielleicht, unsere Materie nur Sprachmaterial, Sätze, die noch in uns verglühen. Ist, was wir erfinden, vor unserer Zeit Vorgefundenes, nichts als Nachhall? Wer soll uns antworten, wenn nicht wir?
Wen kümmert’s, wer spricht? Uns sicher nicht. Und die Sätze, die uns zufallen, klingen wie Zaubersprüche für eine Welt, die verfallen ist.  Hohl klingt, was einmal sphärisch klang.
An eine Zukunft glauben wir nicht, da wir so etwas wie Zeit längst hinter uns haben, nach dem großen Knall, jetzt steht nur als Orientierung ein Wort neben dem anderen, wir wissen nicht, wie wir sie lesen sollen, auch scheint alles ständig an Bedeutung zu verlieren, unsere immer dichtere Masse schrumpft, es zieht uns zusammen, bis auf einen ausdehnungslosen Punkt.

Ralf B. Korte: G119

vom nichtexistenten sprechen : eine grazer gruppe hat schon in den 60ern nicht existiert — es sprach nur nichts dagegen eine grazer gruppe zu behaupten, es gab schliesslich freundschaften zwischen den schreibenden die sich auf symposien zur literatur im rahmen des steirischen herbstes ab 1968 trafen .. zudem waren einige der regelmässig eingeladenen auch in der steiermark oder graznah geboren & haben in der grazer literaturzeitschrift manuskripte publiziert — einige suchten
aber gern das weite, ob wien oder berlin oder italienische städte, um weitere erfahrung zu sammeln. dass grazer gruppe ein label für behutsame moderne werden konnte, lag an der jahrzehnt-langen zurückhaltung der manuskripte : kein exponieren eines radikal politischen, eher leises experimentieren mit formen & stets blieb ein bestimmter poetischer grundton in den heften erhalten der mir — als abonnent der hefte & literaturstudent mit einigem interesse an zeitgenössischer
österreichischer literatur — damals etwas vergangen klang, als wärs nur mitnahme von sich verlierenden schreibweisen oder, teils zu langsamer abschied vom gestern .. die hand des herausgebers war dabei stets spürbar, alfred kolleritschs linie klar erkennbar auch im verzicht auf den inzwischen gebräuchlichen werberummel.

gruppen-definition indessen verdankt sich in der regel entweder dem tatsächlichen bestehen einer verschworenen gemeinschaft mit definierten zielen wie sie beispielsweise in manifesten formulierbar sind, oder äusserer bedrohung künstlerischer freiheit wie z.b. in repressiven regimen, die nur bestimmte formen künstlerischen schaffens öffentlich dulden können : dann entstehen gruppierungen aus selbstschutz oder zur herstellung minimaler gegenöffentlichkeit bei entsprechend klandestinen treffen. da solche klassischen avantgarden zuzurechnende konstellationen jedoch in graz vermieden wurden, haben die früher in graz lehrenden literaturwissenschaftler kurt bartsch & gerhard melzer schon 1990 den begriff TRANSGARDE eingeführt zur charakterisierung dessen, was
besser unter grazer gruppe gefasst werden sollte. dieses zwischen bleibt genügend unbestimmt, als bewegliche wächterfunktion an einem oder mehreren übergängen innerhalb des literarischen feldes mit tendenz zur leeren repräsentation von fähigkeiten. die unter dem label gg inzwischen versammelten haben nicht allein im je eigenen schaffen einige positionswechsel vollzogen, sondern sind auch kaum als mitglieder derselben gruppe definierbar — am wenigsten jene inzwischen nachrückenden jüngst-grazer-gruppe-mitglieder, deren orientierung an den äusseren gegebenheiten ihr literarisches schreiben zum nachweis verlässlicher produktion, reproduktion & produkt-identität werden lässt .. die selbstüberholung in der ringsumbefragung stellt nun hin was fehlt & nicht fehlt, zusammenhalt als möglichen umgang des mit einander.

was die bedeutung einer grazer gruppen literatur in 100 jahren betrifft : wird es dann vermutlich keine literaturen mehr geben. die aufgabe der literatur bestand unter anderem im einüben eines bestimmten verhaltens, notwendiger moralvorstellungen, umgangsformen, vermittlung historischer & gesellschaftlicher kenntnisse sowie eines gewissen masses an eleganz im umgang mit worten, wie es zum erreichen bestimmter positionen in der bürgerlichen gesellschaft eine zeitlang
notwendig gewesen ist : distinktionsmomente, durch kanonische kenntnisse gestützt, wirkten halbdurchlässig ohne vollkommen ausschliesslich zu sein; das sich-bewegen-können in den gegebenheiten schaffte sodann heimaten, vertrautheit mit duktus & rolle der präponenten gewährleistete kriterien der beurteilung & sortierte rituale des mitsprechens. literatur allerdings verliert diese rolle, fällt allmählich aus der wahrnehmung oder wird ersatz-produkt .. die
schreibenden selbst deklinieren noch eben kanonische grössen nach um ihre rolle zu sichern, fallen im repro auf bezüglichkeit die entweder ironisch oder lakonisch von trümmern winkt, als verweis auf verlorenes bedeuten; hauptsache dabei gut aussehen & gendern wo möglich wird kaum helfen situationen zu schaffen in denen literatur zu tun vermag was sie könnte.

fürs erste bleibt unerheblich ob in 99 jahren noch bücher oder dateiverzeichnisse verfügbar sein werden die namen wie wolfgang bauer—helmut eisendle—gunter falk—barbara frischmuth—wilhelm hengstler—klaus hoffer—reinhard p. gruber—michael scharang—alfred paul schmidt als mitglieder keiner gruppe auflisten : unabsehbar zudem ob dann noch jemand imstande sein wird, das wort graz einer landeshauptstadt am südrand der ostalpen zuzuweisen oder, mehr als 3 aufrechte
buchstaben überhaupt noch lesen zu wollen .. dass die kinder des jetzt sich fragen wie wichtig sie gewesen sein werden, löscht erinnerung ans fehlende im gegenwärtigen; dass sie es als gruppe der anderen tun anstatt sich selbst zu bestimmen lässt fragen, was oder wann sie lieber ahh, dabei gewesen wären.
statt stadt-land-fluss-schreibende zu geben die auf letzten treffen auftragsgemäsz in die bereitgestellten gräser oder gläser beissen & sich dann kleinbisschen unartig als farce oder mit repetitiven katechismen bedanken vorm fälligen obladi oblada lächeln die immer gleichen : tradition als milde moderne läuft aus, die kinder vom uber morgen wollen vermutlich mit anderen sachen spielen falls sie noch atmen können .. solide steirische luft poesie oder 100 avancierende poetinnen unterm heimischen sternchen memorieren sich bloch dann einfach anders : so entsteht in
der welt etwas, das allen in die kindheit scheint & worin noch niemand war : heimat, sagte ernst — dabei kann es lustiger heissen : heimaten ist 1 verb für inländer innen ist 1 pradikat für welt scheint etwas in entstehung zu sein wie kinder die glauben an alles hat 1 ende [nur, noch nicht]

Stefan Schmitzer: graz text hugo

die beiden fragen nach literatur in graz in hundert jahren und nach derzeit akuten literarästhetische[n] gemeinsamkeiten und/oder […] bezugnahmen auf eine ‚grazer tradition‘ – sie sind, wenn wir sie beim worte nehmen, mehrfach volle wäsch‘ für den hugo.

lassen sie mich elaborieren:

die frage nach literatur in hundert jahren ist insofern für den hugo, als eine antwort auf sie in wenig anderem als einer liste von soziologischen, politischen, ökonomischen, psychologischen, technologischen gründen dafür bestehen müsste, warum, mit dem wort von fredi sinowatz, alles sehr kompliziert ist; nebst einer detaillierten literaturgeschichte von 1919 bis 2019, die jene prinzipiellen, stets nur im nachhinein sich erschließenden unwägbarkeiten am einzelnen textbeispiel vorführte; es käme dann raus, dass die entscheidenden unterschiede in ästhetik, rezeptionsverhalten und kunst-rudel-bildung einerseits nicht gar so spannend, andererseits qualitativ völlig unvorhersagbar sind, weil es sich samt und sonders um oberflächenphänomene der entschieden unliterarischen sozialen wirklichkeiten handelt; wir reden da also von einer besonders umfangreich = orchideenfächlichen dissertation mit der einzigen konklusio, nichts genaues wisse man nicht.

die frage nach graz in hundert jahren wiederum ist insofern für den hugo, als es nur eines einzigen kurzbesuchs etwelcher, auf lange sicht nicht ganz auszuschließender, bombenflugzeuge bedürfen wird, um sie obsolet zu machen; oder, langsamer, weiterer fünfzig jahre wirtschaftsfreundlicher stadtplanung mit entsprechendem luftgütevektor; gern auch einer zombieapokalypse; oder, am liebsten, der verdienten flutung des steiermärkischen voralpenlandes durch ausläufer der adria, wie sie mit plausiblen erderwärmungsszenarien voll vereinbar ist.

gleich doppelt für den hugo ist die frage nach bezugnahmen von zeitgenoss*innen auf eine „grazer tradition“. zum einen haben wir eine solche bezugnahme bereits zur kenntnis zu nehmen, genau insofern wir nach ihr gefragt werden – spielt sich doch unser gespräch hier nicht jenseits von graz und/oder der gegenwart und/oder dem literarischen feld ab. zum anderen erkennen wir aber gerade in dieser solchen frage, als einer bloß institutionellen setzung, den ausweis der realen unverbindlichkeit-unvermitteltheit-unvermittelbarkeit einer solchen distinkten „grazer tradition“ im sinne realer gehalte (abgesehen von ihrer nützlichkeit als lokalpatriotisches zauberwort in der förderkorrespondenz) … so vermerken wir als datenpunkt: dass es in graz lebendige tradition für autor*innen zu sein scheint, sich zu einer als solcher bloß gesetzten grazer tradition irgendwie zu verhalten, um es z. b. der kleinen zeitung und den fördergebern leichter zu machen, einen auch einmal zur kenntnis zu nehmen. wir werden vermutlich nicht weit fehlgehen in der annahme, dass das phänomen sich in anderen deutschsprachigen städten ähnlicher größe wiederholen wird.

[sollte dem ontischen ort graz je wirklich ein eigenständiges textästhetisches kraftfeld entsprochen haben: so wird es zu seiner genese im guten wie schlechten der kleinstaaterei und -bundesländerei vor ’89 bedurft haben. dass es bis dahin so etwas gegeben hat wie eine österreichische ästhetische tradition, die nicht der westdeutschen glich – unbenommen.]

dass schließlich auch die frage nach  literarästhetischen gemeinsamkeiten von leuten, die im jahr 2019 just von graz aus ihren text-bauchladen betreiben, für den hugo ist, das ließe sich wohl am einfachsten mit computergestützter textanalyse nachweisen: z. b. betreffend die verteilung von wortarten, oder topoi, oder genres, oder lexemen im corpus. die hier leben-und-arbeitenden autor*innen haben offenkundig an sehr unterschiedlichen segmenten des deutschsprachigen betriebs teil; dem zwang, einen heimatlichen diskurs überhaupt zur kenntnis nehmen zu müssen, um sich auf ihn zu beziehen, unterliegen als akteurinnen nur noch die zeitschriften und veranstalter. ihr institutionelles gedächtnis weist über blanke textästhetik hinaus – weshalb hier, wenn überhaupt, so etwas wie ein spezifisch „grazer“ dings, sagen wir ein ästhetisches spannungsfeld, zu suchen wäre; das hätte dann aber, da die veranstalteten und publizierten autor*innen prinzipiell von überallher kommen können, mit der manifesten staubigen stadt graz ca. so viel zu tun hat wie die straßenzüge in berlin-prenzlauer-berg heute mit der gleichnamigen ex-ddr-literatur: büroadressen-folklore.

zu einem historischen zeitpunkt, da die großen übernationalen multisparten-medienhäuser sich mit jeweils gleich mehreren deutschsprachigen imprints konsolidieren, und da sich am unteren ende der nahrungskette, wohl als reaktion auf diese bedingungen, selbst noch wir nischenprogrammatiker vom lyrik-fach zu hocheffizienten selbstvermarktungs- und organisationsnetzwerken zusammenschließen zu müssen glauben, erscheint der konnex von geografie und diskurs bzw. – höher getönt – von kulturlandschaft und ästhetik, zusehends als trutziges aufbäumen von überkommenen modi der ideologievermittlung.

dass etwas besseres nachkäme als diese modi, behauptet andererseits auch der hugo nicht, für den die fragen waren.

Cordula Simon: Wir sind das Parasitentum, wir sind die Zukunft

Graz wird selbstverständlich auch in hundert Jahren noch stehen. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Graz steht auch schon lange nicht nur als Stadt, sondern für literarische Qualität, auch wenn die Rezeption im deutschsprachigen Raum gelegentlich zu wünschen übrig lässt: Die Österreicher in ihren kleinen Verlagen mit ihren kleinen gezauberten Texten wurden in Bundesdeutschland oft wegignoriert, solange sie nicht von großen deutschen Verlagen “entdeckt” wurden, lange nach einer “Entdeckung” durch österreichische Förderer, allen voran den Staat und seiner Stipendienfülle und Förderfülle, die uns davor rettet, die Härte des doch recht kleinen inländisches Marktes finanziell zu stark zu spüren. Lange nach einer “Entdeckung” österreichischer kleiner Verlage, in denen die Konkurrenz nicht durch die unglaubliche Masse des Geschriebenen, sondern durch die hochqualitative Spracharbeit besteht. Lange nach einer “Entdeckung” durch österreichische Literaturzeitschriften, die stets nach dem Neuen und Aufregenden suchen, allen voran hier die Grazer, in denen die Aufbruchsstimmung der Grazer Gruppe nie verloren ging, oft sogar lange nach einer “Entdeckung” durch die Grazer Literaturwerkstatt, die sich in einer soziologischen Studie als die erfolgreichste “Schreibschule” des deutschsprachigen Raumes entpuppt hat: Niemand arbeitet so hart an seinem Talent, von so frühen Tagen an, wie jene, die die Grazer finden, und gesucht wird überregional und international.
Heute ist man besser vernetzt als früher, für manch einen ist die Literaturkarriere nur mehr ein E-Mail weit entfernt. Graz wird noch stehen in hundert Jahren, aber bereits heute übertreten wir die Schwelle dessen was “Grazer Literatur” bedeutet. Weniger ein Standort, als vielmehr ein Gütesiegel. Junge Autoren zählen die Werkstatt bereits zum “Kleeblatt” der Schreibschulen, die zu den Garanten des Erfolgs zählen. Aber hundert Jahre sind lang.
Kaiser Wilhelm II. soll gesagt haben, dass das Auto eine vorübergehende Erscheinung sei und er an das Pferd glaube. Ein Zitat, das ihm nur untergeschoben wurde, denn viele Zitate im Internet sind gefälscht, wie Wittgenstein schon sagte. Können wir noch an eine Grazer Literatur oder an Literatur überhaupt glauben, bei voranschreitender Digitalisierung? Wenn die künstliche Intelligenz sich weiterentwickelt? Vielleicht glauben wir in wenigen Jahrzehnten mehr denn je daran, denn was werden wir alle tun, wenn selbstfahrende öffentliche Verkehrsmittel das Verkehrsproblem gelöst haben? Glauben wir, dass die Digitalisierung eine vorübergehende Erscheinung ist? Oder glauben wir an die Taxifahrer? Was Taxifahrer aber dennoch können, ist häufig, neben ihrer Orientierung im innerstädtischen Verkehr, das Erzählen von Geschichten. Bedeutet es dann, dass die Konkurrenz größer wird? Schließlich muss sich dann jeder, der maschinell ersetzt wurde, einer neuen Tätigkeit zuwenden und wir benötigen Tätigkeiten zur Befriedigung unserer Sinnsuche. Oder wie Yuval Harari sagt: Was werden die unnützen Klassen dann alle tun? Kreativarbeit gibt Sinn, so wie es Erwerbsarbeit tut. Wofür wird die Welt bereit sein zu bezahlen? Vielleicht steuern wir auch auf das Bedingungslose Grundeinkommen zu und sind am Ende alle Künstler und wer für würdig befunden wurde, kann sich endlich Grazer nennen. Manch einer wird sich dagegen entscheiden, denn – hah! – hat es sich doch ausgezahlt, den Tauren in World of Warcraft hochzuleveln (oder welches Spiel auch immer gerade die Massen anziehen wird, was auch immer zum anthropologischen Deep Play nach Clifford Geertz wird). Das Spiel gibt Belohnungen aus und die Endorphine im Gehirn reichen, um sich nicht nutzlos zu fühlen. Wer will, kann also In-Game-Karriere machen.
Wer kann, wird Geschichten digital erzählen. Webdesign und die Verbindung von Bild und Ton werden zu naheliegenden Ausdrucksformen der Literatur. Wir machen immer seltener beim Buchtrailer halt. Literaturverfilmungen werden langsam zu Literaturserien, denn die Rezipienten schätzen, wenn man ihnen Zeit lässt, sich die Entwicklung der Figuren und Themen genau anzuschauen. Dann gibt es also Grazer und es gibt Konsumenten. Wir sind das Parasitentum, wir sind die Zukunft.
Für einige Jahrzehnte wird das für die Grazer Szene unglaublich gut laufen. Aber was ist dann, was ist danach, wenn einer dieser Computer, die die Strukturen beliebter Geschichten und Filme analysieren, sich in zwanzig Minuten selbst all das beigebracht hat, was alle Grazer zusammen wissen und können? Wenn man auch die Produzenten von Kunst und Unterhaltung nicht mehr braucht? Die Geräte beginnen sich selbst zu programmieren und zu designen? Vielleicht sollten Sie heute doch noch ein Level spielen. Nehmen wir die Entwicklung zur Kenntnis: Die Sonne scheint heute über Graz.

Kinga Tóth: Grazer Literatur in 100 Jahren

Schreibt man in 100 Jahren noch? – war meine erste Reaktion auf diese Frage, ob der Mensch noch da ist. Vielleicht ist die Frage wirklich, ob es noch jemanden gibt, der schreibt, und dann wie. „Kim Jong Nummer 2“ hat schon in seiner Neujahrsrede erwähnt, einer seiner Finger ist immer auf dem Atombombenknopf. Well.. Das ist also eine Drohung an BigBoom2, und wir sind erst beim ersten Punkt dieser Liste.

Lassen wir uns jetzt faktisch und logisch überlegen, wenn alles so weiter geht, wenn wir unsere Gewässer und damit indirekt die Natur weiter mit Plastik füttern, wie kommt das bei uns an? Wie mutieren wir weiter? Werden wir noch fähig sein, mit unseren Plastikfingern irgendwelche Tastaturknöpfe zu drücken, oder werden wir neue Reime in unsere Plastikhäute einnähen-einkratzen? Neutechnovolksliederstickerei auf die Herzen. Klingt nicht morbider, als ein Walmagen mit Plastikbojen, aber wenigstens werden wir alle Blue, also um die Tütenhautfarbenproblematik müssen wir uns nicht mehr kümmern.

Oder werden wir Inkubatoren von Pflanzen, was nach der Grabsituation sowieso passiert. Heutzutage kann man sich kompostieren lassen (als letzter Wunsch) und den Platz wortwörtlich den Pflanzen weiter (eigentlich zurück)geben. Vielleicht ist das neue Jahrhundert das Jahrhundert der Pflanzen, sie (oder eher wir zusammen) fotosynthetisieren die schönsten Allegorien der Welt, immer lebendigere und dickere Hymne an und aus Sauerstoff und unsere botano-technischen Clouds sammeln die Hymnen in liquiden Datenbanken.

Für diese Ideen ist die Lage von Graz geografisch ideal: die Mur ist doch noch relativ sauber, aber es gibt noch 100 Jahre um das zu ändern und es herrscht auch viel Grünes, dazu ist es leicht anzuschließen, mit langen Wickelranken kratzen wir die Synthese und der Rest ist schon in der Photo-Synthese drin, die Sprache wird ein großes Strecken, die Wörter Beugungen, Rankenbewegungen, das Atmen unser Pflanzenkörper, Flüstern die Blätter, Sonett der Wind.

Mit Pilzfäden und Wurzeln zerplatzen wir kleine Luftblasen unter der Erde, die Wurzeln wälzen die Erdbrocken weg, unsere Fäden verwickeln sich und weben Nährstoffteppiche, wir knüpfen, wie die Ureinwohner Amerikas, wir knüpfen unter der Erde, und atmen über der Erde aus.

Es kann passieren (es ist möglich natürlich), dass dies alles sich noch ein bisschen verspätet, und dass wir uns noch mit diesem Sprachcodesystem abmühen, es kann auch sein, dass Kim Nummer 2 noch keine Knöpfe drückt, vielleicht nur ein nächster, oder auch, dass die ganze Buchindustrie einmal bemerkt, dass kompostierendes Papier schon existiert, sogar auch solches, worin Samen „eingebaut“ wurden, sodass, wenn unsere Dichtwerke ihre Mission vollkommen erfüllt haben, nach der Beendigung ihrer Aufgaben sogar Bäume wachsen können, und wir können mit dem Ganzen  von vorne anfangen. Das wäre echt eine Literatur und eine andere Art Freiheit.

Maislieder: lied sechsundsiebzig
wer bäume pflanzt der wurzelt

1
in der zone fragt man ob wir was fühlen unsere
verwachsene mutter sagt wir hatten nie geruch
nur womit wir eingeschmiert wurden neue blumen blühen auch geruchlos
die abgeschossenen lkws minibusse suchen minen streuen eicheln
auf die wiese ehre den platz ansonsten bestraft er dich hier läuft niemand

2
in unseren thermosflaschen pfeift das heiße destillierte pi wasser
geschmeidig und warm hart und kühl wir rücken gut voran
nur ohne die rucksäcke gelingt es was unnötig ist reißt ab
durch das wasser den stein über die erde unter die erde
in jeder menschkörperhaltung
in zwischenstoffe greifen die vermeidung erlernen
die falle erkennen immer wieder rastlos bis zur ankunft
 
3
die raststation ist kalt wie quecksilberkugeln geschwätz
ist unnötig wir sind weder wütend noch unbeholfen
lassen die hunde zu uns fischen nie mehr
aus brunnen nur gießen wir um unsere rasen
zu verschönern damit der garten uns weich nimmt

4
deswegen hacken wir ununterbrochen
bereiten die beete für uns
in handschuhen ringen (kämpfen) wir mit unserer erde
bereiten wir unsere bodenräume weichen wir auf bis
wir verhärten

5
unser atem trennt sich von unserer rinde
unsere feuchtigkeit gießt die erde
die mit uns schwanger ist von draußen
wir werfen die schollen aufeinander
auf dem erdhaufen widersprechen wir
uns in den tunneln um zurückzuscheuen
weiter in stille düngen wir mit uns
wir sind der nährstoff die reife ist die ankunft

6
wenn wir alle naturelemente gefunden haben
erreichen wir die perfekte aufnehmbarkeit als gute kapseln
als gute füllung kommen wir an
den falschen weg können wir einschlagen aber überall
rahmt sich uns die erde aus unseren mineralien neunautilus wird gebaut
in stücken fallen wir ins nasse

7
wir häuten uns – ernährung – verfeinerung-reinigung-fütterung
unser tag unsere sonne ist glasrein in badebecken in betonöfen
so ist das brennen die gedanken sind aufgeheizte schalen
(aus dem brustkorb reißt sich die ranke den rest spuckt die erde aus)
es kommt selten vor dass wir alle hier ankommen