Grün aus der Truhe
veröffentlicht am 1. Januar 2022 in Objekt des Monats
Zur Erwerbungsgeschichte des Teilnachlasses von Anastasius Grün (i.e. Anton Alexander von Auersperg, *1806 in Laibach/Ljubljana, †1876 in Graz).
In seinem Testament vom 8. April 1880 hatte der Sohn des bedeutenden Dichters und Politikers Anastasius Grün, Theodor Graf Auersperg, verfügt, dass er „das theuerste, was ich besitze; die sämmtlichen Schriften und Manuskripte meines verstorbenen Vaters“ seinem Vormund Otto Freiherr von Apfaltrern hinterlässt, mit der Auflage, dass nach dessen Tod „diese Schriften in dem Besitze [!] der Universität Graz übergehen“[1] sollten. Tatsächlich kam der junge Graf bereits am 4. Mai 1881 bei einem Reitunfall ums Leben, doch verzichtete Apfaltrern „auf die Überkommung der […] sämtlichen Schriften und Manuskripte des Anton Alexander Grafen v. Auersperg / Anastasius Grün / zu Gunsten der ihm für dieses Legat substituierten Universität Graz“. Die Universität nahm 1882 die Erbschaft an und begab sich auf deren Spur, die zum Herrschaftssitz Thurn am Hart (heute: Šrajbarski turn, Slowenien) führte, der an Grüns Neffen Erwin Graf Auersperg gegangen war; ein Inventar des Legats war allerdings nicht zu bekommen. Erst nach dem Tod des Auersperg-Biographen Ludwig August von Frankl-Hochwart 1894 konnte ein Bruchteil des Bestands, den dieser von der Witwe des Dichters entlehnt hatte, gesichert werden (19 Pakete, v.a. ausgewählte Korrespondenz an Grün, darunter Briefe von Heine, Lenau, Rückert, Prešeren, Holtei etc.).
In den folgenden Jahren versuchte der akademische Senat weitgehend glücklos die übrigen verstreuten Teile der ‚Schriften und Manuskripte‘ einzufordern, zunächst u.a. bei den neuen Besitzern des ehemaligen Auersperg-Schlosses Thurn, dann bei der Kroatisch-Slawonischen Parzellierungs- und Kolonisierungs-Bank in Agram, dem Laibacher Museum und Karl Fürst Auersperg (einem weitschichtig Verwandten des Erblassers). Neun weitere Pakete („zum Teil Dichtungshandschriften“) kamen als Nachtrag um die Jahrhundertwende noch aus dem Nachlass Frankl-Hochwarts. 1911 gab das Rektorat seine Bemühungen schließlich entnervt auf, da die testamentarische Formulierung „so unbestimmt“ war und der eigentliche Umfang des schriftlichen Nachlasses (Frankl-Hochwart schätzte „etwa fünfzigmal soviel“ [!]) nicht geklärt werden konnte. Vieles davon scheint heute verloren, etliches ist verstreut in Bibliotheken im In- und Ausland verwahrt, manches wohl noch in Privatbesitz; das eine oder andere wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts auch aus verschiedensten Quellen der Grazer Sammlung einverleibt.
Wann der Grazer Bestand an das Seminar für deutsche Philologie kam oder seit wann er in der bemerkenswerten historistischen Eisentruhe verwahrt wurde, ist nach derzeitigem Stand noch nicht geklärt. Der später so bedeutende Prager Germanist August Sauer, damals noch Ordinarius in Graz, war bereits 1884 vom Senat beauftragt worden, mit Frankl-Hochwart die Übergabe der von ihm verwendeten Schriften zu verhandeln. Interesse zeigten 1895 mit einem Memorandum an den Rektor auch zwei weitere Professoren: Anton E. Schönbach und Bernhard Seuffert. Sie organisierten in Abstimmung mit Sauer die Bestellung des Bibliotheksvolontärs Spiridion Wukadinović durch das Ministerium für Kultur und Unterricht, der 1896-1898 ein genaues Verzeichnis anlegte, das auch heute noch die beste Auskunft über das damals Vorliegende gibt. 1898 ließen sie den Bestand sperren, um „eine Zerstückelung des Nachlasses in kleine Publikationen“ zu vermeiden. 1903 erstellte Schönbach für das Rektorat ein erstes Gutachten über den (wissenschaftlichen) Wert des Teilnachlasses und kam zum ernüchternden Urteil, dass der Bestand aufgrund der Fragmentarisierung „nicht ausreichendes Material auch nur für eine Publikation im Umfange eines einzigen, bescheidenen Bandes enthält“. Gleichwohl plädiert er für eine „wissenschaftliche Verwahrung“. Sein Kollege Seuffert dagegen engagierte sich bei der Suche nach weiteren Nachlassteilen, bis die Universitätsleitung ihre dahingehenden Interventionen einstellte.
Dann dürfte das vorhandene Material dem Seminar für deutsche Philologie überlassen worden sein, denn 1926 erkundigt sich das Rektorat (im Zuge einer Entlehnungsanfrage) bei dessen Vorstand Karl Polheim, ob die „fraglichen Briefe an der Lehrkanzel vorhanden sind und unter welchen Bedingungen sie ausgeliehen werden können“. Auch in den folgenden Jahren werden diverse Anfragen von Seiten des germanistischen Instituts beantwortet und Versuche unternommen, den Bestand über Ankäufe (u.a. vom Berliner Antiquariat David Salomon) oder Schenkungen zu erweitern. So fanden auch zahlreiche Archivalien ihren Weg in die Sammlung, die nur mehr bedingt oder gar nicht dem Themenkreis zugeordnet werden können (etwa ein Gedichtautograph Stifters oder ein Brief Droste-Hülshoffs an ihren Bruder). Auch Ausleihen für Ausstellungen (etwa für die ‚Großdeutsche Buchwoche 1938‘) wurden über Polheim abgewickelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter der Institutsleitung Hugo Kleinmayrs versucht, die Besitzverhältnisse zu klären. Eine „Besitzübertragung des Grün-Nachlasses aus der Hand der Universität in die des Deutschen Seminars“ schätzte das Rektorat 1951 als „nicht möglich“ ein, auch wenn die „tatsächliche Wahrung“ bestehen bleiben sollte. Wichtige Ergänzungen (193 Briefe, darunter viele von Auersperg selbst) konnten im selben Jahr von Frida Baldauf, der Tochter des ehemaligen Leiters der Universitätsbibliothek Anton Schlossar, angekauft werden. Aus dessen Nachlass, der teils an die Universität ging, scheinen auch jene Teile dem Deutschen Seminar überlassen worden zu sein, die Auersperg betrafen. Die Erweiterungen wurden (allerdings nur unvollständig) bis 1956 von Otto Janda und Hellmuth Himmel (später Lehrstuhlleiter) in das Wukadinović-Inventar nachgetragen; einen erweiterten Bestandsüberblick veröffentlichten Himmel und Alfred Kracher 1962 in Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung (NF I, S. 567-573). Ein Hemmnis für die wissenschaftliche Aufarbeitung blieb freilich das längst veraltete (und nur im Falle zweier Heine-Briefe aufgehobene) Verbot, Teile des Bestands zu edieren. Für Ausstellungen wurden weiterhin anschauliche Exponate (etwa das Skizzenbuch des 15-jährigen Dichters für die ‚Grazer Biedermeier‘-Ausstellung 1958) verliehen, doch die erstaunliche Vielfalt des Bestands selbst geriet zunehmend in Vergessenheit.
Jahrzehntelang stand die dekorative Truhe im Bereich der Vorstandsräumlichkeiten der Germanistik im Hauptgebäude und wurde gelegentlich mit bestandsfremden Splitternachlässen (etwa von Seuffert) und Schenkungen befüllt (so 1981 mit dem Nachlass Hans Dettelbachs), ehe Beatrix Müller-Kampel das enthaltene Material (etwa 2500 Briefe, Manuskripte, Entwürfe, Zeitdokumente etc.) wiederentdeckte, in die Mozartgasse 8 transferierte und sich um Drittmittel zur wissenschaftlichen Aufarbeitung bemühte. Mit Förderung durch das Land Steiermark konnte im Zuge des Projekts ‚Briefe an Anastasius Grün‘ (Laufzeit 1. Juli 2007 – 15. September 2008, Mitarbeiterinnen: Birgit Scholz, Margarete Payer) immerhin die Korrespondenz der Auersperg-Briefpartner Eduard von Bauernfeld, Franz Vinzenz Ignaz Castelli und Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (Scholz) bzw. Bartholomäus von Carneri und Josef Freiherr von Hormayr zu Hortenburg (Payer) transliteriert und (teil)kommentiert werden.
2020-2021 wurde die Truhe samt Inhalt während der Sanierung des Germanistikinstitutsgebäudes im Depot zwischengelagert. Da sich nach dem Umbau kein adäquater Platz mehr fand und Müller-Kampel vor ihrer Pensionierung eine zeitgemäße Archivierung und Weiterbearbeitung des Bestands sicherstellen wollte, wandte sie sich an Christian Neuhuber, ob von Seiten des Franz-Nabl-Instituts Interesse am Anastasius Grün-Nachlass bestände. Nach Rücksprache mit dem Institutsleiter, Klaus Kastberger, wurde Bereitschaft signalisiert, die Truhe samt Archivalien (6 Umzugsschachteln) direkt aus dem Depot zu übernehmen und im Institutsarchiv zu verwahren. Da auch die Leiterin des Germanistik-Instituts, Anne-Kathrin Reulecke, diese Lösung begrüßte, wurde der Bestand am 19. Juli 2021 in das Nabl-Institut überstellt. Die leere Truhe fand im Gang des 1. Stocks ihren Platz, das Archivgut wurde nach einer ersten Sichtung und groben Ordnung im Archiv verwahrt und wird in den kommenden Monaten erschlossen und verzeichnet werden. Dass die Bearbeitungsgeschichte des Nachlasses ihre Fortsetzung in jener Straße findet, in der Anastasius Grün am 12. September 1876 verstarb (Palais Auersperg, Elisabethstraße 5), ist nur ein weiteres stimmiges Detail.
Christian Neuhuber
[1] Die Zitate sind noch nicht verzeichneten Archivalien des Bestands entnommen, v.a. der Mappe ‚Auersperg’schen Nachlass betreffend‘, dem Briefverzeichnis und einer unbeschrifteten Archivschachtel mit Korrespondenz etc.