„Heimatkunde für Gruber Reinhard 3.a“ – ein Schulheft

veröffentlicht am 1. Juni 2018 in Objekt des Monats

2 Doppelseiten „Österreich ist wieder frei“ bzw. „Die Familie“ aus dem „Heimatkundeheft für Gruber Reinhad [!] 3.a“, undat. [1955/56], Bl. 4 u. 5, sowie 1 Doppelseite „6. Aufsatz. Unser Hauptplatz“ aus dem Volksschulheft „Aufsatz für Gruber Reinhard. 3.a“, undat. [1955/56], Bl. 4-5, 1 „Heimatkunde“-Heftcover und 1 Foto „Johann Gruber mit seinen Söhnen Wolfgang (li.) und Reinhard P. (re.)“, Fohnsdorf, undat. [ca. 1949] aus dem Vorlass von Reinhard P. Gruber am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung

Zweimal – anlässlich seines 33. Geburtstags 1980 im Theater im Keller und 2007 anlässlich seines 60. Geburtstags im Literaturhaus Graz – hat Reinhard P. Gruber in Graz öffentlich aus seinen „Heimatkunde“- und Aufsatzheften der dritten Klasse Volksschule gelesen und so das Fohnsdorfer Sprachmaterial seiner Kindheit aus der ehemaligen obersteirischen Bergwerksgemeinde zu Tage gefördert und – wie einst Handke seine „Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“ – als „ready made“ unbearbeitet und unkommentiert aus dem (Braun-)Kohlen- in den Kunstkontext übergeführt. Was freilich, sehr zum Gaudium seines Publikums, dessen „ästhetische“ Qualitäten bloßlegte und durch die Deplatzierung die affirmativ eingehämmerte Heimatideologie unterminierte.
Bis in die 1970er Jahre hatte die inzwischen durch den sogenannten Sachkundeunterricht abgelöste „Heimatkunde“ in den ersten vier Schuljahren einen an der kindlichen Erfahrung orientierten Gesamtunterricht geboten, der in konzentrischen Kreisen vom Nahen zum Fernen fortschreitend auf eine Eingliederung der Sechs- bis Zehnjährigen in ihre unmittelbare Umgebung abzielte. Mensch und Natur, geographische Gegebenheiten, geschichtliche Ereignisse, Brauchtum und Sagen waren Bestandteile dieses Unterrichts. Heimat als unmittelbarer Lebensraum samt mythischer Verklärung des Gegebenen, Heimatliebe und Naturverbundenheit wurden gelehrt und ein agrarisch geprägtes, anti-intellektualistisches Menschenbild in einem auf Bewahrung und Tradition angelegten Gemeinwesen vermittelt. Grubers Heimatkundehefte – hier beispielhaft das erste von insgesamt drei Heften – spiegeln in ihrer Gliederung diese Inhalte wider: „Unser neues Schulzimmer“, „Unser Schulhaus“, „Österreich ist wieder frei“, „Die Familie“, „Auf dem Friedhof“, „Unsere Dorfkirche“, „Fohnsdorf in alter Zeit“, „Der Hauptplatz von Fohnsdorf“, „Im Fohnsdorfer Kohlenbergwerk“, „Von der Entstehung der Kohle“, „Die Weihnachtszeit“, „Adventbräuche“, „Das Jahr“, „Von der Gemeinde“, „Wichtige Gebäude und Ämter“, „Die Kartenzeichen“, „Die Umgebung von Fohnsdorf“, „Von der Katze“, „Kumpitz“, „Die Gemeinde Waltersdorf“. Für den Sprachsatiriker und selbsternannten „Heimatentheoretiker“ Gruber waren die naiv-definitorischen Zuschreibungen dieser Heimatkunde aus dem Schuljahr 1955/56, die sich als objektive Beschreibungen unhinterfragbarer Tatsachen und Sachverhalte tarnten, ein gefundenes Fressen. Insbesondere wo soziale Rollenzuweisungen als naturgegebene hingestellt werden, wie bei den patriarchalen Rollenklischees von Vater und Mutter innerhalb der Familie – „Er verdient das Geld, damit die Familie leben kann. Er muß schwer arbeiten… Sie arbeitet von früh bis spät im Haushalt. Sie kocht, wäscht, putzt, näht, muß einkaufen, die kleinen Kinder versorgen…“ –, wird aus der Diskrepanz zu heutigen Lebensformen die ideologische Schlagseite dieses Heimatkundeunterrichts unmittelbar einsichtig.
Gruber reiht sich damit ein in jene Autorengeneration aus dem Grazer Forum Stadtpark und der Literaturzeitschrift „manuskripte“ der 1960er und frühen 1970er Jahre, die wie Peter Handke, Gunter Falk oder Barbara Frischmuth mit Ludwig Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“ das „Lehren der Sprache“ als „ein Abrichten“ und das jeweilige „Sprachspiel“ als sozial gemachtes und damit potentiell veränderbares begreifen. „Die verschiedenen wirklichkeiten, die mit verschiedenen sprachen erlernt werden, müssen lächerlich gemacht werden, zerstört werden – um zu zeigen, daß die sprache, die die herstellerin dieser wirklichkeiten ist, keine sicherheiten bieten kann, bloß fiktive wirklichkeiten erzeugen kann“, fordert er in einem undatierten Typoskript aus dem Vorlass (vgl. FNI-Gruber-W-unpubl.1-1.7.1.2.9). Insbesondere wenn diese Sprachspiele die österreichische Heimat nach 1945 zum Thema haben, wird aus heutiger Sicht deren fiktionaler und manipulativer Charakter überdeutlich. So ist in Grubers „Heimatkundeheft“ im Staatsvertragsjahr 1955 unter dem Titel Österreich ist wieder frei über jenen als „Tag der Flagge“ gefeierten 25. Oktober, der mit dem Abzug der letzten alliierten Soldaten endgültig die österreichische Souveränität wiederherstellte, ohne weitere Differenzierung zu lesen: „Sie [die im Text sogenannten ‚fremden Soldaten‘] haben bei uns gewohnt ohne Miete zu zahlen, und manche haben unseren Brüdern und Schwestern schweres Leid zugefügt.“ Der Opfermythos, den Österreich, was seine Rolle im Dritten Reich anbelangt, von Anfang an propagierte, wird hier auf die Zeit der Besetzung Österreichs ausgedehnt, indem unter Absehung von den historischen Zusammenhängen und der österreichischen Beteiligung an den NS-Verbrechen die alliierten Soldaten einseitig als Besetzer dargestellt werden, als ungebetene Gäste, die zu Unrecht in Österreich finanziellen und materiellen Schaden angerichtet hätten.
Reinhard P. Gruber hat mehrfach den schulischen Heimatkundeunterricht als „Lehrjahre“ für sein Schreiben bezeichnet:

die zeit bis zu seinem zehnten lebensjahre … ist erfüllt von einer steirischen erziehung, einer steirischen bildung, von einem natürlichen steirischen optimismus, ja die zeit ist von der steiermark selbst erfüllt; mensch, tier, strauch und stein, wald und gebirge werden gegenstände seines wissens und ort seines aufenthalts, er ist seiner heimat derart kundig, daß er schon jetzt befähigt wäre, den heimatkundeunterricht selbst zu halten. (der heimat auf der spur. Residenz Almanach 1973)

Erste Früchte sind in einem Aufsatzheft des damals Achtjährigen nachzulesen, die den definitorischen Furor des Heimatkundeunterrichts in übertrieben langen Inventaren und Auflistungen imitieren und solcherart – damals wohl noch unbewusst – ad absurdum führen. Was Ermahnungen der Lehrkraft zum „Schöner Schreiben“ im doppelten Wortsinn nach sich zieht. Spätestens 1973, mit der Veröffentlichung von Aus dem Leben Hödlmosers. Ein steirischer Roman mit Regie, hat Gruber dann den literarischen Heimatkundeunterricht von den „ganz natürlich herrliche[n] menschen“, die „so natürlich wie [ihr] land sind, das auch herrlich ist“ (hödlmoser, S. 7) herrlich fehlschlüssig und Heimatideologien aller Art sprachsatirisch entlarvend tatsächlich selbst übernommen. Dass auch heute noch viel zu tun bleibt, lässt sich der Präambel „Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 1917-2022“ der österreichischen Realsatire einer schwarz-blauen Koalition unter Kurz/Strache entnehmen:

Österreich ist eines der schönsten und lebenswertesten Länder der Welt – und das soll auch so bleiben. Die Menschen in Österreich leisten täglich Großartiges, damit wir unseren Lebensstandard erhalten können. Der unbändige Fleiß vieler Hände, das kreative Potenzial vieler Köpfe und der starke Wille vieler Herzen sind das Kapital, das uns auch in Zukunft unseren Wohlstand erhalten und weiter ausbauen lässt.

Daniela Bartens