Klassiker in 5 Minuten

Klassiker in 5 Minuten

Von 2015 bis 2018 lud das Literaturhaus Graz unter der Veranstaltungsreihe „Klassiker revisited“ AutorInnen, GermanistInnen und LiteraturkritikerInnen dazu ein, sich mit ihren liebsten Klassikern der deutschsprachigen Literatur zu befassen und diese dem Publikum näher zu bringen, denn Begeisterung ist bekanntlich ansteckend! Die Reihe richtete sich bewusst auch an Schulklassen.

 

Lesen Sie hier die einleitenden Statements von Robert Menasse (inkl. gesamter Vortrag), Michael Stavarič, Daniela Strigl, Klaus Nüchtern, Konstanze Fliedl, Josef Winkler, Robert Vellusig nach!

veröffentlicht am 20. Juni 2023 in Allgemein

Robert Menasse: Mein Faust

Robert Menasse: Mein Faust in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 19.10.2015

Christoph Columbus entdeckte Amerika, die Europäer hatten, ohne es noch zu wissen, das Mittelalter verlassen und waren in die Neuzeit eingetreten, und just in diesem historischen Moment wanderte ein Mann durch Süddeutschland, der als Alchimist, Wunderheiler und Wahrsager sein Auskommen zu finden suchte, einen zweifelhaften Ruf erwarb, der, immer mehr ausgeschmückt und weitergesponnen, zu legendärem Ruhm anwuchs, bis dieser Mann, der ganz am Anfang der neuen Epoche stand, zum Inbegriff des modernen Menschen schlechthin wurde, zur Inkarnation der Epoche, an deren Ende wir heute leben, und sein letztlich erdichtetes Leben zu ihrer verdichteten Geschichte. Dieser Mann hieß Doktor Johann Georg Faust und er soll von 1480 bis 1540 gelebt haben. Aber die Lebensdaten sind so wenig gesichert wie selbst sein Name: gut möglich, dass er ganz anders hieß und den Namen Faustus – gleichsam als Künstlername – angenommen hatte, wie es bei Gelehrten in der Zeit der Renaissance verbreitet gewesen war: das lateinische „Faustus“ bedeutet „der Glückliche“, und wer sich so nannte, wollte damit ausdrücken, dass er humanistisch gebildet und, kraft seiner Bildung, so glücklich wie glückbringend sei, einer, dem glückt, was die Menschen in Wahrheit ersehnen. Aber was immer nun wahr oder erfunden, historisch verbürgt oder Legende ist, das Beispiel Doktor Faustus zeigt, dass es zwei Wahrheiten gibt: die unsichere und oft zweifelhafte Wahrheit historischer Fakten und die objektivierbare Wahrheit ihrer historischen Wirksamkeit – und dass es wesentlich um die letztere geht, wenn wir „unsere Wahrheit“ suchen, uns selbst verstehen wollen, als Produkt wirkender Geschichte.
Heute denken wir bei „Faust“ automatisch an Goethe, an seinen „Faust 1“, der seit Jahrzehnten zu Tode gespielt wird, und doch nicht umgebracht werden kann, und den „Faust 2“, der unspielbar, als Stück eine Totgeburt ist, dem aber doch immer wieder Bühnenleben einzuhauchen versucht wird. Tatsächlich aber war die Geschichte des Doktor Faustus und seines Pakts mit dem Teufel der am weitesten verbreitete und am öftesten literarisch verarbeitete Stoff in der europäischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert. Durch unzählige Bearbeitungen und Fortschreibungen in Stücken, Erzählungen, Legenden, Romanen, Kalendergeschichten und Balladen entwickelte sich Doktor Faustus zur beliebtesten Kunstfigur der Populärkultur, er war gleichsam ein fiktiver Pop-Star, als Goethe sich mit dieser Figur zu beschäftigen begann und sie auf völlig neue Weise deutete. Aus dem Alchimisten und Scharlatan am Ende des Mittelalters, der vom Teufel geholt wird, wurde bei Goethe der moderne Mensch, der aus dem Mittelalter hervortritt und mit seinem skrupellosen Erkenntnis- und Machtstreben die Dynamik der Neuzeit repräsentiert. Der Pakt mit dem Teufel wird bei Goethe gleichsam säkularisiert, also aufgeklärt: sein Zweck ist nicht mehr irrationale Macht, also die Fähigkeit, Wunder vollbringen zu können, sondern rationale Macht, also die Beherrschung der Natur und ihrer Reichtümer und die Herrschaft über Menschen. Es geht nicht mehr um Glauben, sondern um das Wissen, was die Welt zusammenhält, sowohl die Materie, als auch das soziale Leben, es geht nicht mehr um Magie, also das Unmögliche, sondern um die Ausweitung der menschlichen Möglichkeiten, es geht nicht mehr darum, in der Welt, wie sie ist, sich sein Glück zu erschwindeln, sondern die Welt zu seinem größtmöglichen Glück zu verändern, mit allen Mitteln, die dem menschlichen Geist zur Verfügung stehen, und alle Grenzen und Hemmnisse des Menschen zu sprengen. Nicht mehr innere Einkehr und Fügung definieren den modernen Menschen, sondern Rastlosigkeit und – in jedem Wortsinn, nicht zuletzt auch ökonomisch: – ewiges Wachstum. Das „Wunder“, das Faust begehrt und das er nicht magisch, sondern naturwissenschaftlich begründet, ist die Prämisse noch unseres zeitgenössischen Lebens: Ewiges Wachstum in einer begrenzten Welt mit endlichen Ressourcen.
Man kann Goethes „Faust“ als Geschichte der Moderne lesen, von ihrem Anbeginn an bis zum Ende, das mit uns erreicht ist. Es beginnt in „Faust 1“ mit der Grundlegung aufgeklärten Denkens, nämlich mit Religionskritik und zugleich dem Zweifel am überlieferten Wissenschaftskanon. Die starre und unproduktive Dogmatik mittelalterlicher Wissenschaften wird auf den Müll geworfen und die Macht der Religion durch die Zerstörung der reinsten gläubigen Seele gebrochen. Dann, im „Faust 2“, wird in einem szenischen Reihenspiel die weitere Entwicklung vorgeführt: die Befreiung der Sinnlichkeit, die Entfesselung der Produktivkräfte, die Erfindung des Papiergelds und der Staatsanleihen als politisches Machtinstrument, die Überwindung der Fesseln der Naturgesetze (nicht durch Magie, sondern kraft der Natur des Menschen), zum Beispiel durch In-Vitro-Fertilisation oder durch Landgewinnung, wo kein Land war, bis hin zum Raubtier-Kapitalismus.
Wo es früher hieß: „Das muss mit dem Teufel zugehen!“, da gibt es heute keinen Zweifel mehr daran: das alles war und ist menschengemacht. Und weil es just darum in der Moderne ging, um die unendliche Ausreizung des Menschenmöglichen (im Schönsten wie im Entsetzlichsten), kann der Teufel schließlich auch betrogen und um seinen Lohn gebracht werden. Mit einem zutiefst menschlichen Trick, der am Ende von Goethes „Faust“ Gott in den Mund gelegt wird.
Das ist das Ende, und damit sind wir mit Goethes Stück in unsere Zeitgenossenschaft begleitet worden: denn heute ist der Teufel tot, niemand beruft sich auf ihn, niemand ruft ihn zu Hilfe, niemand strebt mehr mit ihm einen Pakt an. Der Mensch ist sich selbst Teufel genug.
Allerdings ist Gott wieder auferstanden. Aber das ist ein eigenes Stück.

Robert Menasse, Schriftsteller, Essayist und Übersetzer, geb. 1954 in Wien. Zahlreiche Preise, u.a. Erich-Fried-Preis (2003), Österreichischer Kunstpreis für Literatur (2012), Heinrich-Mann-Preis (2013). Zuletzt erschienen „Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa“ (Suhrkamp 2014) und „Europa sich ändern muss“ (Springer 2015).

Robert Menasse: Mein Faust (Gesamter Vortrag)

Lesen Sie hier Robert Menasses gesamten Vortrag zu „seinem“ Faust nach:

1.

Goethes „Faust“: keiner versteht ihn ganz, dennoch ist die Figur des Doktor Faustus zum Prototyp des bürgerlichen, zumindest bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses geworden, zum Paradigma von Geist und Welthaltung des bürgerlichen Zeitalters.
Liebt der Bürger sein Wesen nur, wenn er es nicht ganz versteht?
„Faust 1“ ist Jahr für Jahr bis heute das meistinszenierte und -gespielte Stück auf deutschen Bühnen, wahrscheinlich sogar weltweit. Und „Faust 2“, eher ein großer Essay mit Formelementen des vormodernen Reihenspiels, als Stück aber völlig unspielbar, wird immer wieder von den ehrgeizigsten Regisseuren auf Bühnen gestemmt, mit dem völlig unangemessenen Anspruch, auf höchstem Niveau zu scheitern. Unangemessen ist der Anspruch deshalb, weil er radikal anti-faustisch ist. Dass es genüge, sich strebend zu bemühen, um erlöst zu werden, ist ja nur die Pointe, die das Stück beendet, aber nicht die Idee, die das Stück trägt. Durch die Pointe wird Mephisto ausgetrickst, aber sie nimmt nichts zurück vom irdischen Wesen und Anspruch dessen, was man eben das Faustische nennt: nämlich nichts als unmöglich und als nicht-machbar anzuerkennen.
Fast jeder, der im Gymnasium gezwungen war, sich mit Goethes Faust zu beschäftigen, schien zunächst für Goethe, wenn nicht überhaupt für die Literatur verloren. Ist das nicht die Erinnerung von uns allen? Und dennoch finden die unzähligen Repertoire-Aufführungen und Neuinszenierungen des „Urfaust“, des „Faust 1“ und die hybriden Produktionen von „Hohem Scheitern am Faust 2“ enormes Publikumsinteresse und großen Zulauf.
Mit dem analytischen Besteck der Literaturwissenschaft ist weder der Text, noch seine phänomenale Karriere ganz zu entschlüsseln. Und es erklärt auch nichts, wenn man raunt, dass vielleicht genau darin die Erklärung für die Faszination liegt, die Goethes „Faust“ letztlich ausübt: dass wir es mit einem Text zu tun haben, der nie ganz entschlüsselt werden kann. Denn Texte, über die man dies sagen kann, gibt es einige, um nicht zu sagen viele, sie sind unser großes literaturgeschichtliches Vermögen. Beim Faust-Stoff aber muss noch etwas anderes dazukommen, das mehr ist als das, was man gemeinhin den „Rätselrest“ nennt.
Ich kann das natürlich auch nicht erklären, aber ich kann erzählen, warum mich Goethes „Faust“ zu faszinieren begann, wie ich schöpferisch wurde, indem ich Verdacht schöpfte, und wie mich der Faust-Stoff in der Folge immer mehr beschäftigte, bis ich schließlich die Faust-Inszenierungen, aber nicht mehr den Faust todlangweilig fand.

2.

Zunächst war ich natürlich auch gymnasiumsgeschädigt. Ich weiß nicht, ob es der Lehrplan zwingend vorschrieb, oder ob es der Liebe meines Deutschprofessors zu Goethe zu verdanken war: Wir mussten „Der Tragödie Erster Teil“ als „Hausübung“ lesen, was die wenigsten taten, und auch ich nur höchst gelangweilt und widerwillig, obwohl ich damals lesesüchtig war. Aber wir entkamen nicht, denn dann wurde der „Faust 1“ in den Unterrichtsstunden mit verteilten Rollen gelesen, was für mich Demütigungen und Hohn in der Klassengemeinschaft zur Folge hatte. Denn wir waren eine reine Bubenklasse, und es war meiner damals noch hellen Stimme zu verdanken, dass ich das Gretchen geben musste. Aber ich war es gewohnt, weil ich schon beim jährlichen Krippenspiel zu Weihnachten immer die Rolle der Maria zugewiesen bekam.
Wir hatten einen sehr guten, engagierten Deutsch-Lehrer, dem ich viel verdanke, aber vielleicht muss selbst der beste Pädagoge daran scheitern, bei Schülern  Interesse am „Faust“ zu wecken.
Wie liest ein Pubertierender den „Faust 1“? Ein Mann, der alles Mögliche studiert hat, bekennt, dass das alles nichts genützt hat, er ist ein Tor geblieben. Seine Torheit stellt er umgehend unter Beweis, indem er glaubt, einen Pakt mit dem Teufel eingehen zu müssen, nur um ein Mädchen verführen zu können. Das ist natürlich verrückt und besonders  in Knittelversen mühsam.
Ich erwähne diese Lesart deshalb, weil ich von einigen Selbstzeugnissen von Geistesgrößen weiß, dass sie sich von der Mühsal des Sich-Bildens auch sexuellen Profit erwarteten, wobei es nicht selten mit dem Teufel zugehen musste, wenn es klappte. Aber natürlich ist das nicht des Pudels Kern.
Die Qual war damit noch nicht zu Ende. Der Lehrer beschloss, nun den „Urfaust“ mit dem Schultheater, dem ich angehörte, auch noch zur öffentlichen Aufführung zu bringen. Vom Gretchen wurde ich zwar erlöst (die Tochter des Schuldirektors übernahm die Rolle), aber nicht von der Tragödie, die es bedeutet, bei unzähligen Proben stundenlang zuzuschauen, wie dieses Stück durchgekaut und deklamiert wird, auch wenn ich selbst als Bürger mit aufgeklebtem Bart beim Osterspaziergang nur für einen Satz auf die Bühne musste. Bei der Aufführung beobachtete ich dann die Eltern und die Würdenträger vom Stadtschulrat und vom Kulturministerium, wie sie da saßen mit ernster Miene, die sich in rhythmischen Abständen glücklich aufhellte, wenn ein geflügeltes Wort kam. Irgendwie beschlich mich dabei eine Ahnung, die ich damals natürlich nicht in Worte fassen konnte, aber rückblickend kann ich es vielleicht so formulieren: für viele, die sich als Bürger definieren wollen, sind die Orgien des Wiedererkennens der sinnliche Lohn für die Mühsal der Bildung.

3.

Ich studierte Germanistik. Goethe Pflicht. Es gab hochinteressante Angebote, lehrreiche Übungen zu Goethes Lyrik, zu „Wilhelm Meister“, zu den „Wahlverwandtschaften“. Und der „Faust“? Ein bisschen Werkgeschichte, ein bisschen Rezeptionsgeschichte, exemplarische Textanalyse. Im Grunde Vorbereitung auf die Lehramtsprüfung. Ich machte nicht Lehramt. Ich rutschte da irgendwie durch oder vorbei.
Vor der Uni traf ich eines Tages zufällig den ehemaligen Mitschüler, der damals bei der Schulaufführung des „Urfaust“ den Mephisto gespielt hatte. Er war, nach einhelliger Meinung aller, in dieser Rolle großartig gewesen, ein Theatertier, ein junges Schauspielgenie, mit den Worten des Direktors: „Unser neuer Gründgens!“ Vom Ehrgeiz des Lehrers angetrieben, und berauscht vom Talent, das er in sich entdeckte, hatte er nur noch für das Lernen des Textes, für die Proben, unermüdlich für die perfekte Ausarbeitung der Rolle gelebt, und dabei alle anderen schulischen Aufgaben vernachlässigt. Dieser Schüler war nicht in die Rolle des Mephisto geschlüpft, sondern Mephisto in diesen Schüler. Er hatte stehende Ovationen erhalten – war dann mit drei Nichtgenügend durchgefallen und unbedankt von der Schule geflogen.
Nun stand er vor der Uni und verteilte Flugblätter der „Aktion Neue Rechte“.
Er hatte sich um einen Platz im Reinhardt-Seminar bemüht, erzählte er, war aber nicht aufgenommen worden. Nun schlug er sich mit kleinen Rollen in Kellertheatern durch. „Aber wichtig ist jetzt die politische Arbeit“, sagte er, und dann, entsetzlich schmierentheatralisch: „Wir kommen wieder!“

4.

Gerade als ich mein Studium abgeschlossen hatte, kam István Szabós Film „Mephisto“ in die Kinos. Ich weiß nicht, ob ich mir den Film angesehen hätte, wenn ich nicht von meiner damaligen Freundin gedrängt worden wäre, sie zu begleiten. Dazu kam vielleicht auch, dass ich als „Gutmensch“, wie man heute sagt, von der Uni abgegangen war, und da gehörte Klaus Mann, dessen bis dahin gerichtlich verbotener Roman die Vorlage für den Film war, selbstverständlich zum kritischen literarischen Kanon.
Lauter falsche Voraussetzungen.
Ich war von Klaus Maria Brandauer als Höfgen/Gründgens/Mephisto natürlich sehr beeindruckt, aber irgendetwas störte mich an dem Film, irritierte mich so sehr, ohne dass ich es benennen konnte, dass ich mir den Film einige Tage später noch einmal alleine ansah. Aber ich kam nicht dahinter. Ich sah, was ich sah. Aber der Fehler war nicht zu sehen. Er war so perfekt in Szene gesetzt, dass man ihn nicht sah, weil man in Regie und Darstellung keinen Fehler sah.

5.

Es ist eine banale Erkenntnis, aber man muss sie erst einmal machen: alt zu werden, bedeutet, ein anderer zu werden. Das muss nicht bedeuten, dass man Grundsätzliches aufgibt, aber das Grundsätzliche besteht auch nur aus vielen kleinen Steinchen, die ein neues Muster ergeben, wie in einem Kaleidoskop, das die Zeit weiterdreht. Der Vorteil des Alterns im Computer-Zeitalter ist, dass man das Vergessen als eine Art längst fälliges Durchputzen der Festplatte sehen kann, solange man nicht ernsthaft dement wird. Und wenn man doch auf Vergessenes gestoßen wird, kommt die anthropologische Süße des Alterns dazu, nämlich die Sentimentalität, mit der man zum anderen, der man gewesen ist, „ich“ sagt. (Dies alles natürlich nur unter der Voraussetzung, dass man das Privileg hatte, leben zu können, ohne Bedrohung von Leib und Leben.)
Mehr als zwanzig Jahre waren Faust- und Mephisto-frei vergangen, als ich vom Staatstheater Darmstadt die Einladung erhielt, einen neuen Faust zu schreiben. Das Theater plante ein „Faust-Jahr“. Inszenierungen von „Urfaust“, „Faust 1“ und „Faust 2“ waren in Auftrag gegeben, den Abschluss sollte die Auseinandersetzung eines zeitgenössischen Autors mit dem Faust-Stoff bilden. Der Theaterdirektor schrieb tatsächlich „zeitgenössischer Autor“, wodurch ich mich mehr herausgefordert fühlte, als es der Fall gewesen wäre, wenn er „lebender Autor“ geschrieben hätte. Zugleich aber fühlte ich mich überfordert. Ich hatte meine Erfahrungen. Aber ich hatte sie vergessen. Und auf jeden Fall nie geklärt.
Jetzt entschuldige ich mich im voraus für ein paar pathetische Sätze, die nun folgen müssen: ich bin dankbar dafür, wenngleich ich auch nicht weiß, wem, dass ich bisher ein Leben führen konnte, in dem ich nichts anderes tat, als das, was mich interessiert: träumen, lesen, diskutieren, ein bisschen schreiben. Wenn ich ein übergeordnetes Interesse hatte, dann war es dieses: meine Lebenszeit, also meine Zeitgenossenschaft und ihre Gewordenheit zu verstehen. Das ist nicht nur pathetisch, sondern auch und vor allem eine sehr zweifelhafte Geschäftsgrundlage. Mein Vater hatte mir prophezeit, dass ich in der Gosse landen werde, und mir erscheint es selbst als Wunder, dass seine Prophezeiung nicht eingetreten ist. Ich war nie leichtlebig. Umso schwieriger war es manchmal, aber letztlich blieb es dabei: ich habe immer nur gemacht, was mich interessierte.
Ende des pathetischen Intermezzos.
Und nun also die Einladung, einen „Faust“ zu schreiben.
Und zum ersten Mal konnte ich nicht begründen, warum ich „Ja“ sagte.

6.

Ich beschäftigte mich mehr als ein Jahr mit Goethes Faust, ohne dass ich mehr schrieb als einige Notizen. Ich las die beiden Teile von Goethes Faust, alle mögliche Sekundärliteratur und Kommentare, besorgte mir die auf DVD erhältlichen Faust-Inszenierungen von Gustav Gründgens, Dieter Dorn und Peter Stein. Was mich zunehmend faszinierte, und worauf die Sekundärliteratur natürlich auch immer wieder verwies, war die Aktualität des Stoffes. Vor allem bei genauer Lektüre von „Faust 2“ war ich verblüfft, wie stimmig manche Bilder und Szenen noch Auskunft über unser zeitgenössisches Handeln und Denken zu geben schienen, beziehungsweise wie leicht sie entsprechend interpretier- und aktualisierbar waren. Zugleich kam mir das aber zunehmend als völlig unangemessenes Spiel vor: in jeder Faust-Szene die ewige Gültigkeit des Goethe´schen Worts herauszuschälen und die alten Roben durch moderne Klamotten zu ersetzen. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff: ich bin in eine doppelte Falle gegangen: in die Regiefalle, und in die Ideologie-Falle, genauer gesagt, in die Falle der Selbstlegitimations-Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft (und die gibt es, auch wenn es ein bisschen altbacken marxistisch klingt).
Zunächst die Regie-Falle: Natürlich hat jeder Regisseur, zumal nach 1945, der Goethes Faust auf die Bühne stemmte, den Anspruch gehabt, die bleibende Aktualität des Stücks herauszuarbeiten und zu zeigen, dass er zeitgenössische Probleme, Irrungen und Wirrungen, mit dem Stück durchdeklinieren kann. Das ist der natürliche Anspruch jedes Regisseurs in Hinblick auf die Klassik im Allgemeinen und auf Goethes Faust im Besonderen,  von Gustav Gründgens´ Wiederaufbau-Inszenierung, die voller Anspielungen auf die gnadenlose Verführungskunst des Nationalsozialismus ist, sich daran abarbeitete und dadurch den ewig strebend sich bemühenden Zuschauer gleich miterlöste, bis zu Nicolas Stemanns Inszenierung des ganzen Faust bei den Salzburger Festspielen auf der Pernerinsel, in der Faust ein T-Shirt mit dem Logo der Deutschen Bank trägt. Letzteres Beispiel zeigt besonders deutlich, worin die Regie-Falle besteht: so legitim der Anspruch ist, die bleibende Gültigkeit eines Stücks herauszuarbeiten, es ist – auch nicht bei Goethes Faust – auf Teufel komm raus zu bewerkstelligen.
Ich hatte dadurch, dass ich mir immer wieder verschiedene Faust-Inszenierungen anschaute, mir den Blick des Regisseurs zu Eigen gemacht, der überprüft, was Goethes Text uns heute sagen kann – aber ich bin kein Regisseur, kein reproduzierender Theatermann, ich bin Autor, Dichter, mein Zugang musste also ein ganz anderer sein. Ich musste, wenn der Fauststoff aktuell noch etwas hergab, den Faust als Zeitgenossen neu schreiben und nicht „aktualisieren“. Es gab nur einen Weg aus der Falle: ich musste – auch wenn es wahnsinnig klingt – den Anspruch Goethes und nicht den der Goethe-Regisseure zu meinem machen.
Aber das ist keineswegs größenwahnsinnig, solange es keine Selbstgewissheit in Hinblick auf das Glücken impliziert. Es ist einfach logisch. Goethe hatte im Faust-Stoff die aktuellen Implikationen seiner Zeit gesehen, und er hatte Christopher Marlowes Faust-Stück gekannt. Wir wissen, dass er in Marlowes Faust vieles sah, das sich mit seiner eigenen Auffassung von Faust als einem Paradigma der Moderne deckte: Faust als Renaissance-Mensch, mit seiner Verachtung der Theologie und ihrer Jenseits-Orientierung, seine Sympathie für die maßlosen Ansprüche an die Welt, die Gier nach Sinnlichkeit und die Anmaßung, gottlos den Gottesauftrag zu erfüllen: Mache dir die Erde untertan! Dies unterschied, so Goethe, Marlowes Stück von allen anderen Bearbeitungen des Faust-Stoffs, die den Faust bloß als Schauergestalt oder als Witzfigur zeichneten. Übrigens: Auch der Wiener Hanswurst, der Wurstl, den keiner erschlagen kann und der ununterbrochen wie durch Zauberei das Unmögliche schafft, geht auf eine Verballhornung von seinerzeit populären Faust-Legenden zurück.
Wäre Goethe der Meinung gewesen, dass es genügte, Christopher Marlowes Faust neu zu inszenieren und mit einer Reihe von Regieeinfällen dessen Aktualität herauszuarbeiten, er hätte als Prinzipal des Weimarer Staatstheaters jede Möglichkeit dazu gehabt, und er hätte es getan. Aber er hat es nicht gemacht. Er hat den Faust neu geschrieben.
Mir wurde klar, dass dies also der Anspruch sein musste: Nicht Goethes Faust neu zu interpretieren, sondern den Typus Faust neu zu fassen. Der Nachkomme ist mit dem Vorfahren verwandt, mag gleiche Züge haben, in ihm manches wiedererkennen, aber er ist nicht mit ihm identisch.  Damit war ich auch – zumindest theoretisch – der Ideologie-Falle entkommen. Denn es ist selbstverständlich, dass die bürgerliche Gesellschaft, beziehungsweise was sich heute so nennt, und der liberale Kapitalismus sich als die beste aller Welten sehen, als ein Ende, das sich immanent weiterentwickeln und sich ausdehnen kann und muss, aber selbst kein Ende hat, keinen Untergang, keinen Übergang in etwas qualitativ Anderes und Neues haben kann. In Goethes Faust hat das Bürgertum den Prototyp des bürgerlichen Menschen erkannt, und in dem Maße, in dem Goethes Worte unausgesetzt als ewig gültige neu inszeniert und  in ihrer ewigen Unauslotbarkeit zelebriert werden, öffnet sich natürlich die ideologische Falle: der bürgerliche Mensch zeigt sich als der Mensch schlechthin. Nimmt man aber den Dichter ernst, und nicht den ideologischen Baldachin, der über ihn gespannt wurde, ist es natürlich umgekehrt: der Mensch schlechthin zeigt sich natürlich auch im bürgerlichen Menschen. Also auch im Doktor Faustus, wenn er denn dessen Prototyp ist. Als solcher ist er heute, wenn nicht am Ende, so doch in einer Krise, die völlig anders geartet ist, als es alle Aporien und Widersprüche der Erfahrungswelt Goethes waren. Zumindest hat er etwas, das Goethes Faust nicht haben konnte: die historischen Erfahrungen seither, das Wissen um die Verbrechen, die unermesslich größer waren als das zynische Spiel mit dem unschuldigen Gretchen und größer noch als die Ermordung von Philemon und Baucis.

7.

„Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…“
So kam es, dass ich wieder auf István Szabós „Mephisto“-Film stieß, ihn bestellte und nach langer Zeit noch einmal anschaute. Und nun, nachdem ich mich einige Zeit mit dem Faust-Stoff beschäftigt hatte, wurde mir klar, was mich seinerzeit so rätselhaft an diesem Film irritiert hatte. Szabós „Mephisto“ ist, nicht zuletzt durch Klaus Maria Brandauers virtuose Interpretation der Rolle von Höfgen/Gründgens, die faszinierende Studie eines Opportunisten, der bereit ist, seiner Karriere zuliebe alle menschlichen Prinzipen und Tugenden zu verraten. Er bringt mehr als nur Talent mit, glaubt also ein Anrecht auf seine Karriere zu haben, aber wie auch immer, er macht sie als Opportunist und nicht als Genie. Dies aber mit dem Faust-Stoff kurz zu schließen, ist völlig schief, Höfgen schließt seinen Pakt mit einer irdischen Macht und ist dann just als Mephisto deren Marionette. So gehen die steten Verweise auf das Faust-Stück nicht auf, denn der Faust ist nicht die Tragödie des Opportunisten, der sich einer irdischen Macht unterwirft und dabei seine Menschlichkeit verrät, sondern die Darstellung des Menschen, der radikal menschlich keine irdischen Zwänge und Beschränkungen akzeptiert, der bereit ist, jedes Bündnis einzugehen, das ihn ermächtigt sie zu sprengen, sie abzuschütteln und eine neue Welt zu erschaffen, selbst gegen die vordergründigen Grenzen der Naturgesetze.
Der Opportunismus ist eine eigene, oftmals mörderische menschliche Eigenschaft. Aber sie gleichsam zu mephistophilisieren, erzeugte letztlich eine unangenehme Spannung zwischen ihrer künstlerischen Überhöhung und metaphorischen Banalisierung. So irgendwie empfand ich es. Und auf keinen Fall hat sie etwas mit dem Faust-Stoff zu tun. Aber das zu begreifen, wurde mir auch wichtig. Nicht die Opportunisten und Karrieristen machen die Welt, sie bevölkern sie nur. In solchen Massen, dass manche eben in die Auslagen gestoßen und gerempelt werden.

8.

Seltsame Fügung, dass ich kurz nach Szabós „Mephisto“-Film den Schulkollegen wiedersah, der seinerzeit im Schultheater den Mephisto gespielt hatte. Ich sah ihn als Leiche in einem „Tatort“-Krimi.
Seither habe ich ihn nie wieder gesehen.

9.

Ich beschäftigte mich immer intensiver und mit wachsender Faszination mit Goethes „Faust 2“. Dem Leiter des Darmstädter Theaters sagte ich übrigens ab. Ich teilte ihm mit, dass ich außer Stande sei, das Stück zeitgerecht zu liefern. Er antwortete: „Nun machen Sie sich mal keinen Kopf, Herr Menasse. Bei uns hat noch nie einer pünktlich geliefert. Das ist selbstverständlich einkalkuliert. Sie haben also noch Zeit.“
Mein Stand der Dinge war mittlerweile der: Goethes Faust insgesamt ist eine große Erzählung der Geschichte der Moderne, vom Beginn der Aufklärung mit ihrem enzyklopädischen Bildungsanspruch, der übergeht in den Anspruch, die sinnliche, die materielle Welt zu beherrschen, durch die Naturwissenschaften, mit denen sich die Moderne von der mittelalterlichen Magie löst, die sie in gewissen Sinn dem Anspruch nach fortsetzt, im „Faust 2“ geht das bis zur In-vitro-Fertilisation, politisch durch die Entwicklung neuer rationaler Herrschaftsformen, bis hin zur Experten-Technokratie, und wirtschaftlich über die Entwicklung der Börse und der Erfindung des Papiergelds bis hin zum Heuschrecken-Kapitalismus am Ende des Stücks.
Aber worin lag nun mein zeitgenössischer Blick? In diesem Wiedererkennen? In der Rückschau?
Also gut, Rückschau. Da wird die Differenz deutlich.

10.

Was seither geschah.
Goethe hat mit der poetischen Durchdringung des „Faustischen“ eine geniale Metapher, letztlich den stimmigen Begriff für die systemische Dynamik der bürgerlichen Welt entwickelt. Alle konkreten sozialen Fesseln wurden in ihr in einem abstrakten Freiheitsbegriff aufgehoben, der sich für jeden konkretisierte, der sich die Freiheit nehmen konnte, alle Grenzen, die die sinnlich erfahrenen Naturgesetze den Menschen gesetzt hatten, wurden nach und nach durchbrochen, die Grenzen des Machbaren in allen gesellschaftlichen Bereichen immer weiter hinausgeschoben, das Wachstum des Möglichen, des Alles-Möglichen wurde zum Prinzip, zum Motor einer Welt, in der es den Anschein haben musste, dass es mit dem Teufel zuging.
Dass der Teufel seine Hand im Spiel hatte, ist sozusagen der mittelalterliche Rest im Bewusstsein der beginnenden Moderne, festgeschrieben im alten Faust-Stoff, von dem Goethe ausgegangen war. Im nie befriedigten Wissensdurst zeigt sich der Übergang. Aufklärung und Moderne haben allerdings nicht nur mit enzyklopädischer Wissenssammlung begonnen, sondern wesentlich mit Religionskritik, also dem Anspruch, die Geschicke des Menschen in die Hände des Menschen zu legen. Schließlich war Gott für tot erklärt – und dem Menschen alles möglich.
Darum war es gegangen.
Dostojewskis Verdikt, „Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt“, hat sich in der Folge zwar erwiesen – am Radikalsten in Auschwitz -, aber, und das ist neu, das ist sozusagen das „Faustische“ nach Goethe, es hat sich doch wieder und definitiv das Gegenteil durchgesetzt: Mit Gott ist auch alles erlaubt, aber besser, nämlich zugleich auch moralisch legitimiert.
Das ist das Erstaunliche: Goethe hatte aus der Religionskritik, der Verachtung der Theologie, dem mittelalterlichen Teufelspakt eine seinerzeit moderne Begründung gegeben, und davon in großer dichterischer Hellsichtigkeit die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft abgeleitet: zunächst den Anspruch, die sinnliche Welt, das Diesseits, gewissenlos zu erobern, wovon sich im zweiten Teil der Anspruch auf ewiges Wachstum ableitet, der schrankenlosen Vermehrung aller Möglichkeiten – eine Dynamik, die so fundamental ist, dass, würde sie gestoppt, der Zusammenbruch der bürgerlichen Welt die Folge wäre.
Und die bürgerliche Welt funktioniert noch immer und immer schneller und hemmungsloser nach diesem Prinzip, weil sie nicht anders kann, zugleich erleben wir sie als angekränkelt und bedroht von einer tiefen Krise, nicht erst heute, aber auf jeden Fall heute. Goethe zeitgenössisch weiterdenkend kann man diese Krise nur so erklären: der ursprüngliche Pakt ist sinnlos geworden, hat seine gestaltende Wirkung verloren.
Denn heute wissen wir: nicht Gott ist tot, sondern der Teufel. Wir haben uns die Konsequenz dieses Sachverhalts noch viel zu wenig bewusst gemacht. Gott ist wiederbelebt, alles geschieht in seinem Namen. Der Export bürgerlicher Werte genauso wie der Kampf dagegen. Der Terror genauso wie der Kampf gegen den Terror. Der amerikanische Präsident telefoniert mit Gott, bevor er Truppen losschickt, und beendet seine Fernsehansprachen, in denen er seine Entscheidungen verkündet, mit „God bless America“, auf der Gegenseite wird „Gott ist groß!“ gerufen, wenn Ungläubige geköpft werden.
Niemand beruft sich mehr auf den Teufel, kein Mensch phantasiert einen Teufelspakt, um die Welt unter seine Kontrolle zu bringen. Nein, der Teufel ist tot, und Nietzsche paraphrasierend möchte man ausrufen: „Und Ihr habt ihn umgebracht!“ – mit jedem Menschen, den Ihr im Namen Gottes getötet habt!
Und weiters wissen wir heute, dass der Wunsch des rastlosen Doktor Faust, Erlösung im Verweilen zu finden, in einem Glücksmoment, der so schön ist, dass er stillstehen möge, eine Katastrophe wäre. In der Welt, die eben dieser Faust aufgebaut hat, ist alleine dieser Wunsch Geschäftsstörung, seine Verwirklichung wäre der Zusammenbruch des Systems, das unausgesetzte Dynamik und stetes Wachstums als Prinzip hat.
Ein zeitgenössischer Faust hätte, nein: hat diese historische Lektion gelernt. Ihm wäre, nein: ihm ist klar, dass er einen neuen Pakt braucht, um seine Welt zu retten.
Dieser Pakt muss nun mit Gott geschlossen werden. Und was Faust sich in diesem notwendigen neuen Pakt wünscht, kann ihm tatsächlich nur von einem Gott gewährt werden: nämlich in einer endlichen und begrenzten Welt mit schrumpfenden Ressourcen das Wunder zu vollbringen, unendliches Wachstum zu erzeugen.

11.

Wenn das gelänge, hätten wir einen Gottesbeweis. Aber alle Evidenz spricht dagegen. Und so lasse ich meinen Faust, nach zwei spannenden Jahren, die ich mit ihm verbrachte, am Ende vollends aufgeklärt – sterben.
Endlich. Endlich ist die Welt!

Michael Stavarič: Mein Kafka

Michael Stavarič: Mein Kafka in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 8.2.2016

Kafka! Wo soll ich da überhaupt beginnen, es gibt weder einen Anfang noch ein Ende, und kaum habe ich über dieses oder jenes nachzudenken begonnen, schon entziehen sich mir Aussagen und Antworten, es tauchen allerdings weitere Fragen auf, es ist ein stetes Kreisen, manchmal, in den besseren Momenten, ein eigentümlicher Tanz um sich selbst. Doch um gleich mal eine Konkretheit zu benennen, um meine Überlegungen wenigstens mit einem fixen Anhaltspunkt zu starten: Es gibt in Wien (in der Capistrangasse 8) das „Café Kafka“, ein altes, ein altehrwürdiges, kleines Kaffeehaus abseits aller touristischen Aktivitäten, möchte man hinzufügen. Man setzt sich hin, schlürft seine Melange und blickt zu Kafka, der sich dort beispielsweise in einem großen Plakat manifestiert. Dort erkennt und liest man eines seiner Zitate: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern …“.

Dieses stammt aus den sogenannten Zürauer Aphorismen (benannt nach dem böhmischen Dorf Zürau, wohin sich Kafka zur Erholung zurückzog), welche später von Max Brod (Kafkas Herausgeber) publiziert wurden (unter dem Titel: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, 1917-19). Es ist ein Zitat über welches man, reichlich nachdenken kann; man nippt demnach weiter an seinem Kaffee, denkt plötzlich über Zielsetzungen und Verzögerungen nach, Absichten und Unwegsamkeiten, symbolische Wegelagerer und allerlei verschlungene Pfade, ja plötzlich ist der erhoffte Weg kein Ziel mehr, er ist ein kläglicher Anfang vom Ende; etwas, das man gar nicht erst beschreiten mag, wozu auch, alle (und einen selbst ganz besonders) erwartet ein einziges, großes Scheitern. Was war nochmal das eigentliche Ziel? Und wie lässt sich ein in einen selbst eingeschriebenes Zögern (danke, Kafka!) überhaupt vermeiden?

Doch ich schweife ab, kreise längst wieder in irgendeinem unsäglichen Strudel und verzettele mich; eigentlich wollte ich von etwas ganz anderem erzählen, das mir bemerkenswert, ja nahezu kafkaesk erscheint: Besagtes Café Kafka zu Wien (bestimmt gibt es auch anderorts Cafés mit dem Namen Kafka, einen Moment, das haben wir gleich, ja doch, etwa in Barcelona, Ankara, Brüssel etc.), jedenfalls, in Wien befindet sich das Etablissement in der Capistrangasse, einem unscheinbaren, kleinen Nebengässchen der unsäglichen Mariahilferstraße, einer der bekanntesten Einkaufsmeilen Wiens. Johannes Capistran war ein fanatischer, katholischer Prediger, der einst nach Mähren zog, um dort an der restriktiven Bekehrung der Hussiten mitzuwirken. Nach dem Fall Konstantinopels (1453) agitierte er unablässig für einen Kreuzzug gegen die Türken, 1456 erwirkte er in Ungarn höchstpersönlich die Aufstellung eines Kreuzheeres (unter Johann Hunyadi, einem ungarischen Staatsmann und Heerführer) und nahm selbst am Kampfe teil; das ungarische Heer blieb sogar siegreich, Capistran selbst allerdings verstarb – so vermerken es die Chroniken – an Erschöpfung.

Vielleicht wird sich jetzt mancher fragen, was dies – im engeren Sinne – mit Kafka, der Strafkolonie, Verwandlung etc. zu tun hat – und ich müsste diesem antworten: Nahezu alles, aber wirklich alles hat irgendwie mit Kafka zu tun! Zum Beispiel unterzogen Forscher im Auftrag der Universität und Stadt Wien (2011 bis 2013) die Benennung der Wiener Straßennamen einer zeithistorischen Kontextualisierung; jedenfalls, aufgrund der daraus resultierenden Erkenntnisse zur historischen Einordnung des Herrn Capistran, wurde der Straßenname als ein „Fall mit Diskussionsbedarf“ eingestuft. Demnach empfahlen die Wissenschaftler den Straßennamen zur Diskussion, als sich herausstellte, dass Johannes Capistran neben seiner Funktion als Inquisitor (erwähnte Bekämpfung der Hussiten) auch für seine antijudaistischen Polemiken bekannt war. Und: Er ließ höchstpersönlich 1453 bei einem Pogrom in Breslau 41 Juden und Jüdinnen verbrennen, die noch verbliebenen Gemeindemitglieder vertreiben und deren Kinder zwangstaufen.

Was ich damit wohl andeuten mag: Kafka und seine Werke sind stetige und niemals sich schließende Fälle mit Diskussionsbedarf; wie man sich ihnen nähert, bleibt tatsächlich einem selbst überlassen; es gibt weder einen falschen Zugang, noch eine vollkommen absurde Lesart, gewiss kein noch so abwegiges Herantasten und Deuten, denn, man vergegenwärtige sich einmal noch des Kafka-Zitats, einen, oder gar den Weg gibt es nicht – und somit stehen uns alle, wirklich alle Wege offen.

Keinesfalls müsste man hier erwähnen, da es wohl jedem bekannt sein dürfte, dass Kafka einer tschechischen (damals noch Böhmen und Mähren), jüdischen Familie entstammte; mir scheint so gesehen die Tatsache, dass sich das Wiener Café Kafka in einer Straße wiederfindet, die sich einen antitschechischen, jüdischen Schlächter und katholischen Fundamentalisten zum Namenspatron erkor, nun, wie schon erwähnt, einigermaßen kafkaesk. Selbstverständlich ist das nur ein Zufall, eine Randnotiz der Geschichte, bestimmt wird kein Verantwortlicher in Wien jemals diese Gasse ernsthaft umbenennen wollen. Es möge demnach Herrn Capistran weiterhin das ehrwürdige Café Kafka ein Dorn im Auge bleiben, ich bin mir zudem absolut gewiss, Kafka würde sich daran erfreuen, ja diesen, meinen Humor teilen.

Eine Auseinandersetzung mit Kafka scheint mir in erster Linie eine Konfrontation mit sich selbst, vielleicht ist dies die unmittelbarste aller Wahrheiten, die ich zu benennen vermag; das eigenen Denken, Fühlen und Handeln dominiert die Lesart und Deutung von Kafka, bestimmt mehr als bei anderen Schriftstellern. Nach Kafka-Lektüren bezieht man unweigerlich alles auf den eigenen Kontext, die einem gegenwärtigste und unmittelbarste Zeit; es ist dies eine der vielen Qualitäten Kafkas, die Zeitlosigkeit und zugleich Teilnahmslosigkeit, der er uns (und seine Protagonisten) aussetzt. Oder, um Ulrike Wörner zu zitieren: „Ausfüllen muss diese Lücken der Leser selbst – ähnlich wie bei einem Comic die Geschichte zwischen den jeweiligen Panels weitergeht … „Unbestimmtheitsstellen“ wie Roman Ingarden diese Leerstellen einmal genannt hat. Je mehr solcher Stellen ein Text vorweisen kann, desto intensiver schreibt sich der Leser durch den Akt des Lesens in den Text hinein – weshalb ein solcher dann mit jedem neuen Leser wiederum zu einem neuen Text wird.“

„Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus“, schrieb einst der Dichter Paul Celan, und jener Akt des Sich-Aussetzens scheint mir ohnedies ein gutes Credo zu sein, welches das Leben und die Poetik (oder auch Biographie und Literatur) in einem Punkt zusammenführt. Dass die Fokussierung auf eine (poetische) Aufgabe keine zwanghafte Vereinnahmung meint, dies wurde mir später ausdrücklich klar; die Literatur muss eine Geste ins Nichts sein, in der Hoffnung, dass jemand die ausgestreckte Hand ergreift – und jenes Fassen und Greifen ins Nichts, es ist für mich ein Sinnbild für Kafkas Literatur in ihrer ureigensten Form …

Ich las meinen ersten Kafka-Text in der Schule, mit vierzehn (oder früher), es handelte sich hierbei um Die Verwandlung, wohl einen der bekanntesten Texte überhaupt. Und ich muss gestehen: Müsste ich nochmals zur Schule gehen, ich würde gar nicht erst versuchen, Kafkas Texte analysieren und begreifen zu wollen, jedenfalls nicht im oftmals eingeforderten, schulischen dogmatischen Sinne, also einem richtig vs. falsch! Kafka überlässt einem die vollkommene Deutungshoheit, und alles, was man nach einer Lektüre erkennt, ist schlicht Wahrheit, irgendeine Wahrheit, eine persönliche, mir zugehörige, Irgendwie-Wahrheit meinetwegen. Man liest Kafka und reflektiert die eigenen Erfahrungen, Geschehnisse, Haltungen und Meinungen, immer jedoch drängen sich die elementarsten Fragen unserer Menschlichkeit, ja unserer Gesellschaft auf: Was ist Freiheit? Was ist ein Individuum? Was ist Macht? etc.

Schlichter ausgedrückt: Kafka stellt uns in seinen Geschichten unablässig Fragen, die ein jedes Individuum, eine jede Generation ohnedies beschäftigen, er selbst bleibt allerdings (zurecht!) äußerst wage in diesbezüglichen Antworten (Kafkas Anmerkung, er selbst sei ein „stehender Sturmlauf“ spricht da Bände …). Sein Erzählen ist verrätselt, voller unscheinbarer Details, angereichert mit diffusen Stimmungen, Skurrilitäten und Unbehaglichkeiten. Eines ist doch offenbar: Keineswegs stimmt mit der Welt alles, mit einem selbst wohl auch nicht.

 

Michael Stavarič:  Schriftsteller, geb. 1972 in Brno (Tschechien), zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Adelbert-von-Chamisso-Preis (2012) und Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur (2007/2009/2012). Zuletzt erschienen: „Königreich der Schatten“ (C.H. Beck 2013) und „Mathilda will zu den Sternen“ (NordSüdVerlag 2015).

Michael Stavarič: Kontexte

Ein probates Mittel, um sich Kafka zu nähern, ist keinesfalls nur Improvisation und Interpretation, vielmehr scheinen mir als Schriftsteller auch Nachahmung, Paraphrase, Persiflage, sprich Cover-Versionen jeglicher Art, geeignet; nicht zu vergessen, dass sich Kafka selbst gerne anderer Texte und Kontexte bediente. In der Verwandlung wird beispielsweise Dostojewski und dessen Roman Der Doppelgänger paraphrasiert, dieser beginnt mit den Worten: „Es war kurz vor acht Uhr morgens, als der Titularrat Jakoff Petrowitsch Goljädkin nach langem Schlaf erwachte (…) Von allen am nächsten stand ihm ein junger, schlanker Offizier, vor dem Herr Goljädkin sich wie ein richtiger Käfer vorkam.“ (zitiert nach Hartmut Binder, Kommentar zu sämtlichen Erzählungen). Nachgewiesen ist etwa auch die stoffliche Vorlage für In der Strafkolonie; Octave Mirbeaus pornographisches, anarchistisch-sadistisches Machwerk Le Jardin des Supplices hatte Kafka in dessen Motivik und Thematik fasziniert, fand er hier doch die für seine Sicht der Dinge typische Verbindung von Geschlechtlichkeit und Tod (W. Burns: Variations on a Theme by Octave Mirbeau)

Ich ließ es mir nicht nehmen, selbst einen längeren Text zu schreiben, der Kafka folgt, ein kurzer Auszug scheint mir durchaus zielführend, betrachten wir also eine Verwandlung der Verwandlung:

(…) „ich fühlte jählings ein leichtes Jucken in meinen Händen, als wäre beinahe alles Blut aus ihnen gewichen, es kribbelte und prickelte, als wäre kaum noch etwas von diesem Lebensspender enthalten; ich öffnete die Augen, hob den Kopf etwas an, um meine Gliedmaßen sorgfältiger in Augenschein zu nehmen. Das Kribbeln an sich war nichts Neues, der Hausarzt hatte es mir schon vor Jahren als ein Kreislaufproblem schmackhaft gemacht, ich erinnerte mich, diesbezüglich sogar Lexika gewälzt zu haben. Kribbelkrankheit, die … Kornstaupe, Ergotismus, Raphania; eine durch den Genuss von schlechtem, aus unreinem oder verdorbenem Getreide gebackenem Brote; früher als St. Antoniusfeuer bekannt, einer in ganz Europa verbreiteten Volkskrankheit, bei welcher die Glieder brandig wurden und abfielen; nach St. Antonius benannt, weil dessen in der Kirche zu St. Didier la Mothe aufbewahrten Gebeine Wunder gegen dieselbe taten. Symptome u.a. ein höchst peinigendes Ameisenkriechen, welches in den Händen und Füßen beginnt; zur inneren Hitze gesellt sich Marmorkälte, Mattigkeit, Schmerzhaftigkeit und endlich Gefühlslosigkeit; hinterlässt chronische Unterleibsleiden, einen Ausfall von Haaren, Zähnen, selbst Nägeln; Behandlung: Opium.

Ich fand alte Lexika seit je her unterhaltsam, nahezu alles wurde mit Opium behandelt und angeblich, im rudimentären Sinne, geheilt, mein Hausarzt verschrieb es mir allerdings nie. Ich öffnete also die Augen, mein Kopf zuckte ein wenig, als müsste meine Nacken- und Gesichtsmuskulatur neu kalibriert werden. Ich ließ den Blick schweifen, meine Hände, die Ober- und Unterarme, die Handrücken, die Finger, was soll ich sagen, nichts davon war zu erkennen. Instinktiv wollte ich mit der rechten Hand nach der Linken greifen, diese ausgiebig betasten, doch zog ich den Arm sogleich zurück, die winzigste Berührung hinterließ einen Kälteschauer.

Ich sah überall nur ein Federkleid, meine Ober- und Unterarme hatten sich in Flügel, die Fingerknochen in Federn verwandelt, die großen Schwungfedern stachen dabei besonders ins Auge, sie waren es auch, die wie verrückt kribbelten. Ich wagte es kaum, meine Beine zu betrachten, denn diese hatten sich zurückgebildet, ich erkannte ganz deutlich ein paar von Hornschuppen übersäte Vogelfüße, mit langen, spitzen Krallen. Mein äußerst beweglicher, stark gefiederter Vogelhals ließ keinerlei Zweifel zu; ich beäugte Füße, Finger, Arme, Oberkörper ausgiebig von allen Seiten, beinahe konnte ich erneut einen Rundumschwenk wagen, doch am Ergebnis ließ sich nicht rütteln: Ich war ein Vogel.

Einigermaßen erstaunt glitt ich in meine frühere Lage zurück, „dieses frühzeitige Aufstehen“, dachte ich noch, „es macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss ausreichend Schlaf bekommen, sonst kann das übel enden.“ (…)

(Michael Stavarič, God, make me a bird!, Erzählung)

Michael Stavarič, Schriftsteller, geb. 1972 in Brno (Tschechien), zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Adelbert-von-Chamisso-Preis (2012) und Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur (2007/2009/2012). Zuletzt erschienen: „Königreich der Schatten“ (C.H. Beck 2013) und „Mathilda will zu den Sternen“ (NordSüdVerlag 2015).

Daniela Strigl: Meine Marie von Ebner-Eschenbach

Daniela Strigl: Marie von Ebner-Eschenbach in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 31.3.2016

Daniela Strigl: Ebner-Eschenbach in 5 Minuten

Krambambuli gehörte zu meinen frühesten Leseereignissen. Ich hatte die Ausgabe auf dem Dachboden meiner Großeltern gefunden und fieberte mit der armen, zwischen zwei Herren zerrissenen Hundeseele mit, aber auch mit dem in seiner Gekränktheit wie vernagelten Revierjäger Hopp. Als der Konflikt seinen Höhepunkt erreicht hatte, brach die Geschichte ab: Die letzten Seiten, ich wusste nicht, wie viele, fehlten in meinem Buch, eine bittere Enttäuschung zunächst. Weil ich aber ahnte, dass es kein gutes Ende nehmen würde mit dem von seinem rechtmäßigen Besitzer verstoßenen Krambambuli, mied ich jede Gelegenheit, die Erzählung zu Ende zu lesen. So dachte ich mir mein eigenes, versöhnliches Ende aus: Kinder sind ja selten Anhänger einer kompromisslosen Dramaturgie.

Jahre später erst habe ich gewagt, die Lektüre des richtigen Schlusses nachzuholen, und musste feststellen: Krambambuli funktioniert in jedem Fall, als offenes Fragment oder mit bitterem Ende. Tränen waren da auch bei mir unvermeidbar. Die Erzählung ist mir in lebhafter Erinnerung als ein Text, der zu rühren, aufzuwühlen und zu erschüttern vermag, der eine fremde Kreatur, quasi ein anderes Tier, dem eigenen Empfinden ganz nahe rückt. Mit dieser existentiellen Qualität steht die Novelle beispielhaft für eine Literatur des echten Pathos, eine Literatur, die ihre Leser nicht kalt lässt und ihre affektive und damit kathartische Wirkung auch nach hundert Jahren noch entfaltet. Der Text ist natürlich besser als alle drei Verfilmungen (die letzte von X. Schwarzenberger, mit T. Moretti und G. Barylli), er beeindruckt durch seine stimmige Tierpsychologie, aber auch durch das dargestellte Spannungsverhältnis zwischen der Herrschaft und den kleinen Leuten, die sich vom Wald ernähren. Krambambuli erzählt auch von einem Mord – dem Oberförster wird sein Law-and-Order-Glaube zum Verhängnis. Ich habe die Geschichte später noch mehrmals gelesen, bin ihr auch mit dem philologischen Besteck zu Leibe gerückt: Sie hält das aus und erweist sich als ebenso vielschichtig wie kompakt komponiert. Meine Liebe zu Ebner-Eschenbach verdankt sich aber nicht der Entdeckung des Raffinements, sondern dem unmittelbaren Eindruck. Mit Sentimentalität oder Kitsch hat dieser nichts zu tun, denn die Realität wird von der Autorin nicht zum schöneren Bild zurechtgebogen und -gelogen. Nichts wird wieder gut: Der Wilderer ist tot, der Hund ist tot, der Jäger trauert um ihn.

Das Werk der Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) hält der strengsten Prüfung stand. Es zeichnet kein geschöntes, sondern ein realistisches Bild der Gesellschaft. Wer sich darauf einlässt, betritt keine muffige Stube in altdeutscher Eiche, sondern einen Raum von klassischer Modernität. Ebner-Eschenbachs Romane und Erzählungen vermögen über den Abgrund der verstrichenen Zeit hinweg Leserinnen und Leser zu bewegen. Dies war auch der Grund für Ulrike Tanzer, Evelyne Polt-Heinzl und mich, ihre wichtigsten und aufregendsten Texte in einer neuen vierbändigen Leseausgabe samt Kommentar dem Publikum von heute wieder zugänglich zu machen.

Marie von Ebner-Eschenbachs abgründige Seite, ihre scharfe Beobachtungsgabe, ihr satirisches Talent und ihren Witz hat man lange nicht wahrgenommen, obwohl ihre auch im Internet beliebten Aphorismen davon Zeugnis ablegen. – „So mancher meint ein gutes Herz zu haben und hat nur schwache Nerven.“ Gerade ihr Sarkasmus, ja ihre Bosheit holt die Grande Dame der österreichischen Literatur für mich vom Sockel eines steinern unnahbaren Denkmals. Dass sie schon zu ihren Lebzeiten als „Dichterin der Güte“ und Propagandistin des Mitleids galt, hat die betont matronenhafte Baronin der eigenen Imagepflege zu verdanken. Das Bild ist einseitig, aber nicht verfehlt: Die Tochter des Freiherrn (später Grafen) von Dubsky hatte von klein auf ein waches Sensorium für soziale Ungerechtigkeit, für gesellschaftliche Heuchelei und adelige Dünkel. Als eine rebellische Konservative hat sie sich mit der katholischen Kirche ebenso wie mit ihren Standesgenossen angelegt und den Respekt der Sozialisten erworben – nicht zuletzt mit ihrem Meisterwerk, dem Roman Das Gemeindekind (1887). Auch hier bleibt Ebner-Eschenbach ihrem grundsätzlich optimistischen Menschenbild treu: Pavel Holub, Sohn eines Raubmörders, erkämpft sich trotz miserablen Startbedingungen und mannigfachen Hindernissen seinen Platz in der Dorfgemeinschaft. Seine jüngere Schwester Milada bleibt als Opfer einer überambitionierten Klostererziehung auf der Strecke. Als eine empathische Studie über das Wesen des Außenseitertums plädiert der Text für eine Praxis des vorurteilslosen Handelns und gegen jeden Determinismus, sei es durch Vererbung oder Milieu. Poetischer Realismus? Ja, wenn man den Begriff der Poesie weit genug fasst, um darin auch Ernüchterung, Resignation und Bitterkeit angesichts der Wirklichkeit des menschlichen Miteinanders unterzubringen.

Klaus Nüchtern: Mein Doderer

Klaus Nüchtern: Heimito von Doderers "Strudlhofstiege" in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 17.10.2016

Als Heimito von Doderers sein wohl bekanntestes Werk veröffentlichte, war er 54 Jahre alt, hatte einen Gedichtband und einige nicht sonderlich voluminöse Romane veröffentlicht, war aber ein so gut wie unbekannter Autor. Im Frühjahr 1951 änderte sich das. Da erschienen – ein verlegerisches unübliches und nicht ganz ungewagtes  Manöver ­– quasi zeitgleich „Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal“ und „Die Strudlhofstiege“. Hatte sich Doderer im „Zihal“, wie er ihn nannte, in Nachempfindung des k.u.k.-Kanzleideutsch erstmals auch jener skurrilen Komik und kauzigen Ironie bedient, die zu seinem Markenzeichen werden sollte, so war es ihm mit der „Strudlhofstiege“ gelungen, einem Bauwerk zu literarischem Ruhm zu verhelfen, das zu diesem Zeitpunkt weitgehend dem Vergessen  anheimgefallen war – so wie erst recht dessen Erbauer, dem die lateinische Widmung des Romans zugeeignet ist.

„Die Strudlhofstiege ist neunzehnhundertzehn erbaut worden (…) nach den Entwürfen Johann Theodor Jaegers, welcher jetzt noch dem Stadtbau-Amt angehört“, lässt Doderers prominentestes Alter Ego, der junge Historiker René von Stangeler, den Major Melzer auf dessen Nachfrage wissen. Geologisch gesehen ist die Geländekante, der wir in gewisser Weise den Roman verdanken, eine eiszeitliche Löss-Terrasse, die von Nussdorf bis Maria am Gestade verläuft, und die Strudlhofstiege ist auch keineswegs das einzige Bauwerk ihrer Art im Alsergrund, als dem 9. Wiener Gemeindebezirk, in dem sich ein guter Teil des Romans abspielt.

Dennoch hat sich der Autor aus guten Gründen nicht die Thurn-, die Himmelpfort- oder die Vereinsstiege ausgesucht. Denn auch wenn der – seinerzeit mit Doderer persönlich bekannte – Schriftsteller und Architekturhistoriker Friedrich Achleitner der Auffassung ist, dass „architektonische Qualität und literarische Aura (…) nicht notwendig aufeinander bezogene Faktoren eines vom Genius loci geprägten Bauwerks [sind]“, wird jedem, der die Strudlhofstiege je gesehen und beschritten hat, leicht nachvollziehbar sein, welche Bedeutung dieser innerhalb des Romans zukommt.

Im Unterschied zu den meisten anderen vergleichbaren Anlagen in Wien führt die Strudlhofstiege eben nicht auf direktem Weg von A nach B, sondern lenkt die Passanten, die sie am Fuße des Bauwerks über eine der beiden zunächst noch symmetrisch angelegten Zugänge betreten haben, im weit ausschwingenden Zickzack über flache Rampen nach oben, was zu einer Fortbewegungsweise nötigt, die der Autor zum Programm der „Strudlhofstiege“, ja zur Wahrnehmungsmaxime generell erhoben hat: „Hier  war empor zu schreiten, hier mußte man herunter gezogen kommen, nicht geschwind hinauf oder herab steigen über die Hühnerleiter formloser Zwecke. (…) Der Meister der Stiegen hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt an Dignität und Dekor.“

Man hat behauptet, Doderer habe seine weitschweifige und ausufernde Syntax der Strudlhofstiege nachempfunden. Genauso gut oder triftiger noch lässt sich das Gegenteil behaupten, nämlich dass er sich just jenes Bauwerk ausgesucht habe, das seinem Satzbau entspricht.

Sei dem, wie ihm wolle, eine gewisse „Umwegigkeit“ (ein früher Roman Doderers trägt übrigens den Titel „Ein Umweg“) oder auch Umständlichkeit wird man der „Strudlhofstiege“ gewiss nicht absprechen können. Der Umstand, dass die Haupthandlungsstränge in den Jahren 1911 und 1925 situiert sind, durch die meteorologische Regie des Autors aber zu einem einzigen, schier ewig anhaltenden Sommertag zu verschmelzen scheinen, macht die Orientierung nicht unbedingt leichter. Dennoch muss hier einmal auch festgehalten werden, dass die warnenden Hinweise, die dem Œuvre dieses Autor immer noch aufgeklebt werden – „langatmig“, „schwierig“, „konservativ“ – einfach hanebüchener Unfug sind.

Wahr ist vielmehr, dass die Romane kurzweilig, höchst vergnüglich, sehr komisch, handlungsstark und atmosphärisch äußerst dicht sind, dass sich deren Autor allerdings nicht jenen ästhetisch-ideologischen Imperativen unterordnet, die einige selbsternannte Haus- und Braumeister der Moderne aufgestellt haben. Doderer hält sich eben an keine Reinheitsgebote. Kein Stoff ist ihm zu minder oder zu kolportagehaft, historisch verbürgte Ereignisse sind ihm ebenso recht wie reisserische Meldungen fragwürdiger Herkunft und Authentizität. Nicht einmal von einer Verwechslungsintrige mit eineiigen Zwillingen schreckt er in der „Strudlhofstiege“ zurück.

Zugegeben, da verliert man als Leserin und Leser leicht einmal den Überblick. Hauptsache, der Autor behält die Fäden in der Hand. Ja, ein bisschen was von einem Angeber und Kraftmeier hat er schon, der Doctor Doderer. Er ist ein Marionettenspieler, der gerne auch die Muskeln spielen lässt und zeigt, was er kann.

Aber er kann’s halt auch wirklich. Spannung zum Beispiel – klassischen Suspense à la Alfred Hitchcock (der Zuseher/Leser weiß mehr als die handelnden Personen). Dass nämlich der Mary K. eines von „zwei sehr schönen Beinen“ – und zwar das rechte – am 21. September 1925 von der Straßenbahn über dem Knie abgefahren wird, das erfahren wir schon im allerersten Satz. Bis zu diesem Datum (es fällt im übrigen auf einen Montag) dauert’s indes 760 Seiten. Dann steigt Mary K. um halb acht erst einmal in die Badewanne, es springt ihr „das Oval der Seife aus der Hand“, später wird sie über den Teppich stolpern und was der vorausdeutenden Missgeschicke mehr sind.

Jetzt gefällt es dem Autor aber, diverse andere Handlungsstränge auf den Althanplatz zulaufen zu lassen, wo sich – nach weiteren 80 Seiten der splattermäßig inszenierte Unfall endlich ereignet, in dessen Folge dann auch noch Gott Amor zu einem prächtigen Blattschuss kommt. Haarsträubend? Schon möglich. Aber auch gänsehautgarantierend gut gemacht.

 

Strudlhofstiege (c) Andreas Praefcke (wikimedia)

Die Strudlhofstiege

Konstanze Fliedl: Mein Schnitzler

Konstanze Fliedl: Lieutenant Gustl in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 20.3.2017

Der Stellvertreter. Zu Arthur Schnitzlers Jahrhundertnovelle

Ein braver junger Offizier besucht ein geistliches Konzert: „In einem Oratorium könnt’ ich doch die halbe Nacht sitzen!“ Dass das verehrte „Fräulein Stephanie“ gleichzeitig mit ihrem jüdischen Bräutigam unterwegs ist, stört ihn nicht, denn: „ich liebe die Israeliten sehr“. Noch mehr aber liebt er seinen Beruf; schon als kleiner Bub wollte er zum Militär, „weil ich à tout prix das Vaterland hab’ verteidigen wollen, das doch immerfort in Gefahr ist“. Einen solchen unglaublichen Musterknaben führte der Wiener Autor Arthur Schnitzler allerdings nur ironisch vor. Die Satire war zugleich Selbstparodie: Sie galt dem Helden einer Novelle, die Schnitzler im Jahr 1900 geschrieben und in der Weihnachtsbeilage der Neuen Freien Presse veröffentlicht hatte. Lieutenant Gustl sollte seinem Erfinder, der den eigenen Militärdienst in den 1880er-Jahren als ‚Einjährig-Freiwilliger‘ abgeleistet hatte, allerdings selbst den Offiziersrang kosten.

Schnitzler hatte damals Medizin studiert; sein Interesse für Psychiatrie und Neurologie veranlasste ihn, später den Veröffentlichungen des um sechs Jahre älteren Kollegen Sigmund Freud zu folgen. Im Frühjahr 1900 las er Freuds eben erschienene Traumdeutung, und der im Juli in wenigen Tagen entstandene Lieutenant Gustl ist daher einer der allerersten Texte der Weltliteratur, die in Kenntnis psychoanalytischer Thesen zum Unbewussten verfasst worden sind. Dass die ‚modernen‘ Autoren eine neue literarische Psychologie entwickeln müssten, welche „die Zusätze, Nachschriften und alle Umarbeitungen des Bewussteins“ ausscheiden und die Gefühle auf ihre ursprüngliche Erscheinung vor dem Bewusstein“ zurückführen könnte, hatte der Publizist Hermann Bahr schon zehn Jahre früher gefordert; Schnitzlers Text ist darauf gleichsam die literarische Antwort. Denn er fand auch die von Bahr ebenfalls verlangte neue ‚Methode‘: Seine Figur drückt Gedanken und Gefühle gleichsam unmittelbar aus, in der ersten Person und im Präsens; diese in der deutschen Literatur bis dato noch nicht dagewesene Erzählform sollte man dann den ‚Inneren Monolog‘ nennen. Figurenpsychologisch und formal ist Lieutenant Gustl also tatsächlich ein Vorreiter der Moderne.

Leider ist der Held auch ein Vorläufer eines bestimmten Typus des 20. Jahrhunderts, wie sich herausstellen sollte. Es geht also um Gustl, einen unbedeutenden kleinen Leutnant, der eines Abends und eigentlich nur, weil er die Eintrittskarte geschenkt bekommen hat, im Wiener Konzerthaus die Aufführung eines Oratoriums besucht; hinterher kommt es im Gedränge an der Garderobe zu einem Zusammenstoß mit einem Bäckermeister. Für Gustl, der den Verhaltenskodex seines Standes vollkommen verinnerlicht hat, ist das eine Katastrophe: Denn einen Handwerker kann er nicht zum Duell fordern, wie er es für nötig hält, um seine vermeintlich beleidigte Ehre wiederherzustellen – ‚satisfaktionsfähig‘ waren nur Aristokraten, Offiziere und Akademiker. Also glaubt Gustl, sich selbst umbringen zu müssen, läuft panisch durch die Straßen, verbringt die Nacht auf einer Bank im Prater und geht am Morgen durch die Innenstadt in die Richtung seiner Kaserne. Vor seinem geplanten Selbstmord kehrt er aber geschwind in sein Stammcafé ein, um zu frühstücken, wo er erfährt, dass den Bäckermeister noch in der Nacht der Schlag getroffen hat. Da es keine Zeugen der Auseinandersetzung gibt, ist der Fleck auf der Ehre ganz schnell vergessen, und triumphierend entschließt sich Gustl zum Weiterleben.

Das alles erfährt man also scheinbar ganz ungefiltert durch Gustls Affekte und Reflexe. Aber natürlich ist dabei eine sehr subtile Erzählregie im Spiel, die nicht nur alle nötigen Informationen über Gustls Herkunft – aus einer recht unbemittelten Familie – und über sein Verhältnis zu Geliebten, Kameraden und Vorgesetzten einfließen, sondern auch seine Haltungen und Werte zum Vorschein kommen lässt. Und da zeigt sich Gustl durchaus als ‚lieu-tenant‘, als Stellvertreter oder Platzhalter seines Standes, nämlich als antisemitisch und frauenfeindlich. ‚Die Juden‘ empfindet Gustl als Konkurrenten – militärisch und erotisch; die Mädchen, mit denen er Beziehungen eingeht, sind letztlich nichts als Waren auf dem Liebesmarkt, verwechsel- und austauschbar: „Ob so ein Mensch Steffi oder Kundigunde heißt, bleibt sich gleich“. Verehrung hat er nur für die ranghöheren Offiziere, er wird gleichsam ferngesteuert durch deren Kommandos, die Welt teilt sich für ihn in seine ‚in-group‘, die k. u. k. Armee, und alle anderen, die ihm fremd und, wie er oft glaubt, feindlich gegenüberstehen. Insofern ist Gustl zum Prototyp aller Untertanen der kommenden Totalitarismen geworden.

Wie treffsicher Schnitzlers literarische Diagnose über diesen ‚autoritären Charakter‘ gewesen, bestätigte sich sofort durch die öffentlichen Reaktionen. Eine Militär-Zeitschrift attackierte den Autor auf besonders gehässige Weise; daraufhin erwartete man mit unbelehrbarer Borniertheit, dass sich Schnitzler mit dem betreffenden Redakteur duellieren würde. Weil er das unterließ, wurde er vor ein ‚Ehrengericht‘ geladen; Schnitzler ging auch dort nicht hin. Also wurde er in seiner Abwesenheit verurteilt, weil er durch seine Novelle – und durch den vermiedenen Zweikampf – die „Standesehre“ der Armee geschädigt habe; er wurde zum ‚gemeinen‘ Sanitätssoldaten degradiert, und man holte das Offiziersdiplom aus seiner Wohnung ab. Zugleich legte die völkisch-nationale Presse mit weiteren Polemiken gegen die „Schunderzeugnisse“ des „Literaturjuden Schnitzler“ nach. Den zeitgenössischen Test auf die Triftigkeit der Charakterzeichnung hatte die Novelle also bravourös bestanden.

Viel später hat der inzwischen wegen anderer Werke, etwa Professor Bernhardi (1912) und dem erst 1920 uraufgeführten Reigen-Zyklus immer wieder antisemitisch angegriffene Schnitzler den Skandal gelassen kommentiert: „Nach einigen Jahren bleibt von all dem Lärm nichts weiter übrig als die Bücher, die ich geschrieben und eine dunkle Erinnerung an die Blamage meiner Gegner“. Damit sollte er, wie sich gezeigt hat, völlig Recht behalten.

Josef Winkler: Mein Peter Roseggers

Josef Winkler: Roseggers "Weltgift" in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 22.6.2017

„OHNE HABEN UND MIT VIEL SOLL ODER DER ANGRIFF DES STRAFENDEN ENGELS“.
Beim Lesen des Romans „Weltgift“ von Peter Rosegger

 

„Ich bereue nicht die Sünden, die ich je begangen, ich bereue nur die Sünden, die ich nicht begangen.“ (Peter Rosegger)

 

Im Fabrikkomplex, der „Fletz“ genannt wurde, stellte der Vater des achtunddreißigjährigen Hadrian Hausler, ein schwerreicher Industrieller, ständig neue Dampfmaschinen auf, baute neue Schlote, so daß die Sonne am Himmel nur mehr als schmutzige rote Scheibe zu sehen war. Diese Schlote standen, wie es im Roman „Weltgift“ von Peter Rosegger heißt, wie Riesenstifte ins schmutzige Morgenrot hinein. Der Vater, Guido Hausler, nannte seine Arbeiter die „Bestien“. Hadrian war das einzige Kind der Familie, die schwerkranke Mutter starb früh auf der griechischen Insel Korfu. Hadrian glaubte, das Geld wäre zum Leben da, aber sein Vater war der Meinung, daß man leben müsse, um Geld zu machen. Die langwierigen Geschäftsreisen durch Italien, die Schweiz, Frankreich, England und Rußland, entmenschlichten ihn, er „vertierte“, wie er  sich ausdrückte, er kehrte von jeder Reise als gebrochener Mensch zurück. Die Leute beneideten den Millionärssohn um sein luxuriöses Leben, aber Hadrian hatte Sehnsucht nach einem einfachen und bescheidenen Leben und rechnete in der Buchhaltung der Kanzlei die Tausender genauso gleichgültig, wie die Hunderter oder die Zehner, während ihm seine die „Bestien“ ausbeutender Vater zu verstehen gab, daß „Gold nicht nur die Herzen, sondern auch die Nerven härtet“, und sich die Arbeiter beklagten, daß sie wie Tiere arbeiten müssen und zum Essen nur Milchsuppe und Erdäpfel bekommen würden. Als Hadrian einmal die Gelegenheit hatte in die schlichten Stuben der Arbeiter, besonders einer Wäscherfamilie, zu blicken, fühlte er sich als ihresgleichen und fand es in der dürftigen Behausung der „Bestien“ weitaus heimeliger als in den prächtigen Räumen seines väterlichen Herrenhauses, wo der Diener auf einem silbernem Tablett die Post brachte. Als er danach einmal in der Stadt seinen Vater und seine Freundin Helene in einem protzigen und eleganten Wagen „fast lautlos“ dahinrollen sah, hätte er das ungleiche Paar, wie er es nannte, am liebsten erdrosselt.

Eines Tages eröffnete ihm der Vater, daß er ihn, seinen Sohn Hadrian, als gleichwertigen Kompagnon in seinem Betrieb anstellen, da er die Last und Verantwortung der kaufmännischen Obliegenheiten nicht mehr alleine tragen möchte. „Hausler & Sohn“ sollte von nun an die Firma heißen. Als sich der Sohn diesem Ansinnen verweigert, wirft ihm der Vater vor, daß er nicht arbeiten und seine „Moralanfälle“, besonders, wenn er sich für die ausgebeuteten Arbeiter einsetzen möchte, nur Ausflüchte seien, nicht arbeiten zu müssen. Der Vater gestand schließlich seinem Sohn, daß er seinen ganzen „Plunder“ an eine Aktiengesellschaft verkaufen, ein Landgut erwerben und sich mit seiner Freundin Helene auf dem Ruhesitz zurückziehen möchte, worauf ihn Hadrian verhöhnte und seinem Vater ins Gesicht sagte: „Na also! Endlich wär‘s heraus! Dahin geht’s. Deshalb sollen Bauern betrogen werden. Darum wird einer gesucht, der die Last und Verantwortung trägt. Damit der Herr mit der Zote ein vergnügtes Leben führen kann. Ich gratuliere!“

Am darauffolgenden Tag ließ der Vater seinen Sohn um die Mittagsstunde ins Büro kommen. Er empfing ihn schweigend und feierlich, legte ihm ein Schriftstück vor, das er zu unterschreiben hatte. Hadrian wurde von seinem Vater enterbt. Den Pflichtteil, so der Vater, könne er sich beim Notar Dr. Kerbholz abholen, für ein Leben in Saus und Braus reiche es immer noch. Die beiden Männer, Vater und Sohn, verneigten sich schauspielerisch voreinander und zogen sich zurück, der eine hinter seinem Büroschreibtisch, der andere ging durch eine Tür, die direkt zu einer Frei-Treppe führte. Der enterbte Hadrian quartierte sich in ein Hotel ein und schrieb in seinem Tagebuch: „Heute endlich bin ich gestorben – und neu geboren!“ Hadrian feierte seine Wiedergeburt ganz alleine mit Sekt auf den roten Samtmöbeln im Hotelzimmer. Er fand sich erlöst und frei. Und so beginnt auch der Roman „Weltgift“ von Peter Rosegger: „Heute endlich bin ich gestorben“. – „Mit dieser Neuigkeit beginnen die Aufzeichnungen eines Mannes, der nach seinem Tod ein Leben anfing, so wunderlich und heillos, daß man darüber ein Buch schreiben muß. Es wird geschrieben auf Grund und mit teilweiser Benutzung vorhandener Blätter.“ … Und:  „Es hat Mühe gekostet, bis ich so anständig wurde, daß mein Vater mich enterbt hat. Nun ist es aus. Ich schließe die alte Buchhaltung, um eine neue zu beginnen. Eine ohne Haben und mit viel Soll.“

Robert Vellusig: Mein Lessing

Robert Vellusig: Lessings „Nathan“ in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 16.10.2017

Lessings religionsphilosophisches Gedankenspiel

Lessing gehört zu den dichtenden Pfarrerssöhnen. Wie so viele Intellektuelle des 18. Jahrhunderts konnte auch er sich in den ihm zugedachten Lebensweg nicht finden. In Leipzig, wo er nach dem Willen des Vaters Theologie studiert, gerät er in Kontakt mit der Bühne der Neuberin und nimmt sich nach dem Erfolg seines ersten Lustspiels vor, „ein deutscher Molière“ zu werden. Als die Eltern davon erfahren, dass der hoffnungsvolle Sohn sein Studium abgebrochen hat und sich mit Freigeistern und Komödianten herumtreibt, sieht er sich mit dem Vorwurf moralischer Haltlosigkeit konfrontiert. In einem Brief an den Vater verteidigt er sich auf bemerkenswert souveräne Weise: „Die Xstliche Religion“, so sein Argument, „ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treue und Glaube annehmen soll. Die meisten erben sie zwar von ihnen eben so wie ihr Vermögen, aber sie zeugen durch ihre Aufführung auch, was vor rechtschaffne Xsten sie sind.“ Was er für sich in Anspruch nimmt, ist nichts Geringeres als die Freiheit zur Selbstbestimmung und zum religiösen Freidenkertum:

„Die Zeit soll lehren ob der ein beßrer Xst ist, der die Grundsätze der christl. Lehre im Gedächtnisse, und oft, ohne sie zu verstehen, im Munde hat, in die Kirche geht, und alle Gebräuche mit macht, weil sie gewöhnlich sind; oder der, der einmal klüglich gezweifelt hat, und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, oder sich wenigstens noch darzu zu gelangen bestrebet. So lange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des Xstentums, Seinen Feind zu lieben nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Xsten sind, die sich davor ausgeben.“

Dem Geist des klüglichen Zweifels ist auch die Frage verpflichtet, die Lessings Saladin 30 Jahre später dem weisen Juden Nathan stellen wird: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?“ Brisant ist sie, weil sie die Entscheidung über das Seelenheil der „trockenen Vernunft“ überantwortet: „Ein Mann, wie du, bleibt da / Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt / Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, / Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern.“ Eine solche Frage kann im Ernst nur jemand stellen, der aufgehört hat, sich selbst über seine Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu definieren, gilt sie doch nicht irgendeiner Religion, sondern einem kulturhistorisch singulären Typ von Religion: den Offenbarungsreligionen und ihren heiligen Büchern. Mit ihnen kommt ein exklusiver Wahrheitsanspruch in die Welt, der Kultreligionen fremd ist. Nur Offenbarungsreligionen kennen neben der einen Wahrheit auch den Irr- und Aberglauben der Ketzer und Heiden. Dem nicht zu leugnenden „Nachteil, welchen geoffenbarte Religionen dem menschlichen Geschlechte bringen,“ ist Lessings dramatisches Gedicht gewidmet.

Seine Antwort auf die Frage nach der besten aller Religionen lautet: Es gibt keine wahren oder falschen Religionen; es gibt nur wahre und verheerende Weisen, das religiöse Erbe zu deuten und zu leben. Die Offenbarungsreligionen verwalten kein Wissen, das man haben und aufsagen kann. Im Gegenteil. Wer sich mit den „Satzungen und Formeln“ (Kant) seiner Religion im Besitz einer Wahrheit wähnt, von dem alle Un- und Andersgläubigen ausgeschlossen sind, unterliegt dem „Joch des Buchstabens“ und macht sich darüber selbst zum „betrogenen Betrieger“. Dass das buchstäbliche Verständnis der Bibel die Bilder und Gleichnisse der religiösen Verkündigung prinzipiell missversteht, stand für Lessing ebenso außer Zweifel wie der Gedanke, dass die religiöse Gleichnisrede prinzipiell deutungsfähig und auch deutungswürdig ist.

In seinen theologiekritischen Schriften versucht er das, was er die „innere Wahrheit“ der Religion nennt, philosophisch auf den Begriff zu bringen; im Nathan übersetzt er sie ins parabolische Spiel. Hier wie dort geht es ihm um die Überwindung eines Denkens in Lohn und Strafe und um die bittere Einsicht, dass es gerade der naive Glaube an die Gnade exklusiver Gotteskindschaft ist, der das Böse in die Welt bringt: Der eigentliche Skandal der Offenbarungsreligionen, den die Ringparabel sinnfällig macht, besteht darin, dass sich die väterliche Liebesgabe in den Händen der Söhne in ihr Gegenteil verkehrt. Die Alternative zu einer Ausrichtung des Lebens am Heilversprechen göttlicher Gebote liegt deshalb in der Verpflichtung des eigenen Willens auf das Gute, von dem man erkannt hat, dass es das Gute ist. Der Inbegriff dieses Guten ist das von Lessing sogenannte „Opus supererogatum“, das „überpflichtige Werk“ der Feindesliebe, das er als Ausdruck des wahren Christentums und der wahren Freimaurerei begreift.

Auf einer wundersamen Verkettung solcher guten Werke beruht auch Lessings dramatisches Spiel: An seinem Ursprung steht die Adoption des verwaisten Christenkindes durch den Juden, der seine „sieben hoffnungsvollen Söhne“ bei einem christlichen Pogrom verloren hat; fortgesetzt wird es mit der Begnadigung des christlichen Tempelherrn durch den muslimischen Sultan, vollendet durch die Rettung des Judenmädchens aus dem brennenden Haus, die den christlichen Ritter auf die Spur von Nathans Geheimnis bringt. Die bitterböse Pointe dieser Plotkonstruktion besteht darin, dass die Samaritertat, in der der verwaiste Nathan sein Lebensglück findet, ihm nun zum Unheil auszuschlagen droht: Der fromme Patriarch kann in ihr nur die Todsünde der Apostasie erkennen und verurteilt den unbekannten Juden deshalb zum Tod auf dem Scheiterhaufen.

Das „Märchen“ von den drei Ringen und die Geschichte von Rechas Adoption gehören zusammen. Das dramatische Spiel veranschaulicht die Parabel, so wie diese das dramatische Spiel deutet. Sein ganzer Reiz und sein intellektueller Reichtum offenbaren sich freilich erst dann, wenn man sich von der Vorstellung verabschiedet hat, auf Lessings Bühne werde die Toleranz zwischen den drei miteinander konkurrierenden Buchreligionen gepredigt. Lessings religionsphilosophisches Gedankenspiel macht etwas anderes: Es lässt die traditionelle Gestalt dieser Religionen hinter sich.

Buchempfehlung: Gisbert Ter-Nedden: Der fremde Lessing. Eine Revision des dramatischen Werks. Hrsg. v. Robert Vellusig. Göttingen: Wallstein 2016.

Ferdinand Schmatz: Mein Büchner

Ferdinand Schmatz: Büchners Woyzeck in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 12.12.2017

Büchners Woyzeck ist ein Ausgesetzter, ein Getriebener, ein Unterworfener, er dient im Militär und ist in diesem System ein Ausgebeuteter und Verletzter, was allerdings auf sein gesamtes Leben Auswirkung hat. Er ist in diesem Feld von unheilvollen Wirkungen nicht die Ursache, wie er nie die Ursache für das Geschehen abgibt, und dennoch einem nie faktisch begründeten gesellschaftlichen Zugriffsrecht auf allen Ebenen ausgesetzt ist. Es gibt diese Fakten, aber sie sind die eigentlichen Wahngebilde einer Gesellschaft des Nutzgewinns auf Kosten anderer, einer Vorwegnahme der kommenden Verwertungsideologie wie sie ein Jahrhundert danach im Nationalsozialismus fürchterliche Verwirklichung erfuhr. Woyzecks ihm zugeschriebene Dummheit und der damit verbundene Status des Tiers ist nicht die Ursache eines allgemeinen Zustandes, der sich im einzelnen manifestiert. Er ist nicht die Ursache, dass ihn seine Geliebte Marie, mit der er ein uneheliches Kind hat, mit dem Tambourmajor betrügt, er ist nicht die Ursache, dass er mit Erbsen gefüttert wird, um angeblich wissenschaftliche Erkenntnisse der Medizin zu erweitern, was in Wahrheit kapitalistische Frühformen einer auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Ernährungsindustrie darstellt. Er ist nicht die Ursache, dass seine Freunde Außenseiter sind wie der einfache Soldat Andres und der
Narr und ein Kind, sein Sohn Christian. Aber wenigstens hier hat er so etwas wie eine Wahl, sich zu entscheiden, wen er an sich heranlässt und damit die Möglichkeit, so zu kommunizieren, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Und nicht im Jargon des Systems, von ganz unten bis ganz oben, dem er sich ausgeliefert sieht, dem er sich aber auch zu entziehen versucht: dies mit Krankheit, mit Fieber, das ihn durch dessen Einwirkungen wie Stimmen-Hören und Halluzinationen zum Anderen macht. Franz Woyzeck ist dadurch auch nicht die Ursache seiner geistigen Verwirrung. Alles was Ursache in ihm ist, wird ihm zugeschrieben, und damit geht er unter, weil er nicht davonlaufen kann, was er ständig versucht. Das ist sein Schicksal, das er nicht unter den Füßen hat. Und keinen Grund – aber jenen, auf dem die Unterwerfer wie die Lemuren der Gesellschaft stehen, den will er gar nicht leben. Er sucht nicht den Schnaps als Ausweg, wie er ihm zugetragen wird, und statt dem Hauptmann das Rasiermesser anzusetzen und ihm die Kehle aufzuschneiden, tötet er das in sich selbst, was ihn ausmacht: die nicht erwiderte Liebe, die gar nicht aufblühen konnte in ihm, so stark war der Druck der gesellschaftlichen Verrohung. Es reicht nicht einmal zum Kuss um Pfingsten herum, das Fest, an dem die Engelszungen sprechen. Er sticht seine Liebste tot und hält sie dadurch am Leib, spürbar in seinem. Das ist nicht unbedingt moralisch, aber nach der realen Vorlage des tatsächlichen Täters Woyzeck stellt der Autor Bücher eine Schicksal auf die Bühne oder in ein Buch, das seinesgleichen in der Literatur nicht nur der Goethezeit sucht. Er weist damit tief in unsere Gegenwart hinein – dieser so früh verglühende Dichter, mit 23 Jahren hat er zu sterben, in zwei Jahren schreibt er uns ins Herz, was der Geist nicht vergessen darf: Unbestechlichkeit, Anteilnahme, Machtkritik, Spiel mit den Wirklichkeiten, Freiheit durch Anderssein. Lenz, Danton, Leonce und Lena sind dafür eindringlichste Textwirklichkeit.

Radek Knapp: Mein Schwejk

Radek Knapp: Schwejk, der Idiot von Amtswegen, in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 5.2.2018

Wer durch das schöne und ach so katholische Krakau schlendert, der stösst irgendwann auf eine Kleinigkeit, die gar nicht in diese hübsche Wohlfühlstadt passt. Auf einem Haus unweit des Zentrums hat man eine kleine Gedenktafel aus Marmor angebracht. Darauf steht: „Wegen Bettlerei und öffentlicher Störung saß hier in einer Einzelzelle 6 Wochen lang Jaroslaw Hasek“.
Damit hat der künftige Autor des „Braven Soldaten Schwejk“ die zwei wichtigsten Regeln der Schriftstellerei erfüllt. Erstens – nirgendwo schreibt es sich besser als im Gefängnis. Und zweitens, je näher der Autor dem Leben steht, desto mehr Leben kommt in seine Figuren. Unter diesen beiden Leitsternen ist wohl der größte und klügste Trottel der Literatur zur Welt gekommen. Man kennt ihn im deutschen Sprachraum unter dem Namen: Der brave Schwejk. Im englischen unter „the brave soldier svejk“ oder wie man im tschechischen Original seine Abenteuer bezeichnet: „osudy dobreho vojaka svejka za svetove valky“.
Es ist schon eine Weile her, als Schwejk zur Welt kam, und wir kennen ihn immer noch gut. Viel größere Namen von Filmstars, Künstlern und Jahrhundertkatastrophen sind in Vergessenheit geraten, aber Schwejk erfreut sich immer noch bester Gesundheit. Dabei sieht er nicht besonders appetitlich aus. Er ist klein, das Gesicht ist ein breiter, geröteter Zähler, der jeden ausgetrunkenen Krug Bier akribisch festgehalten hat. Die Augen sieht man kaum wegen seiner Pausbacken und über seinen Mundgeruch kann nur spekuliert werden. Und dennoch. Er steht heute mit Don Kichote, Hamlet und Faust in einer Reihe. Man kann es ins Lexikon auch schaffen, ohne solche Dinge von sich zu geben wie „Sein oder nicht sein“, oder „ich bin ein Teil dieser Kraft, die das Böse will und stets das Gute schafft“.
Es geht nämlich auch anders. Zum Beispiel mit angeborenen Schwachsinn und Grenzdebilismus, den ein Oberst während der Musterung der K.u.K Armee Schwejk bescheinigte, um ihn darauf tauglich zu erklären. Spätestens dann begann in dieser Gestalt, die auf dem Papier erfunden wurde, echtes Blut zu fließen. Schwejk wurde er auf den ersten Weltkrieg und generell auf die menschliche Dummheit losgelassen und schlug sie mit ihren eigenen Waffen.
Aus einem windigen Händler, der Straßenköter in reinrassige Hunde verwandelte, wurde nicht nur der misslungenste Soldat, den die Armeen dieser Erde je gesehen hatten, sondern auch noch der fröhlichste. Den Platz unter den Ewigen verdankt er seiner Idiotie, die ihn immer das richtige zum falschen Zeitpunkt sagen lässt.
„Hast du Angst vorm Fliegen, Schwejk? Nein, denn da oben ist noch keiner geblieben“, pflegte er seine Kameraden zu beruhigen, wenn Lebensgefahr drohte. Seinen Vorgesetzten antwortete er hingegen gerne: „Wenn alle Menschen klug wären, gäbe es auf der Welt so viel Klugheit, dass wir längst alle davon schon blöd geworden wären“.
Und als er schließlich feststellte, dass er, der Idiot von Amtswegen, von der allgemeinen Idiotie übertroffen wurde, tat er das einzig richtige: Er kletterte während der entscheidenden Schlacht auf einen Baum und feuerte beide Armeen gleichzeitig zum Sieg an.
Schwejk, dieses kleine Rädchen mit großer Klappe, hatte dem dunklen Tunnel unserer Existenz, wie die Philosophen hochtrabend das Leben nennen, keine Antidepressivtablette, sondern das große Lachen angeboten.
Wäre Schwejk heute auf die Welt gekommen, würde er staunen wie viel heute da ist, das ausgelacht und weggelacht werden müsste. Humor ist Schwerstarbeit. Nur die stärksten unter uns sind bereit sich dafür zu entscheiden.
Seine heutigen Nachfolger, wie der Kommissar Monk oder der Soldat Forrest Gump mögen nicht ganz den Schwejkschen Grenzdebilismus erreichen, aber sie erinnern immerhin an seine Botschaft:
„Ich bin ein Trottel und das Leben ist schrecklich, aber ich habe beschlossen es schön zu finden“.
Das ist, worum es in dem ganzen Spiel geht. Heute mehr denn je. Und wer das nicht kapiert, dem werden nicht einmal zehn Krug Bier helfen.

Daniela Strigl: Mein Theodor Kramer

Daniela Strigl: Mein Theodor Kramer in 5 Minuten

Einleitender Text zur Veranstaltung am 12.4.2018

Meine Bekanntschaft mit Theodor Kramer verdanke ich dem Schuleschwänzen. Also, nicht direkt Schwänzen, aber richtig krank war ich auch nicht. Es war in der fünften oder sechsten Klasse, damals gab es im Fernsehen noch den sogenannten Schulfunk. Eine halbstündige Sendung war dem Weinviertler Dichter Theodor Kramer gewidmet. Man sah die Landschaft rund um seinen Geburtsort Niederhollabrunn – Hügel, Weingärten, Lößgräben, Ackerwege, geduckte Dörfer – und man hörte seine Gedichte, die ebendieser Landschaft plastisch und sinnlich Gestalt verliehen. Ich war fasziniert und beschloß, mich mit dieser eigentümlichen, irgendwie „unlyrischen“ Lyrik einmal eingehender zu beschäftigen.

Als es dann gegen Ende meines Germanistik-Studiums darum ging, ein Dissertationsthema zu finden, kam ich darauf zurück – nicht unbedingt zur Freude meines Doktorvaters Wendelin Schmidt-Dengler, der mir als Folge einer Lektüre von zweitausend Kramer-Gedichten (so viele etwa lagen gedruckt vor) eine Art Gehirnerweichung prophezeite. Er ließ aber mit sich reden, und so stürzte ich mich in die Kramersche Welt der Taglöhner und Weinmägde, der Markthelfer und „Ausgesteuerten“, der durchs „Buckelland“ wandernden Liebespaare, der Stromer und Huren. Kramer, so entdeckte ich, ist der Sänger der Erde und der Branntweinschenke, der Ziegelbrennerei und des Schützengrabens, er liebt die Peripherie, das Niemandsland zwischen Acker und Stadt, er ist melancholisch und aufmüpfig, zart und derb, bodenständig und „wurzellos“. Seine Widersprüche wollte ich im Titel meines Buches zumindest andeuten: „Wo niemand zuhaus ist, dort bin ich zuhaus“. Theodor Kramer – Heimatdichter und Sozialdemokrat zwischen den Fronten.

Es kommt nicht von ungefähr, daß mich diese Gedichte zuerst rein vom Zuhören angesprochen hatten, als akustische Gebilde. Gerade das, was manchen daran auf die Nerven ging, das Eintönige und Repetitive, die Begrenzung des Raums und des Milieus, hat mich gepackt und nicht losgelassen, bis heute. Man kann Kramers Sound auf sich wirken lassen wie einen guten Blues, und wie ein guter Blues umfaßt er die ganze Spannweite des Lebens, dunkel getönt, aber umso glühender in der Beschwörung des „schönen Überschwangs“, der das menschliche Dasein trotz aller Mühsal rechtfertigt.

Dabei sah Kramer, Jahrgang 1897, als Dichter über sein eigenes Schicksal fast immer programmatisch hinweg. Aufgewachsen als Sohn eines jüdischen Landarztes, wurde er im Krieg schwer verwundet, studierte, arbeitete im Buchhandel, verlegte sich ganz aufs Schreiben. Gleich mit seinem Erstling, dem Gedichtband Die Gaunerzinke, machte er 1929 Furore als ein Meister des Rollengedichts. „All dies mundet wie Schwarzbrot und Rettig, herb und schwer auf all das lauliche, unbestimmte Zeug, das vielfach wieder als Lyrik ausgeboten wird“, schrieb der Kritiker Ernst Lissauer. Nach Wir lagen in Wolhynien im Morast (1931) und Mit der Ziehharmonika (1936) gehörte Kramer zu den berühmtesten Dichtern des deutschen Sprachraums. Der Anschluß brachte ihn dazu, sich, wie er meinte, in persönlichen Versen „gehen zu lassen“, er trieb ihn, den Juden und Sozialdemokraten, nach England, wo er fast zwanzig Jahre blieb und als College-Bibliothekar sein Leben fristete, obwohl er dort nie heimisch wurde und in hunderten Gedichten sein ihm verloren gegangenes Werk der zwanziger und dreißiger Jahre gleichsam noch einmal schrieb. Erst ein halbes Jahr vor seinem Tod 1958 kehrte Kramer krank und zerrüttet nach Wien zurück.

Mehr als zehntausend Gedichte hat er geschrieben und damit ein unverwechselbares Werk geschaffen, „gute glaubwürdige Dichtung zwischen den Moden von Heimatkunst und Neuer Sachlichkeit“ (Andreas Okopenko). Kramer selbst positionierte sich als „Chronist meiner Zeit“ und als poetischer Realist gegen die schöngeistige Lyrik der Rilke-Epigonen, er wagte einiges in Sujet und Thema, in der Form setzte er auf Bewährtes, auf die Liedstrophe und den Reim. Er pflegte aber auch einen Wortschatz des Ländlich-Besonderen, mitunter Musealen. Kramers Engagement „für die, die ohne Stimme sind“, ist nicht mit parteipolitischer Propaganda zu verwechseln. Seinen Genossen waren seine Gedichte zu wenig kämpferisch, den Nazis waren sie zu marxistisch und zu „jüdisch“. Alfred Rosenberg wollte Kramer gar zum „Hofpoeten der Demokratie“ ernennen, ein schlimmeres Verdikt war ihm nicht vorstellbar.

Theodor Kramers Verschwinden im Exil gehört zu den peinlichen Kapiteln der an Peinlichkeiten nicht armen österreichischen Nachkriegsgeschichte. Auch den Akteuren des Wiederaufbaus war dieser plebejische Dichter zu düster, der folgenden Generation erschien er wiederum zu altmodisch. Erst mit der dreibändigen Ausgabe des Europaverlags begann 1984 die langsame Heimkehr des jüdischen Heimatdichters nach Österreich. Im Vorwort zu Band I bekennt Bruno Kreisky, Kramers Lyrik gehöre „zu den großen literarischen Erlebnissen meiner Jugend“.

Als wahrer Volksdichter, dessen Begriff von Heimat niemanden ausschließt, ist Kramer in einer Zeit, da österreichische Bundeskanzler auf Fragen nach ihren Lieblingsbüchern diplomatisch zu schweigen belieben, jeder Leseempfehlung wert.