MIT ALLEN SINNEN. Die Jahreslesungen der GAV Steiermark

veröffentlicht am 1. Februar 2022 in Objekt des Monats

Schlafmaske und Einladungskarte zu „Blindflug. Mit der Grazer Autorinnen Autoren Versammlung“, Odilien-Institut Graz, 21.6.2017 sowie vier weitere Einladungen aus dem Vorlass von Wilhelm Hengstler am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Signatur: FNI-Hengstler-Box 22.

Wenn am Kaiser-Josef-Platz, marktschrei(b)erisch angepriesen von Günter Eichberger und musikalisch be-flügelt durch Dieter Glawischnig, statt mit Gemüse mit „Frischtext“ (sprach-)gehandelt wird, wenn das tiefe „dunkel“ im vollständig von allen Lichtquellen abgedichteten Grazer Literaturhaus „mit allen [text-]sinnen“ erhellt wird – was freilich nur ansatzweise gelingt, geht doch mit Textende immer wieder das Licht aus –, wenn bei einer „Verabschiedung“ in der Grazer Feuerhalle die GAV („1973-2016“) aktionistisch zu Grabe getragen wird, woraufhin deren steirische Mitglieder von Brunner bis Wanko nebst zahlreichen Adabeis aus dem Publikum – die Verfasserin inbegriffen – als „Hinterbliebene“ programmgemäß zum Leichenschmaus schreiten, und wenn schließlich 2021 in einem Grazer Kuhstall der Landwirtschaftsfachschule Grottenhof putzmunter-pandemiemüde die „Stallwärme“ beschworen und (kultur-)politisch hinterfragt wird, während hinter dem Lesepult Aug in Aug mit dem Publikum friedlich die Rindviecher ihren vorverdauten Nahrungsbrei wiederkäuen, dann handelt es sich um eine der Jahreslesungen der GAV Sektion Steiermark. Die poetischen Zusammenkünfte der steirischen Mitglieder der „Grazer Autorinnen Autoren Versammlung“, kurz GAV, sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil des literarischen Lebens in Graz geworden. Seit 2001 erstmalig unter der Federführung des neu ernannten steirischen Regionaldelegierten Martin G. Wanko die Devise „Nie wieder einsam“ im Grazer Theatro (2.10.2001, Idee & Durchführung Günter Eichberger) ausgegeben wurde, kommt ein bis auf wenige Ausnahmen über die Jahre fast unverändert gebliebener Stamm von steirischen GAV-Autor*innen jährlich, vorzugsweise zu Saisonausklang Ende Juni, Anfang Juli zu einer Großlesung zusammen. Im Gegensatz zu der von Anfang an für die GAV typischen „Form der Massenlesung“, bei der „den Einzelnen fünf Minuten Zeit“ zugestanden wird, um „oft in alphabetischer Reihenfolge der Auftretenden einen Text vorzustellen“ (Renoldner, 2013), werden in der steirischen Variante die einzelnen Kurzlesungen in einen performativ-konzeptuellen Rahmen gestellt, sodass Texte und Konzept einander idealerweise wechselseitig kommentieren, dann und wann auch ironisieren. Der Mehrwert ist offensichtlich – und ein anarchischer Spaß ist es allemal, dessen Stoßrichtung deutlich wird, wenn man sich die Entstehungsgeschichte der GAV und deren Verquickung mit dem 1960 gegründeten Forum Stadtpark und der Literaturzeitschrift „manuskripte“ sowie dem 1968 ins Leben gerufenen „steirischer herbst“ in Erinnerung ruft.
Die „Grazer Autorinnen Autoren Versammlung“, GAV, ursprünglich kurz und männerbündisch „Grazer Autorenversammlung“ genannt, war 1973 aus Protest gegen den österreichischen PEN-Club – wie schon der Name besagt – in Graz gegründet worden. Unmittelbarer Anlass war der aufsehenerregende Rücktritt Alexander Lernet-Holenias als österreichischer PEN-Präsident im Herbst 1972, als dem damaligen Präsidenten des internationalen PEN, Heinrich Böll, der Nobelpreis zuerkannt wurde. Stein des Anstoßes: Bölls Freundschaft mit und seine einmalige Wahlunterstützung für den SPD-Politiker Willy Brandt 1972 sowie ein medienkritischer Spiegel-Essay über die RAF, auf den die angegriffene Springer-Presse mit einer Stilisierung Bölls zum Sympathisanten des linksextremistischen Terrorismus reagierte. In der Folge dieses Rücktritts formuliert Ernst Jandl gegen den österreichischen PEN-Club und die dort federführende Altherrenriege, die – ästhetisch rückwärtsgewandt – gleichwohl „durch ihre Nähe zu den Machteliten“ (Roland Innerhofer, „GAV contra PEN. Die Institutionalisierung einer Spaltung, 1995, S. 227) zentrale Schlüsselpositionen im österreichischen Literaturbetrieb innehat, seine vielzitierte „Grazer Erklärung“ (vgl. das „Konvolut betreffend Gründungsphase der GAV“ im Vorlass von Reinhard P. Gruber, FNI-Gruber-K3), die er am 22.10.1972 bei dem „steirischen herbst“-Symposium „Formen der Selbstverwaltung im Kulturbetrieb“ im Forum Stadtpark verliest. Darin bezeichnet er den „sogenannten österreichischen PEN-Club“ als „eine Schande für den internationalen PEN-Club und als eine Schande für Österreich“ und fordert dessen Mitglieder auf, „die dort herrschende Cliquenwirtschaft, dieses Getümmel von bestenfalls Regionalgrößen“, durch eine „völlige Reorganisation“ zu beenden und den Club endlich „all jenen österreichischen Autoren [zu] öffnen, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der deutschsprachigen Literatur, und darüber hinaus, Geltung und Ansehen erworben und dazu beigetragen haben, das Bild der deutschsprachigen Literatur der letzten 25 Jahre zu formen“.
Ausgetragen wird hier trotz des unmittelbaren Anlassfalls weniger ein politischer als vielmehr ein ästhetischer und wohl auch ein Generationenkonflikt zwischen einer formal innovativen, gegen Sprachnormierungen opponierenden jüngeren und jüngsten Autor*innengeneration, die den Anschluss an die Moderne und die historischen Avantgardebewegungen suchte und überzeugt war, dass Sprache die Wirklichkeit nicht bloß abbilde, sondern selbst Wirklichkeiten erzeuge, und jenem traditionalistischen bis reaktionären, ästhetisch auf dem Status Quo unverrückbarer Werte und eines klassischen Abbildungsrealismus beharrenden Lager, das die jüngeren, an Traditionen der Avantgarde anknüpfenden Autor*innen, auch als diese sich über den Umweg des deutschen Buchmarkts bereits in Österreich etabliert hatten, systematisch von Publikations- und Fördermöglichkeiten fernzuhalten suchte. Jandls Erklärung wird von fünfzehn weiteren Autoren und zwei Autorinnen unterschrieben: H. C. Artmann, Wolfgang Bauer, Gerald Bisinger, Otto Breicha, Helmut Eisendle, Gunter Falk, Barbara Frischmuth, Klaus Hoffer, Gert F. Jonke, Alfred Kolleritsch, Friederike Mayröcker, Gerhard Roth, Gerhard Rühm, Michael Scharang, Harald Sommer, Oswald Wiener und – als einzigem PEN-Mitglied – Elias Canetti. Damit war der Grundstein für die bereits im März 1973 im Forum Stadtpark erfolgte Gründung der „Grazer Autorenversammlung“ gelegt, die jene Spaltung zweier höchst gegensätzlicher Literaturauffassungen institutionell verankerte. Ihre Geschichte ist für die ersten zehn Jahre durch das Standardwerk von Roland Innerhofer („Die Grazer Autorenversammlung (1973-1983). Zur Organisation einer ‚Avantgarde‘“, 1985) umfassend dokumentiert und kann dort nachgelesen werden.
Aber auch innerhalb der zunächst 58 Gründungsmitglieder der GAV waren höchst unterschiedliche progressive Strömungen vertreten, von anarchistisch-elitären bis dezidiert politisch links engagierten, einig war man sich in der Kritik des Bestehenden, uneins allerdings, ob radikale Sprachkritik ein probates Mittel zur Veränderung der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit sei oder man den Käfig der Sprache in Richtung Aktion, aber auch gewerkschaftlicher Organisation aufsprengen müsse – wie die 1968/69 in den „manuskripten“ geführte „Basis-Überbau“-Debatte zeigt. Das Forum Stadtpark und die Literaturzeitschrift „manuskripte“ spielten dabei insofern eine zentrale Rolle, als den österreichweit von Auftritts- und Publikationsmöglichkeiten abgeschnittenen progressiven Künstler*innen dort seit der Gründung 1960 öffentlichkeitswirksam eine Bühne geboten wurde. Die Gründungsmitglieder der GAV setzen sich dementsprechend aus den ehemaligen Mitgliedern der Wiener Gruppe und deren Umfeld, jenem aus dem Forum Stadtpark hervorgegangenen informellen Freundeskreis von Autor*innen der sogenannten „Grazer Gruppe“, Vertretern des Wiener Aktionismus, der Literaturzeitschrift „Neues Forum“ und des 1971 gegründeten „Arbeitskreises österreichischer Literaturproduzenten“ (vgl. Renoldner, 2013) zusammen.
Die nun – auch dank der von Anfang an üppig fließenden Subventionen aus den sozialdemokratischen Fördertöpfen – einsetzende Erfolgsgeschichte der GAV, die die Avantgarde „quasi institutionalisierte“ (vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, „Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990“, 1995, S. 281), führte bald darauf zum Austritt zahlreicher prominenter Gründungsmitglieder (u.a. Oswald Wiener und Günter Brus 1974, Peter Handke 1977, H. C. Artmann, Helmut Eisendle, Peter Rosei, Gerhard Roth 1978 (Wiedereintritt Eisendle 1983), Alfred Kolleritsch 1987, der ebenfalls später wieder beitrat, Klaus Hoffer 1988, Barbara Frischmuth und Reinhard P. Gruber 1989), die die mit dem Erfolg einhergehende Professionalisierung und großzügige Öffnung für neue Mitglieder als Verwässerung ihrer ästhetischen und gesellschaftskritischen Anliegen verstanden. (Vgl. Peter Landerl, „Der Kampf um die Literatur. Literarisches Leben in Österreich seit 1980, 2005, S. 144f.) Bereits Anfang der 1980er Jahre war die GAV zur „zahlenmäßig größten Vereinigung von Autorinnen und Autoren in Österreich“ geworden, der vereinsinterne Versuch, über die Abgrenzung gegenüber dem PEN (Verbot von Doppelmitgliedschaften) hinaus Gemeinsamkeiten zu formulieren, kommt zu folgenden Punkten: „kritisch gegenüber dem etablierten Kulturbetrieb, Ablehnung konservativer Kulturpolitik, Unterstützung von Friedensbewegung, feministisches Engagement, Ökologismus, gegen Ausgrenzung von Minderheiten, dezidiert antifaschistisch, aktiv gegen neonazistische Strömungen“. (Renoldner, 2013) Seit 1975 wurden die Vereinsagenden, vor allem die (finanzielle) Förderung von Veranstaltungen der Mitglieder und die gemeinsame Positionierung zu kulturpolitischen Themen mittels Aufrufen und Petitionen, von Wien aus betrieben. Der Bezug zum Forum Stadtpark und zu den ursprünglichen ästhetischen Anliegen wie auch die regionale Anbindung insgesamt gingen mit der Vergrößerung sukzessiv verloren.
1987 wurde daher die Schaffung von Regionalgruppen beschlossen, 1988 fand die erste Regionalversammlung mit der Wahl der Länderrepräsentanten für den GAV-Vorstand statt. „Die Regionaldelegierten der GAV Steiermark waren: 1988-1999: Petra Ganglbauer; 2000: Mike Markart; seit 2001: Martin Wanko“ (GAV-Geschäftsführer jopa jotakin in einem mail vom 13.1.2022)
Durch die Gründungsgeschichte der „Grazer Autorinnen Autorenversammlung“ ist deren steirische Sektion in der speziellen Situation, sich stärker als andere Ländersektionen zu den erfolgreichen Vorgänger*innen aus dem „manuskripte“-Umfeld in Beziehung setzen zu müssen, die zwar großteils aus der GAV wieder ausgetreten waren, deren Mythos von den „Grazern, die ausgezogen waren, die Literatur zu erobern“ aber noch weit in die 1980er Jahre ausstrahlte und Alfred Kolleritsch und seine „manuskripte“ für viele junge Autor*innen als eine Art Gatekeeper für den Eintritt ins Gelobte Land der „(Un)Heimlichen Literaturhauptstadt“ erscheinen ließen. Waren die 1990er Jahre durch den Generationenkonflikt im Forum Stadtpark und die Ausgliederung der „manuskripte“ sowie die damit einhergehenden Unsicherheiten über den Weiterbestand beider Institutionen eine Phase des Umbruchs im steirischen Literaturbetrieb gewesen, welche es anderen steirischen Literaturinstitutionen ermöglichte, sich deutlicher im literarischen Feld zu positionieren, so konsolidierten sich beide Institutionen ab der Jahrtausendwende, hatten aber – trotz ihrer großen Vergangenheit – im Kulturleben der Steiermark nicht mehr das aus den 1970er Jahren herrührende Alleinstellungsmerkmal.
Die 1988 ins Leben gerufene GAV Steiermark scheint diese Entwicklung von einer Phase des Umbruchs, auch des Widerstands gegen die Hegemonie der berühmten Altvorderen aus den 1960er und 70er Jahren, hin zu einer Konsolidierung, die die vergangene Erfolgsstory für die Gegenwart nutzt und deren Konzepte weiterdenkt, zu spiegeln. Durch den Ankauf der Vorlässe von Günter Eichberger und Wilhelm Hengstler für das Franz-Nabl-Institut sind auch umfangreiche GAV-Konvolute über die ab 2001 stattfindenden jährlichen Großlesungen miterworben worden, die erstmalig Einblick in die Neukonstituierung der GAV Steiermark in der Ära Wanko erlauben.
„Vor einigen Monaten rief mich zu fortgeschrittener Stunde Günter Eichberger an. Er fragte mich, ob ich die GAV in der Steiermark leiten wolle, ob ich mir das vorstellen kann. Spontan sagte ich zu“, formuliert Martin G. Wanko in einem Programm zur ersten steirischen GAV-Gruppenlesung „Nie wieder einsam“ 2001 und kündigt in guter (Post-)Avantgardetradition, die augenzwinkernd das Scheitern des eigenen Anspruchs bereits einkalkuliert, einen provokant-aktionistischen Eroberungsfeldzug im Grazer Maßstab – „Heute das Theatro, und morgen das Schwarzenegger Stadion“ –  an, der unter Einbezug der Gründungsmitglieder „die GAV vom pensionswürdigen zum zeugungsfähigen Alter“ verjüngen solle. Einem im Eichberger-Vorlass aufgefundenen Kronen Zeitungs-Artikel zufolge wurde dort die steirische Schreibwut mittels „‚schwer bewaffnete[r]‘ Zeitpolizisten“, die die Einhaltung der Fünf-Minuten-Limits“ akribisch überwachten, in die geordneten Bahnen staatlicher Kontrolle gelenkt, wozu Musik von T.M. Download (Wolfgang Pollanz) und eine „Splatter-Peter-Alexander-Film-Collage“ von MacGuffin gespielt wurden. (Vgl. M[ichaela]R[eichart], „Bunt, dicht, brutal“, Kronen Zeitung, 4.10.2001) Die anzitierte, ohnedies nicht mehr ernsthaft angestrebte Aufhebung der Grenze zwischen Literatur und Leben und die Überschreitung des Mediums Literatur in Richtung Gesamtkunstwerk erinnert dabei stark an die in den frühen 1960er Jahren im Forum Stadtpark veranstalteten „Dunkelkammer“-Lesungen, insbesondere in jener klamaukhaft-spielerischen, gleichzeitig durchaus ernsthaft (politisch) widerständigen, zwischen E und U changierenden Art, wie sie Gunter Falk und Wolfgang Bauer betrieben hatten. Bauer und der 1975 der GAV beigetretene Alfred Paul Schmidt stehen zwar im Programm der Veranstaltung, sind dann – Eichberger/Hengstler zufolge – dort aber nicht aufgetreten, während das Gründungsmitglied Wilhelm Hengstler seit 2004 als Regisseur der jährlichen Lesungsinszenierungen bis heute zum innersten Zirkel der steirischen GAV zählt, die seither von einem „Triumvirat“ aus verschiedenen GAV-Generationen zusammengehalten wird: Willi Hengstler (* 1944, Beitritt 1973), Günter Eichberger (* 1959, Beitritt 1990), Martin G. Wanko (* 1970, Beitritt 2000), wobei jeweils Wanko die Organisation der jährlichen Lesungen übernimmt, Eichberger die Moderation, Hengstler die szenische Umsetzung und die Konzeption meist das Ergebnis eines gemeinsamen Diskussionsprozesses ist. Bereits 2001 hatte sich durch zahlreiche Neuaufnahmen – im Vorlass von Günter Eichberger finden sich Plädoyers für eine Aufnahme von Helwig Brunner, Olga Flor, Birgit Pölzl sowie Werner Schandor, aber auch Jury-Unterlagen, die die Aufnahme von Andrea Sailer, Monika Wogrolly und Robert Wolf belegen – ein Generationswechsel vollzogen, abgesehen von den schon Genannten waren 2001 nur vier von den Lesenden vorher schon bei der GAV gewesen: Joachim Gunter Hammer, Mike Markart, Wolfgang Pollanz und die 1981 beigetretene Andrea Wolfmayr, die – (nicht ganz) freiwillig – wegen der intensiven Debatte, nicht nur innerhalb der steirischen GAV, über die Unvereinbarkeit ihrer Tätigkeit als Nationalratsabgeordnete im Schüssel-Haider-Kabinett mit ihrer GAV-Mitgliedschaft die GAV 2003 verlassen hat. Neu hinzukamen in späteren Jahren, wie die Programme der Jahreslesungen zeigen, u.a. Valerie Fritsch (2012), Gertrude Maria Grossegger (2016), Max Höfler (2014), Stefan Schmitzer (2017), Clemens Setz (2009), Cordula Simon (2014) und Andrea Stift-Laube (2008). Den einen oder anderen Abgang (mit oder ohne Sprengstoff), nachzulesen im Eichberger-Material, gab es ebenfalls zu verzeichnen, sodass die Kerngruppe sich seit 2001 auf etwa 18 Mitglieder einpendelt.
Unter dem Veranstalter-Trio Eichberger/Hengstler/Wanko dürfte jedenfalls die Freundschaft mit Wolfgang Bauer und die Bewunderung für sein Werk, auch die persönliche Erinnerung an Lesungsauftritte Bauers, ein Weiterdenken von dessen radikaler Poetik des Banalen, die etwa in „Das stille Schilf“ mit einem „Schlechte[n] Meisterwerk: Schlechte Texte mit schlechten Zeichnungen und einer schlechten Schallplatte“ gegen die gute Gesellschaft und deren „guten“ Geschmack protestiert, zur Folge gehabt haben. Bereits mit seiner ersten Lesungs-Inszenierung im Dezember 2004, die im Forum Stadtpark-Programm als „GAV: Kitsch-Text. Ein Wohlfühlabend“ angekündigt ist (vgl. die chronologische Auflistung der Jahreslesungen der GAV Steiermark im Anhang), bezieht sich Hengstler offensichtlich auf die im Dezember 1965 im Forum veranstaltete happeningartige „Pop-Lesung“ „Happy Art and Attitude“ und schickt die lesenden Autor*innen „über eine zweieinhalb Meter hohe Stehleiter in einen durch Transparentfolie gebildeten Zylinder, einem durchsichtigen „Plastikgehege“, in dem sie an einem Tischchen ihre Texte zum Thema „Rosiger als Rosamunde“ vortragen, währenddem Luftballons aufgeblasen und in das immer voller werdende Gehege geworfen werden, bis Wanko als letzter mit brennender Zigarette alle zum Platzen bringt“ (Willi Hengstler in einem mail vom 21.1.2022).
Dass die polemische Verweigerung von „Erhabenheit“ und „tieferem Sinn“ immer noch zu provozieren vermag, zeigt ein gemeinsames Anthologie-Projekt, das bis heute unpubliziert geblieben ist. Bereits 2001/02 hatte man – unter Einbeziehung von unpublizierten Gemeinschaftsarbeiten der Grazer Gruppe- und frühen GAV-Mitglieder Bauer/Falk, Hengstler/Schmidt, Gruber/Wünsch sowie Eisendle/„mit wem auch immer“ – an einer Anthologie gearbeitet, deren Konzept unter dem Titel „unheimlich peinlich“ den Programmarbeitskreis für das Kulturhauptstadtjahr passiert hatte und für eine Publikation im Magazin von „Graz 2003“ vorgesehen war. Als dann die ersten Texte eintrudelten, wurde das Projekt von der Programmintendanz 03 mit der Begründung „Niemand versteht das“ – gemeint ist wohl die spezifische Art des Humors – abgeblasen, wie einer Protestnote der GAV Steiermark zu entnehmen ist. „Diese Texte sind Dokument eines fortgesetzten Versagens. Mißverständnisse, Unbehagen, Einfallslosigkeit, die sich potenziert. Der Ansatz mag parodistisch anmuten, die schreckliche Wahrheit dahinter ist das schiere Unvermögen, miteinander auch nur annähernd poetisch zu kommunizieren. Wenn auch die eine oder andere (falsche) Perle darunter sein mag“, hatte Günter Eichberger in seinem Konzeptpapier selbstironisch angekündigt. Die Texte selbst sind an diversen Wirtshaustischen in unterschiedlichen Gruppenzusammensetzungen entstandene „Spontanpoesie“, Dialoge, (schlechte) Gedichte, in denen die Banalität – um mit Jörg Drews zu sprechen – schon wieder „genial“ ist, eine „Spenderliste“, in der Grazer Autor*innen durch das Organ, das sie spenden, charakterisiert sind, etc etc. Nachdem die Publikation unter dem neuen Titel „Nie wieder einsam. Grazer Gemeinschafts- und Verlegenheitstexte“ 2003 in der edition kürbis ebenfalls nicht zustande kam, liegen die „Perlen“ noch immer ungehoben im Vorlass-Archiv – wohl auch, weil die Banalisierungen auch intern nicht gleichermaßen jedermanns Sache zu sein scheinen, wie eine von Helwig Brunner angeregte Diskussion unter den GAV-Mitgliedern anlässlich der buchstäblich ins Wasser gefallenen Veranstaltung „Abdichten“ am Grazer Hilmteich 2008 zeigt, in der es um das Verhältnis von Text und Inszenierung geht und die Forderung nach „seriös[er]en“ Präsentationsformen, die den Fokus auf das „literarische Können“ legen, erhoben wird.
Gerade im Fall von „Abdichten“ – das ja vom individuellen „Dicht-Machen“, jeder Dichter ein Einzelner auf seinem eigenen Boot auf einem See aus Wörtern, bis zur orgiastischen dichterischen Sprachflut um eine leere Mitte, den (Hilm-)Teich, unterschiedlichste Assoziationen zwischen Abschottung, Entäußerung und Verdichtung zulässt –, gerade bei der im Eichberger-Vorlass erhaltenen „Abdichten“-Moderation handelt es sich um einen höchst elaborierten poetischen Text, der mit Wittgensteins Bedeutungs- und Namenstheorie in den „Philosophischen Untersuchungen“ einen sprachkritischen Befund notwendiger Vereinzelung, „Abdichtung“, formuliert und dies zugleich konterkariert, indem er gerade anhand einer Poesie der Autor*innennamen die Lesenden doch vorstellt. „Namen nennen, das geht, denn Namen nennen nichts. Namen kleben Schilder auf ihre Träger, bedeuten aber nichts. Welche Geltung auch immer ein Name erlangt. Von Namen lässt sich getrost sprechen, ohne etwas zu sagen.“ Dass „Abdichten“ aus der Leere kommt und ans Schweigen grenzt, lässt Eichbergers Text ganz unprätentiös und gerade darin kunstvoll erahnen.
Dass das Verhältnis von Einzeltext und Gemeinschaftsinszenierung ein labiles ist, das von Jahr zu Jahr neu austariert werden muss, dass in der steirischen GAV unterschiedliche Literaturbegriffe nebeneinander gleichwertig zum Ausdruck kommen, deren Heterogenität gerade angesichts der Präsentation innerhalb eines performativen Rahmens besonders auffällt, macht dieses jährliche Event, das den Veranstaltern zufolge „die Eventkultur mit ihren eigenen Mittel ad absurdum führen soll“, mit seinen durchaus aktuellen Themenstellungen – von der Bankenkrise über die Selbstoptimierung bis zur Selbstpreisung („Die GAV gibt sich die Ehre“, 2015) – über die Jahre so interessant. (Regie-)Konzepte und Moderationstexte sowie die Programme und einige wenige Zeitungsbesprechungen sind in den Vorlässen von Günter Eichberger und Willi Hengstler nachzulesen, ebenso die Textbeiträge von Hengstler selbst sowie einige weitere der großteils eigens für die Veranstaltungen verfassten Beiträge. Wobei allein die Moderationstexte Eichbergers, die die mitwirkenden Autor*innen durch die (Sprach-)Brille des jeweiligen Konzepts vorstellen und derartige Anmoderationen zugleich selbstreflexiv-poetisch unterlaufen, über die Jahre eine steirische GAV-Literaturgeschichte erzählen, die – wo sie gelingen – ironische Blitzlichter auf Autor, Thema und Text wirft. Schade, dass es bislang keine Publikation gibt, die die jeweiligen Konzepte, Moderationen und wenigstens ausgewählte Texte und Bildmaterialien zugänglich macht.
2022 gehen die GAV-Lesungen in ihr 22. Jahr. Wie prophetisch Literatur sein kann, zeigt sich, wenn man Wilhelm Hengstlers „Frischtext“ aus dem Jahr 2009 mit dem Titel „Aus der Chronik vom Ende der Welt. Der Untergang des Freien Marktes in drei Minuten“ nachliest, der in seiner satirischen Überzeichnung gewisse Argumente heutiger Impfskeptiker vorwegnimmt: „Das Material über die Pygmäengrippe liegt noch in den Tresoren der ‚Acumen‘. Wieviel Zeit brauchst du für die Fertigstellung des Impfstoffes? Wirrbichlers Einwand, dass die Pygmäengrippe bedeutungslos sei, entkräftete der dynamische Marktteilnehmer. Aggressive Angebotswirtschaft! Die Menschheit weiß nie, was sie braucht. Die nächsten eineinhalb Jahre, in denen sich die Partner um Unauffälligkeit bemühten, entwickelte Wirrbichler das Serum gegen die Pygmäenseuche und Ludwig Kowatsch kaufte über Mittelmänner die Aktien der „Pharma-Acumen“ zu Schleuderpreisen auf […] “

Daniela Bartens

 

GAV Steiermark

(Jahres-)Lesungen (Eichberger/Hengstler/Wanko)

2021 „Stallwärme“, Fachschule für Land- und Forstwirtschaft Grottenhof, 17.6.2021

2020 „Illusionen. Ein Abend im Kino ohne Film“, Rechbauerkino, 21.10.2020

2019 „Unter Tag“, Tiefgarage Andreas-Hofer-Platz, 27.6.2019

2018 „Do[n’t do] it! Selbstoptimierung“, Eingang Besucherzentrum Joanneumsviertelplatz, 27.6.2018

2017 „Blindflug“, Odilien-Institut, 21.6.2017

2016 „Verabschiedung. Grazer Autorinnen/Autorenversammlung (1973-2016)“, Feuerhalle Bestattung Graz, 30.6.2016

2015 „Die GAV gibt sich die Ehre“, Steinerner Saal des Landhauses, 25.6.2015

2014 „[a’patʃә]“, Hauptbahnhof Graz/Europaplatz, 25.6.2014

2013 „Im Wald stehen“, Karmeliterplatz, 26.6.2013

2012 „dunkel mit allen sinnen“, Literaturhaus Graz, 4.7.2012

2011 „Von Bank zu Bank. Literatur und Geld“, Start: Bankhaus Krentschker am Eisernen Tor, 30.6.2011

2010 „Why don’t we do it in the road“, Franz-Graf-Allee/Oper, 24.6.2010

2009 „Frischtext. Literatur am Marktplatz“, Kaiser-Josef-Platz, 4.7.2009 + „Marktzeitung“

2008 „Abdichten“, Hilmteich, 24.6.2008

„Von A bis Z. 35 Jahre GAV“, Minoritensaal, 29.2.2008 [Lesungen, Ausstellung] [Bundes-GAV; steirische Teilnehmer*innen: Dennig, Flor, Hengstler]

2007 „Sommernachtstraum“, Burggarten, 20.6.2007

2006 „Stimmen über Graz. Ein Literaturwandertag rund um den Schlossberg“, Schlossberg, 21.6.2006

2005 „Hautnah. GAV geht baden“, Wellenbad Gleisdorf, 4.7.2005

„4Handschreiben“. 12 Doppellesungen, Mediathek Graz, 2004 – 2005 [Publ. in: 4Handschreiben. Poetische Interaktionen. Hrsg. v. Günter Eichberger u. Wilhelm Hengstler. Weitra: Bibliothek der Provinz 2005]

2004 „Rosiger als Rosamunde. Ein Abend mit röhrenden Hirschen, blutenden Herzen und einem Himmel voller Hawaiigitarren“, Forum Stadtpark, 10.12.2004; im Forum-Programm unter dem Titel: „GAV: Kitsch-Text. Ein Wohlfühlabend?“

2003 „Wir wollen niemals auseinandergehen. Die große GAV-Revue“ [„Laufsteg“-Lesung anl. 30-Jahre-GAV], Literaturhaus Graz, 12.12.2003

„GAV: Double Feature“. 8 Doppelleseabende [darunter 1: Eichberger-Wanko, 18.9.2002; 7: Hengstler-Pollanz, 14.5.2003; 8: Bauer-Kolleritsch, 8.7.2003], Mediathek Graz, 9/2002-7/2003

2002 „Sofortreinigung. Neue Texte“, Kürbis Wies, 15.3.2002 [„Ken“-Buchpräsentation Wanko; 5 Minuten-Lesungen GAV]

„Lob der Xenophobie. Performance der GAV“, Kunsthaus Mürz, 13.11.2002 [Eichberger, Hengstler, Wanko, Wogrolly, Wolf]

2001 „Nie wieder einsam – Ein bunter Abend“, Theatro Graz, 2.10.2001