Ödön von Horváth: Typoskriptblatt mit handschriftlichen Korrekturen zu Kasimir und Karoline (1931/32)
veröffentlicht am 1. Januar 2020 in Objekt des Monats
I.N. 221.001/20 – BS 46 e [2], Bl. 13 (Nachlass Ödön von Horváth an der Wienbibliothek im Rathaus)
Kasimir und Karoline, so hält Ödön von Horváth in einem Briefentwurf fest, ist die „Ballade vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Braut mit der Ambition, eine Ballade voll stiller Trauer, gemildert durch Humor“ (ÖLA 3/W 241 – BS 64 a, Bl. 1). Das Volksstück entstand 1931/32 im Anschluss an die höchst erfolgreiche Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald und die Verleihung des Kleist-Preises im November 1931 an Horváth. Fertiggestellt Mitte 1932, wurde es im November 1932 in Leipzig und Berlin uraufgeführt. Die Handlung ist schnell, fast beiläufig erzählt: Der Chauffeur Kasimir wird „abgebaut“, also entlassen, begleitet aber doch seine Freundin Karoline aufs Oktoberfest. Dort entzweien sich die beiden. Karoline begegnet zunächst dem Zuschneider Schürzinger, versucht dann, mit der „besseren“ Gesellschaft in Gestalt des Kommerzienrats Rauch in Kontakt zu kommen, endet dann aber doch mit Schürzinger. Kasimir wiederum versinkt zuerst im Selbstmitleid und wird dann beinahe zum Komplizen seines Freundes Merkl Franz, der Autoeinbrüche begeht. Als dieser verhaftet wird, bleibt Kasimir mit dessen Freundin Erna zurück. Eine letzte Begegnung Kasimirs und Karolines besiegelt die Trennung und die Bildung der beiden neuen Paare.
In 117 Szenen entfaltet Kasimir und Karoline eine „Karusselldramaturgie“ (Volker Klotz), deren Fluchtgeschwindigkeit die Protagonisten ebenso sehr auseinanderzutreiben scheint wie die ökonomischen Verhältnisse. Weniger die bezwingende Fabel, sondern mehr Atmosphäre und Flair des Oktoberfestes in der Weltwirtschaftskrise, zwischen Fahrgeschäft, „Abnormitätenbude“ und Bierzelt machen die Qualität dieses Volksstücks aus. Arbeitslosigkeit und Reichtum, Mann-Sein und Frau-Sein, Liebe und Entzweiung, Macht und Ohnmacht sind die komplexen Themen, die an dieser einfachen Geschichte und in typischem Horváth-sound aufgemacht werden.
Ähnlich rasant und getrieben wie das Szenengefüge von Kasimir und Karoline erweist sich die Genese des Stückes. Diese stellt sich als dichte Folge immer neuer Ansätze dar, in denen Horváth seinen Text wieder und wieder minutiös überarbeitet, Textsegmente abschneidet, neutippt und anderswo anklebt – ein Verfahren des cut-and-paste, das auch die Entstehung anderer Stücke kennzeichnet.
Das hier gezeigte Blatt BS 46 e [2], Bl. 13 wurde aus drei verschiedenen Blattteilen montiert und mehrfach intensiv überarbeitet. Es stammt aus der Arbeit an der ersten vollständigen Fassung des Stückes in sieben Bildern und enthält Text, der später in den Szenen 60–62 verwendet wird: Kasimir, der Merkl Franz und Erna sitzen beim „Wagnerbräu“ mit einer „festlichen Blasmusikkapelle“. Inmitten der allgemeinen Bierseligkeit zerfließt Kasimir in seinem Selbstmitleid. Wie viele von Horváths Männerfiguren leidet er, als prototypischer „kleiner Mann“, an einer nagenden Unsicherheit sich selbst und den Frauen gegenüber: „Überhaupt sind alle Weiber minderwertige Subjekte“, ätzt er, und mokiert sich, als Arbeiter, über die „Büroangestellte“ Karoline, die sich seiner Meinung nach für etwas Besseres hält. Hier überlagert sich der geschlechtliche Antagonismus mit einem sozioökonomischen, da Frauen vor allem in der neuen Berufsgruppe der Angestellten Arbeit fanden, die sich aber, trotz oft miserabler Bezahlung, als Angehörige des Mittelstands verstanden und damit zumindest symbolisch den Arbeitern überlegen fühlten. Dieses Thema greift Horváth wiederholt auf, explizit etwa in der Erzählung Das Fräulein wird bekehrt, die 1929 in der einflussreichen, von Hermann Kesten herausgegebenen Sammlung 24 neue deutsche Erzähler erschienen ist.
Um diese sozioökonomische Verwerfung sogleich symbolisch wieder aufzufangen, singt die Bierzeltgesellschaft dann das von Schubert vertonte Jägers Liebeslied: „Und dennoch hab ich harter Mann / die Liebe schon gespürt“. Im archaischen Beigeschmack dieses zu Kitsch gewordenen Textes, der feste gesellschaftliche Rollen und Geschlechtsidentitäten verheißt, versucht sich der arbeitslose Chauffeur Kasimir wiederzufinden. Der Text dazu, in dem Kasimir Plattitüden zur Liebe und zum Verhältnis der Geschlechter anhäuft, entsteht in der handschriftlichen Einfügung neben dem Liedtext. „Adam und Eva! Ich scheiß dir was auf den Kontakt –“, lautet seine Conclusio in der Endfassung dieser Passage. Sie bringt die völlige Entfremdung der Geschlechter in Horváths Werk auf den Punkt.
Nicole Streitler-Kastberger / Martin Vejvar
Das vorgestellte Typoskriptblatt ist auch Teil der von den VerfasserInnen kuratierten Ausstellung „‚Ich denke ja gar nichts, ich sage es ja nur‘ – Ödön von Horváth und das Theater“, die von 10.1.–23.3.2020 im Literaturhaus Graz zu sehen ist.