Der riesige rote Lesesessel

Objekt des Monats: November 2023

„Plötzlich war ich für Augenblicke Teil einer Welt, in der alles möglich war.“  – der riesige rote Lesesessel, in dessen Polstern man wieder Kind sein darf, begleitet bookolino – Das Literaturfestival für junges Publikum durch 20 Jahre.

Fotos des bookolino-Lesesessels mit kleinen und großen Besucher*innen über die Jahre, bookolino-Programmcover aus den Jahren 2003, 2013, 2016, 2022 mit bookolino-Leseclown und bookolino-„Figürchen“, Bettina Deutsch-Dabernig bei bookolino 2004 in der Lesewanne und mit bookolino-Gründerin Riki Erwa-Winter

Als das Literaturhaus gegründet wurde, dachte man in Graz nicht nur an Literatur für Erwachsene, sondern sofort auch an eine „Programmschiene zu Kinder- und Jugendliteratur“. Schon 2002 entwickelten Luise Kloos von Next – Verein für bildende Kunst, Riki Erwa-Winter und Roswitha Schipfer von den Grazer Stadtbibliotheken außerdem das Konzept für eine „Kinder- und Jugendbuchmesse“, für die das Literaturhaus Graz als geeigneter Ort erschien, und die im Kulturhauptstadtjahr 2003, in dem das Literaturhaus eröffnet wurde, starten sollte.[1]

Bereits im Rahmen des Eröffnungsprogramms des Literaturhaus Graz gab es am 10. Mai 2003 beim „Offenen Haus“ Lesungen von Christine Nöstlinger und Jutta Richter, die auch junge und jüngste Leser*innen ansprachen.[2] Die ersten Veranstaltungen in der Reihe bookolino, wie die speziell für Kinder und Jugendliche konzipierte Veranstaltungsreihe fortan heißen sollte, fanden am 12. Juni statt: Linda Wolfsgruber und Martin Auer leiteten einen Workshop und lasen vor. Und vom 26. bis zum 29. November 2003 wurde zum ersten Mal bookolino, die „kinder-und jugendbuchmesse“ im Literaturhaus Graz abgehalten,[3] die im ersten Jahr bereits ca. 750 Besucher*innen verzeichnen konnte. Sie war als Treffpunkt für Bibliothekare, Buchhändler, Verleger und Kulturvermittler geplant, sollte mit einer Buchausstellung über die derzeitige Kinder- und Jugendliteratur und deren aktuelle Themen informieren und die Lesefreudigkeit bei Kindern und Jugendlichen durch „Lesungen, Workshops, Theater, Musik und Bilderbuchkino“ mit Autor*innen und Illustrator*innen stärken. Die „Lust am Lesen“ stand im Mittelpunkt: „Angreifen, anschauen, schmökern ist erwünscht.“[4] Zudem fand ein Symposium statt, das „der zunehmend intensiven Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit Kinder- und Jugendliteratur ein Podium bieten“ sollte[5] und sich v.a. an Pädagog*innen, Vermittler*innen und Literaturwissenschafter*innen richtete.

Was aber erweckt Leselust bei den Kleinsten? Das „Angreifen, Anschauen, Schmökern“ eben: bookolino – so lautete nicht nur der Name der Veranstaltungsreihe, sondern auch der Name des Leseclowns, der die ersten zehn Jahre durch die Programmhefte hüpfte – und der animierte die Kinder zum Lesen. Im ersten Heft schon lud er die Jüngsten ein, sich auf ein Leseabenteuer einzulassen: „ich muss euch sagen, ich hab mir da schon einen ganz schönen platz zum wohnen gesucht, ich bin seit kurzem im neuen literaturhaus eingezogen. hier kann ich endlich nach lust und laune lesen, alles was ich will.“[6]

Dieser „ganz schöne Platz“, in dem nach Lust und Laune gelesen werden konnte, wollte natürlich auch gestaltet werden. Für die Gestaltung der Ausstellungs- und Lesezimmerräume, in denen die Jahresproduktion der Verlage sowie Klassiker zu einem bestimmten Thema und ab 2004 auch die Illustrationen aus den Preisträgerbüchern des Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreises gezeigt wurden, zeichnete die ersten zehn Jahre lang die Bühnenbildnerin Verena Wagner verantwortlich, die auch den kleinen bookolino-Leseclown entworfen hatte. Den Ausstellungsaufbau übernahm MITLOIDLODERCO, ab 2010 übernahm Anna Schwinger von MITLOIDLODERCO auch die Ausstellungsgestaltung. Da gab es u.a. Bücher- und Blätterwälder, Lesewiesen, Zugabteile und Flugzeuge, ein Lesebad, Großstadt- und Lesedschungel, ein Astrid-Lindgren-Land, eine Ritterburg und Irrgärten, eine Lesehöhle für kleine und große Helden, einen Demo-Raum, ein begehbares Kreuzworträtsel und ein Spiegelkabinett.

Was natürlich auch nicht fehlen durfte, war ein Lesesessel, in dem selbst gelesen oder aus dem heraus vorgelesen werden konnte. Aber nicht nur gemütlich groß sollte der sein, sondern so groß, dass man selbst wieder klein werden kann, oder, wie Bettina Deutsch-Dabernig, Leiterin der Ausstellungen im Kindermuseum FRida & freD, es in der Publikation zum 20-jährigen Jubiläum des Literaturhaus Graz ausdrückt:

Der Lesesessel ist groß. So groß, dass ich meine Beine ganz ausstrecken kann. Nicht nur gemütlich groß, sondern so groß, dass er scheinbar ruft: Schaut her, hier wird gelesen! Die Kinder um mich herum werden immer aufgeregter. Sie tragen viel zu große Bademäntel und suchen aufgeregt in Duschvorhängen nach Lesestoff. Neugierig legen sie sich damit in eine Badewanne voll mit Büchern. Das gibt es nur bei bookolino 2004![7]

Der bookolino-Lesesessel wurde extra für bookolino entworfen und gebaut. Auf der Plakette unterhalb der Sitzfläche sind Name und Adresse der Tischlerei, die den Sessel hergestellt hat, eingraviert: „Tischlerei Albin Grill jun., 3522 Gross St. Florian, Tel. 03464 -2301“. Der Sessel erfreute sich über die Jahre hindurch einer ganz eigenen Anziehungskraft und Beliebtheit, und das nicht nur bei den Kindern, die ihn erklommen, auf ihm lasen oder herumtobten. Auch Autor*innen und Illustrator*innen nutzten ihn für Lesungen und Bilderbuchkino oder ließen gerne auch außerhalb des Programms die Beine baumeln und fühlten sich in die eigene Kindheit zurückversetzt.

Das beschreibt Renate Welsh, die mit Veranstaltungen zu Dieda oder das fremde Kind (Obelisk 2002) bookolino 2003 eröffnete und über die Jahre hinweg immer wieder bei bookolino, in der Reihe Junges Literaturhaus und beim Abendprogramm, zuletzt am 6. Juni 2023 mit Ich ohne Worte (Czernin 2023), im Literaturhaus Graz zu Gast war, so:

Wenn ich an bookolino denke, sehe ich den riesigen roten Sessel vor mir, auf den ich geklettert bin, auf dem ich mit Baumelbeinen sitzen konnte wie vor vielen Jahren als kleines Mäderl, und plötzlich war ich für Augenblicke Teil einer Welt, in der alles möglich war. bookolino war weit mehr als eine perfekt gemachte Ausstellung von Kinderbüchern, die zum Lesen einlud, es war eine Einladung, wo alle sich wirklich willkommen fühlten, nicht als irgendwer x-beliebiger, sondern als genau die, für die diese wunderbare Welt geschaffen worden war.[8]

Diese Einladung an Kinder und Jugendliche, Autor*innen und Illustrator*innen, aber ebenso an Pädagog*innen und die Literaturwissenschaft, die sich mit dem Kinder- und Jugendbuch beschäftigt, sprach von 2003 bis 2015 Riki Erwa-Winter mit ihrem Team aus, die für die Kinder und Jugendlichen „Literatur ‚live’“[9] erfahrbar machen wollte. Der bookolino-Leseclown veränderte sich 2013 in ein neues bookolino-„Figürchen“, ein lesendes Buchstabenmännchen, ein kleines B mit Gesicht im oberen Teil des B und einem B-Bauch unten, das Ralf Nietmann gestaltet hatte. Als 2016 mit Riki Erwa-Winters Übertritt in den Ruhestand Stephanie Liebmann unter Mithilfe von Elisabeth Loibner die Organisation von bookolino übernahm, bekam auch das Programmheft ein neues Design. An die Stelle des Buchstaben-Männchens, das durchs Programm führte, trat die Cover-Illustration eines zumeist noch nicht allzu bekannten Illustrators oder einer Illustratorin, die dadurch in ihrer Laufbahn gefördert werden sollten. Das Cover wird seitdem jedes Jahr zum jeweiligen Thema von bookolino ganz individuell gestaltet, Leseclown gibt es keinen mehr. Dafür fliegt dieses Jahr ein von Tessa Sima gezeichneter Papierflieger übers bookolino-Cover und ein Papiertiger mit uns durch die Ausstellungsräume.

Im Jubiläumsjahr 2023 steht bookolino nämlich unter dem Motto „Papiertiger, flieg! Ab in die Ferne!“. Zusätzlich zur Buch- und Illustrationsausstellung findet in den nächsten drei Jahren eine Mitmachausstellung statt. Diese widmet sich den „Stoffen des Schreibens“, in diesem ersten Jahr dem Thema „Papier und Papierkunst“. Denn Geschichten entstehen nicht nur im Kopf. Papier und seine Vorläufer haben es ermöglicht, dass wir heute so viele Geschichten kennen und sie einander vorlesen können. Der Papiertiger, den Ausstellungsgestalter Peter Karlhuber, der dieses Jahr zum ersten Mal die bookolino-Räume gestalten wird, liebevoll hergestellt hat, fliegt also mit uns davon. Er nimmt uns mit auf eine Reise ins alte China von den Anfängen der Papierkunst bis zu den heutigen Herstellungs- und Recyclingverfahren von Papier.

Eine Konstante in der bookolino-Geschichte über die letzten 20 Jahre bildet der Lesesessel. Zum 5-jährigen Jubiläum 2007, ganz im Zeichen des 100. Geburtstags von Astrid Lindgren, stand der Sessel zum Beispiel in der Villa Kunterbunt. In der Fotogalerie findet man den so „verkleideten“ Sessel und einige der Gäste, die über die Jahre hinweg den Sessel „besessen“ haben.

Eine weitere Konstante bilden die Autor*innen, Illustrator*innen und Theaterleute, die jedes Jahr im Literaturhaus zu Gast sind und bookolino erst zu dem machen, was es ist, nämlich ein Lesefest für Kinder, bei dem sie nicht nur hautnah erleben können, was es bedeutet, ein Buch zu lesen, sondern auch, was es bedeutet, eines zu schreiben oder zu illustrieren. Ich freue mich, dass ich seit 2021 bookolino organisieren und im Jubiläumsjahr 2023 Autor*innen wie Michael Hammerschmid, Kirstin Schwab und Illustrator*innen wie Tessa Sima und Nini Spagl einladen darf, die noch nie bei bookolino zu Gast waren, aber auch Autor*innen wie Heinz Janisch (der zum 10-jährigen Jubiläum das Gedicht für die Publikation Kommt ein Boot, das in 11 Bilder und 22 Sprachen übersetzt wurde, geschrieben hat), Bart Moeyaert, Arne Rautenberg, Irmgard Kramer und Illustrator*innen wie Linda Wolfsgruber und Julie Völk, die schon in früheren Jahren bei bookolino die Kinder ins Reich der Literatur entführten.

Irene Hetzenauer

[1] Vgl. Luise Kloos und Riki Winter: Ansuchen um Projektförderung Kinder- und Jugendbuchmesse im Literaturhaus Graz, Graz: 2002, S. 1.

[2] Vgl. Gerhard Melzer (Hg.): literatur h aus graz. Ein Bilderbuch 2003-2005. Wien: Sonderzahl 2006, S. 49.

[3] Vgl. ebda., S. 234 f.

[4] Literaturhaus Graz (Hg.): Programm bookolino 2003, Graz: 2003.

[5] Riki Erwa-Winter: bookolino Kinder- und Jugendbuchmesse 2003 Literaturhaus Graz 26.11.2003 – 29.11.2003, Graz: 2003.

[6] Literaturhaus Graz (Hg.): Programm bookolino 2003, Graz: 2003.

[7] Bettina Deutsch-Dabernig: o.T. In: Graz: Momente der Literatur. Hrsg. von Literaturhaus Graz. Wien: Lehner 2023, S. 72.

[8] Renate Welsh: o.T. In: Ebda., S. 75.

[9] Vgl. Literaturhaus Graz (Hg.): Programm bookolino 2004, Graz 2004.

veröffentlicht am 18. Oktober 2023 in Objekt des Monats