Schreiben unter der Käseglocke. Clemens Setz und das Paradox der Grazer Avantgarde
veröffentlicht am 1. September 2020 in Objekt des Monats
Das in Auszügen vorliegende Interview (Transkription siehe Seitenende) entstand 2009 im Rahmen eines Proseminars zur neuesten Grazer Literatur am Franz-Nabl-Institut. Vortragender war Gerhard Fuchs. Die Studierenden waren dazu angehalten, direkt in Kontakt mit in Graz lebenden Autoren zu treten, um mit ihnen über ihre Texte, Graz und den Literaturbetrieb zu sprechen. Neben den Romanen von Clemens Setz widmete sich die Lehrveranstaltung unter anderem auch Texten von Stefan Schmitzer, Gerhild Steinbuch, Georg Petz und Olga Flor. Das Gespräch zwischen der damaligen Studentin Christa Oberndorfer und Clemens Setz, das am 4. November 2009 im ehemaligen Café Ritter in der Rittergasse in Graz aufgenommen wurde, dauert in voller Länge in etwa 75 Minuten.
Dass der Ruf der Stadt Graz als „heimlicher Hauptstadt der deutschen Literatur“ bis heute nicht zur Gänze verklungen ist, liegt an vielen Dingen. Ein neuer Film zur Grazer Gruppe von Markus Mörth und das 2019 am Franz-Nabl-Institut abgehaltene Symposion Graz 2000+. Neues aus der Hauptstadt der Literatur zeugen zumindest davon, dass der Mythos der „Grazer, die auszogen, die Literatur zu erobern“ fest im Selbstverständnis der Grazer Literatur und ihrer sogenannten Szene verankert ist. Was heute gilt, galt auch schon 2009. Der Ruf mag damals vielleicht sogar wieder lauter erklungen sein. So waren wieder einige junge Autoren und Autorinnen aus Graz, die sich in und um die offene Literaturgruppe plattform zusammengetan hatten, im Begriff einen Eroberungszug durch die deutschsprachige Literatur anzutreten (vgl. dazu auch das „Objekt des Monats“ von Gerhard Fuchs: Volume 1. 10 Jahre Plattform. Eine Anthologie). Unter ihnen auch der damals 27-jährige Clemens J. Setz, der 2009 gerade seinen zweiten, für den deutschen Buchpreis nominierten Roman Die Frequenzen veröffentlicht hatte und im Jahr davor beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet worden war. Die Karriere des jungen Autors begann zu dieser Zeit gerade Fahrt aufzunehmen – 2011 sollten mit seinem Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes dann der Wechsel zu Suhrkamp und der Preis der Leipziger Buchmesse folgen.
In eben jener Schwellensituation fängt das vorliegende Interview den jungen Autor ein. Sichtlich geschmeichelt von dem Umstand, dass jemand eine Seminararbeit über ihn schreiben will, spricht Setz, damals selbst noch Student, ausgiebig über seinen Roman Die Frequenzen, über den zweifelhaften Wunsch, berühmt zu werden, und – wohl der Schwerpunktsetzung der dem Interview zugrundeliegenden Lehrveranstaltung geschuldet – über sein Verhältnis zur Stadt Graz und zur Grazer Literatur. Dieses Verhältnis kann in mehrfacher Hinsicht als ambivalent beschrieben werden. So spricht Setz von einem „komischen Paradoxon“, in dem sich junge Grazer Autor*innen zwangsläufig wiederfinden, dem Paradoxon einer zur Tradition gewordenen Avantgarde. „Egal was du machst, du wirst nie als höchst originell angesehen werden, weil das höchst Originelle für dich behaftet ist mit Traditionellem“, beschreibt Setz die Situation als Zirkelschluss. Er sagt sich somit los von dieser literarischen Tradition, die er vorwiegend als „sprachzertrümmerisch oder sprachexperimentell“ wahrnimmt, und reiht sich doch wieder in sie ein, indem er nicht aufgreift, was vor ihm war. Der Autor gefangen im Paradox – der Zirkel setzt sich fort.
Die Last, die für den jungen Autor Setz offenbar von dieser Tradition und ihrer Omnipräsenz in Graz ausgeht, wird im Gespräch offensichtlich. So plädiert er für eine Außenperspektive, einen „Reality Check“ anderswo, um dem Erstickungstod in Graz, dieser „Sauna ohne Aufguss“, zu entgehen. Setz ist jedoch bekanntermaßen in Graz geblieben. Während viele andere steirische Autor*innen wie auch etliche plattform-Kolleg*innen mit ihrem einsetzenden Erfolg Graz verlassen haben, wohnt und arbeitet Setz noch heute in Graz. Und auch seine Texte sind, wenn nicht nach literarischer Tradition, so doch inhaltlich der Stadt verhaftet. Graz bildet den Handlungsraum seiner Romane und auch vieler Erzählungen und erweist sich gerade als „dumme mittelgroße Zwischendingstadt“ (Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, S. 58) als der ideale Schauplatz für Setz’ Prosa. Dabei erscheint Graz in den Romanen Setz’ eher als generische Kleinstadt und nicht als heimliche Metropole mit geschichtsträchtiger Vergangenheit. Als nahezu ahistorischer Raum, als den der Autor es beschreibt, bietet Graz trotz aller faktischer Anbindung genügend Platz für Setz’ komplexe und zum Teil mit Phantastischem und Science-Fiction-Elementen gefüllte Erzählwelten und literarische Versuchsanordnungen, für eigene Stories und Historien.
So begibt sich Setz in Traditionslinien, die über Österreich und Graz hinausreichen. Er nennt im Interview selbst David Foster Wallace, mit dessen (post-)postmodernen Romanen Setz’ Frequenzen vor allem aufgrund seiner narrativen Struktur mehrfach in Verbindung gebracht wurde und dessen Beschreibungen amerikanischer Kleinstädte durchaus Parallelen zu Setz’ literarischem Graz aufweisen. An anderer Stelle verweist Setz auch auf Autoren wie James Ellroy und Philip K. Dick als Vorbilder und spricht sich für die Aufwertung des Phantastischen auch in der deutschsprachigen Literatur aus. Gerade dem jungen, „plotgesteuerten“ Romanautor Setz scheinen weniger formalistische, vor allem in der angloamerikanischen Literatur vertretene Schreibweisen näher als die von ihm beschriebene Grazer Tradition der Sprachkritik. An Vorbildern mangelt es hierbei nicht. Der Vielleser Setz verweist in Interviews wie auch in seinen Texten immer wieder selbst auf sie, auf so unterschiedliche Autoren und Autorinnen wie Thomas Pynchon, Ernst Jandl, Daniel Kehlmann, Franz Kafka, Elfriede Jelinek, Chris Ware, Gertrude Stein, Edward Gorey, Kōbō Abe oder Haruki Murakami. Die Liste ließe sich seitenweise fortsetzen und zeigt, dass nicht von einer Tradition die Rede sein kein, der Setz’ Literatur allein verhaftet ist. Dafür ist sein Werk – von der dadaistisch anmutenden Twitter-Poesie bis zur weird fiction seiner Erzählbände – zu vielseitig, zu heterogen. Und vielleicht hat der Autor gerade darin wieder etwas mit der sogenannten Grazer Avantgarde gemein.
David J. Wimmer
Im Rahmen von Out of Joint – Das Literaturfestival im steirischen herbst hält Clemens Setz unter dem Titel Wie man zu Lebzeiten fiktiv wird am 6. Oktober im Literaturhaus Graz den Eröffnungsvortrag zu Philip K. Dick und seinem Roman Time out of Joint. Am 29. Oktober liest der Autor im Literaturhaus aus seinem neuen Band Die Bienen und das Unsichtbare über Plansprachen wie Esperanto, Volapük oder Blissymbolics.