Stifters Stifterlegende

Ein wiederentdecktes Autograph (?) von „Das Freudenfest am Trauerdenkmahle“ (1824). (7 Bl., 24,5 x 20 cm, FNI-Grün, o. Sign.)

 

Adalbert Stifters Frühwerk Das Freudenfest am Trauerdenkmahle entstand während seiner Gymnasialzeit im Rahmen eines internen Wettbewerbs am Ende des Schuljahres 1823/24 und wurde bei der Promulgation im August als prämierte Arbeit von seinem achtzehnjährigen Verfasser – so heißt es am Titelblatt der vorliegenden Handschrift – „nach der feierlichen Preise-Vertheilung öffentlich vorgetragen“[1]. Die poetische Adaption des Kremsmünsterer Gründungsmythos war in Auszügen bereits der frühesten Forschung bekannt. Denn der gereimte Mittelteil der Arbeit, die in 30 Strophen wiedergegebene ‚Gunthersage‘ um den Tod des Sohns von Herzog Tassilo und die Gründung des Klosters, findet sich schon im zweiten Band der ersten Werkausgabe, die Stifters Nachlassverwalter Johannes Aprent 1869 besorgte – wenn auch auf Basis einer unzulänglichen Abschrift und mit umfangreichen editorischen Eingriffen.[2] Erstmals vollständig mit Prolog und Epilog ediert wurde eine überarbeitete eigenhändige Fassung des Gedichts 1937 von Stifters Landsmann Heinrich Micko (1899-1969).[3] Die bislang ausführlichste Würdigung fand das Jugendgedicht, das die enge Bindung des Dichters an das Stift belegt, durch den Kremsmünsterer Konventualen und Stifter-Experten P. Konrad Kienesberger (1929-1998) im Gedenkjahr 1968.[4] In der Forschung wurde es in den folgenden Jahrzehnten dennoch kaum mehr berücksichtigt oder unzulänglich bzw. völlig falsch charakterisiert.[5] Erst in jüngster Zeit hat es wieder (überschaubare) wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden.[6] Allerdings werden sich angesichts neuer Quellenfunde nun auch die Herausgeber:innen des Lyrik-Bands der aktuellen Historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters bei der Edition des Freudenfests am Trauerdenkmahle einigen philologischen Herausforderungen zu stellen haben.

Zur Provenienz

Die Handschrift im Archiv des Franz-Nabl-Instituts kam – wie ein Eintrag vom 10. Mai 1887 auf der vorderen Umschlaginnenseite ausweist – in den Besitz des (späteren) Ordinarius für Sprache und Literatur, Bernhard Seuffert (1853-1938), als Geschenk seines Kollegen Ludwig Graff de Pancsova (1851-1938), Ordinarius für Zoologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Wie der international renommierte Forscher und spätere Rektor Graff seinerseits in den Besitz des Heftchens kam, ist nicht überliefert. Dass es aus dem Umfeld des Gymnasiasten Stifter stammt, machen schon Papier, Format, Schriftduktus und der zweifärbige Wachstuchumschlag klar, finden sich doch viele ähnlich gebundene Reinschriften von Prämiengedichten dieser Zeit im Stiftsarchiv Kremsmünster.[7] Außen vorne auf hellblauem Untergrund verweist – neben dem blindgeprägten Besitznachweis „Dr. B. Seuffert“ – eine handschriftliche Notiz auf Heinrich Reitzenbecks (1812-1893) frühe biographische Skizze über seinen Freund und Förderer in einem Prager Jahrbuch („A. Stifter s. Libussa f. 1853, p. 322/323. (Prag)“), die den Entstehungskontext des Gedichts erstmals umreißt.[8] Auf der orangen Umschlaginnenseite ist (von anderer Hand) die datierte Widmung des Schenkers („Seinem lieben Collegen Seuffert z[ur] f[reundlichen] E[rinnerung] an LvGraff“) eingetragen.

Autograph oder Abschrift von anderer Hand?

Seuffert selbst, einer der führenden Literaturwissenschaftler seiner Zeit und Experte für die Weimarer Klassik, äußerte sich selbst nie wissenschaftlich zu diesem frühen Stifter-Gedicht, auch wenn er mit seinem ehemaligen Grazer Kollegen August Sauer (1855-1926), dem in Prag als Ordinarius und Rektor wirkenden Initiator der ersten historisch-kritischen Stifter-Ausgabe (Prag-Reichenberger-Ausgabe, 1901-1979), in regem Austausch stand.[9] So blieb das Heft im Quartformat der Forschung zunächst unbekannt. Nach dem Tod seines Vaters schlug Burkhard Seuffert (1894-1972), Landesarchivar und (zur Zeit des Dritten Reichs) Außerordentlicher Professor für Historische Hilfswissenschaften, dem Linzer Landesarchiv einen Tausch vor (womit ist nicht bekannt). Doch dessen Direktor Ignaz Zibermayr (1878-1966) wollte sich bei der graphologischen Untersuchung der Handschrift nicht festlegen – auch wenn seines Erachtens „der Zug des Namens auf dem Titelblatt“ der in Alois Raimund Heins Monographie (1904) wiedergegebenen Unterschrift Stifters „auffällig“[10] ähnelt – und retournierte sie. Ein weiteres, beim befreundeten Stifter-Herausgeber Gustav Wilhelm (1869-1949) erbetenes Gutachten bestätigte dagegen die Echtheit des Autographs. Der aus Graz stammende Philologe, damals der beste Kenner des Werks und als Herausgeber u. a. der Brief-Bände der Prag-Reichenberger-Ausgabe mit Stifters Schreibgewohnheiten bestens vertraut, meinte 1940 brieflich nach „der endgültigen Durchsicht der mir vorliegenden 3 Handschriften des Gedichts“:

Ich bin auf Grund der durchgeführten Vergleichung der Schrift mit Handschriften Stifters aus der späteren Zeit – gleichzeitig[e] sind nicht vorhanden – trotz mancher Verschiedenheiten zur Überzeugung gekommen, daß Ihr „Freudenfest“ von Stifter selbst geschrieben ist, nicht aber die auch für ein Original gehaltene Handschrift der Linzer städtischen Sammlungen.[11]

Die dritte Handschrift, die Wilhelm zur Verfügung stand, war „eine unstreitig spätere Fassung in der Gedichtsammlung des Obermagistratsrates Lorenz (Wien) […], die aus dem Nachlaß des mit Stifter befreundeten Dr. Mugerauer stammt.“[12] Diese Fassung, die bereits Micko 1937 ediert hatte, sollte auch in den XXV. Band der Prag-Reichenberger Ausgabe einfließen, der allerdings erst lange nach Wilhelms Tod – 1979 – in den Druck gelangte. Seufferts Manuskript ging postalisch zurück nach Graz und wurde schließlich – wie andere bestandsfremde Archivalien auch – in derselben historistischen Eisentruhe deponiert, die den Anastasius Grün-Teilnachlass enthielt (vgl. Objekt des Monats 01/2022). Nach einer Vermappung (vermutlich in den 1950ern) ohne entsprechende Verzeichnung harrte es dort seiner Wiederentdeckung, die erst 2021 nach der Transferierung des Grün-Nachlasses vom Germanistik-Institut der Universität Graz an das Franz-Nabl-Institut erfolgte.

Zur Quellenlage von Das Freudenfest am Trauerdenkmahle

Nur zweimal wurde bislang die vorliegende Handschrift in der Stifter-Forschung erwähnt: Moriz Enzinger (1871-1975), der sie noch zu Bernhard Seufferts Lebzeiten einsah, hielt sie für „eine Abschrift, wohl kaum von Stifters Hand, vielleicht aber älter als die für Mugerauer“;[13] Kienesberger wiederum bezieht sich auf diese Fußnote Enzingers, ohne das Manuskript zu kennen.[14] Er selbst hatte im Kremsmünsterer Stiftsarchiv eine Reinschrift des Gedichts entdeckt, die mit der lateinischen Prunkrede des Klassenprimus Karl Mayrhofer (1806-1853) in einem Heft vereint war und als Basis seiner Edition diente, mit den „Lesarten der Mugerauer-Handschrift nach Mickos Ausgabe“[15] im kritischen Apparat. Als Daniel Ehrmann vor einigen Jahren eine weitere Reinschrift (mit „sehr auffällig gestaltete[m] Titelblatt“[16]) im Stiftsarchiv Kremsmünster fand, ging er von drei bekannten Textzeugen aus: neben seinem Fund noch Kienesbergers Referenzquelle und Stifters eigenhändige Sammlung für seinen Jugendfreund Anton Mugerauer (1804-1889) aus den frühen 1830er Jahren, die Otto Lorenz dem Archiv der Adalbert-Stifter-Gesellschaft Wien vermacht hatte und die 2018 vom Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich übernommen wurde.[17] Es sind freilich nicht die einzigen Quellen aus Stifters Tagen, von denen die Forschung Kenntnis hat. Neben den beiden bereits genannten konnte der Verfasser in den Kremsmünsterer Beständen inzwischen eine dritte Abschrift von 1824 (mit auffällig schlichtem Titelblatt) ausfindig machen; dazu kommen noch die von Wilhelm genannte „Handschrift der Linzer städtischen Sammlungen“ sowie die von Johannes Aprent verwendete „Abschrift […], in der Fehler jeder Art aufeinandergehäuft sind“[18]. Nicht berücksichtig werden müssen bei einer kritischen Edition die beiden später entstandenen Abschriften des Mugerauer-Konvoluts von Philipp Stifter und Josef Bindtner.[19] Ob sich hinter der stark normierten kalligraphischen Schulschrift des Exemplars aus der Anastasius Grün-Truhe ein Stifter-Autograph verbirgt, werden weitere Schriftvergleiche weisen. Es wäre das älteste erhaltene Autograph eines literarischen Werks des großen Erzählers.

Christian Neuhuber

 

[1] Manuskript von Stifters Das Freudenfest am Trauerdenkmahle, FNI-Grün, o. Sign. In ähnlicher Formulierung dann auch in Stifters Brief an Leo Tepe vom 26.12.1867: „Wessen Arbeit die beste sei, der dürfe sie dann öffentlich nach der Preisvertheilung vortragen.“ (Adalbert Stifter: Sämmtliche Werke. 22. Bd.: Briefwechsel. Bd. 6. Hg. von Gustav Wilhelm. Mit dem Bilde Adalbert Stifters. Reichenberg: Sudetendeutscher Verlag Franz Kraus 1931, S. 181.

[2] Adalbert Stifter: Erzählungen. Gesammelt und dem Nachlasse entnommen, hg. von Johannes Aprent. Bd. 2. Pest: Heckenast 1869, 299-303. Zum Entstehungskontext vgl. auch Adalbert Stifter: Briefe. Hg. von Johannes Aprent. Bd. 1. Pest: Heckenast 1969, S. XXIV.

[3] Heinrich Micko (Hg.): Adalbert Stifters früheste Dichtungen. Zum erstenmale herausgegeben. Mit zwei Faksimilien. Prag: Gesellschaft deutscher Bücherfreunde in Böhmen 1937.

[4] Konrad Kienesberger, OSB: Adalbert Stifters Jugendgedicht „Das Freudenfest am Trauerdenkmahle“. Ein Beitrag zum 100. Todestag des Dichters am 28. Jänner 1968. In: Jahresbericht des Öffentlichen Gymnasiums der Benediktiner zu Kremsmünster 111 (1968) [Sonderdruck], S. 51-74.

[5] Vgl. etwa Ursula Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart: Metzler 1974 (= Sammlung Metzler 186), die von einer Entstehung „dieses in Hexametern [!] verfaßten Schulgedichtes“ für die „1000-Jahr-Feier des Benediktiner-Stiftes Kremsmünster [!]“ (S. 81) schwadroniert.

[6] Vgl. Daniel Ehrmann: Stifter und Stiftsschüler. Poesie, Pädagogik und Politik im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 24 (2017), S. 85-103; Paul Keckeis: Adalbert Stifters Lyrik. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 26 (2019), S. 135-156; Petra-Maria Dallinger: Neues aus der Sammlung Adalbert Stifter. Adalbert Stifter: Gedichte. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 28 (2021), S. 133-139.

[7] Vgl. Stiftsarchiv Kremsmünster, CCn 1324 (Archiv-Box).

[8] Vgl. Heinrich Reitzenbeck: Adalbert Stifter. Mit dem gestochenen Portrait. Biographische Skizze. In: Libussa 12 (1853), S. 317-329. Die betreffende Passage im Wortlaut: „Im Jahre 1824 wurde zur Gelegenheit der Preisevertheilung ein großes Gedicht aufgegeben: die Gründung Kremsmünsters durch Thassilo von Baiern im Jahre 777 behandelnd, und hinzugefügt, daß derjenige, der das Gedicht am besten mache, es bei der Preisvertheilung öffentlich vortragen dürfe. Dieses Loos traf Stifter. Das Gedicht fand durch Stifters Professor der Humanitätsklassen, Ignaz Reischel, keine Aenderung und wurde von dem Verfasser vorgetragen.“ (S. 322f.)

[9] Vgl. die Korrespondenz dieser beiden einflussreichen Germanisten unter: Briefwechsel August Sauer und Bernhard Seuffert (onb.ac.at).

[10] Brief Ignaz Zibermayrs an Burkhard Seuffert vom 29. August 1939, FNI-Grün, o. Sign., fol. 1r.

[11] Brief Gustav Wilhelms an Burkhard Seuffert vom 24. April 1940, FNI-Grün, o. Sign., fol. 1r.

[12] Ebda.

[13] Moriz Enzinger: Adalbert Stifters Studienjahre (1818-1830). Innsbruck: Österr. Verlagsanstalt 1950, S. 96 (Anm. 35).

[14] Vgl. Kienesberger, Stifters Jugendgedicht, S. 52.

[15] Ebda., S. 58.

[16] Vgl. Ehrmann, Stifter und Stiftsschüler, S. 97.

[17] Vgl. Dallinger, Neues aus der Sammlung, S. 133.

[18] Zitiert nach Micko, Stifters früheste Dichtungen, S. 58.

[19] Vgl. Dallinger, Neues aus der Sammlung, S. 134.

veröffentlicht am 16. November 2023 in Objekt des Monats