Treffen sich zwei oder: Archivalie sticht Erwartung
veröffentlicht am 1. April 2019 in Objekt des Monats
Fotografie m. hs. Beschriftung „Mit Ilse Aichinger 1977“, Stempel „Foto: Moses“, sw, aus dem Vorlass von Barbara Frischmuth am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung
Müsste man die Sekundärliteratur zur Altausseer Autorin Barbara Frischmuth gemäß ihrem Inhalt in einigen wenigen Schlagworten zusammenfassen, könnten die folgenden prototypisch für die Beschäftigung von Forscher_innen mit ihrem Werk stehen: Mystik, Traum, Integration/Migration, Orient/Okzident, (weibliche) Identitätsentwürfe. Es ist kein Charakteristikum für die Erforschung des Werks der 1941 geborenen Schriftstellerin, sondern ein Paradigma der Literaturwissenschaft, dass die Analyse von Geschriebenem personenspezifisch konstant um die immer gleichen Themengebiete kreist. Ein Umstand, der – je nach Blickwinkel – der Arbeitserleichterung zugeschrieben werden kann oder aber der Erstellung eines Orientierungssystems, das – als übergeordneter Forschungsauftrag verstanden – immer wiederkehrende Themengebiete Wegmarkierungen gleich dem Werk einschreibt und somit primär Verständnishilfe für Leser_innen ist. Die Arbeit am Text unter Berücksichtigung von Vorlassmaterialien bildet diesbezüglich auf den ersten Blick keine Ausnahme: Was man sucht, ist, was man schreibt, und umgekehrt. In Bezug auf Barbara Frischmuth wären das Traumspuren in den Notizen zu ihrer Münchner-Poetikvorlesung, Überlegungen zum Wandel im Briefverkehr mit Autoren-Kolleg_innen oder aber Dokumente, die von der frühen Hereinnahme vom Fremden ins Eigene zeugen. Auf den zweiten oder dritten Blick ist der Bestand in Archiven aber immer wieder „Wundertüte“, der den Blick auf das Schreiben eines/r Autors/in verändern respektive erweitern kann.
Im vorliegenden Fall ist es eine Fotografie von Stefan Moses, die ein Zusammentreffen von Barbara Frischmuth mit Ilse Aichinger im Rahmen eines Verlagsfestes in Salzburg 1977 zeigt. Barbara Frischmuths Roman „Amy oder Die Metamorphose“ – zweiter Teil ihrer Sternwieser-Trilogie – sollte im Jahr darauf erscheinen, ebenso wie Aichingers Erzählband „Meine Sprache und ich“. Die Archivalie, die die beiden Frauen entspannt, mitunter lachend, während eines Gesprächs etwas außerhalb des fotografischen Rahmens wahrnehmend, zeigt, wirft Fragen auf wie: Gab es eine Freundschaft, engere Bekanntschaft zwischen den beiden Schriftstellerinnen? Ist die Nähe, die sich in der Fotografie zeigt, auch in Texten der beiden ablesbar – etwa inhaltlich oder im Verwenden von Sprache, ihrer Funktion? Auf Nachfrage erzählt Barbara Frischmuth vom damaligen Aufeinandertreffen, zufällig, nicht ausgemacht oder arrangiert, von Wertschätzung für das Werk der Grande Dame der Nachkriegsliteratur, der Verbindung zu Aichingers 1998 verstorbenem Sohn Clemens. Eine Dichterinnenfreundschaft war es nicht, die Lebenskreise der beiden ließen kaum Schnittmengen zu. Und doch regt sich beim Betrachten der Fotografie die Idee, nach Verbindendem zu suchen. Das Offensichtliche: zwei Autorinnen, die sich in ihren Anfangsjahren in männlich besetzten Schreibbewegungen – Gruppe 47 bei Ilse Aichinger, „Grazer Gruppe“ im Fall Barbara Frischmuths – behaupteten und schon mit ihren ersten Texten große Erfolge feierten. Das anfänglich starke Schreiben aus der Biographie heraus zeigt sich sowohl in Aichingers Essay „Das vierte Tor“ und natürlich in ihrem Roman „Die größere Hoffnung“ als auch in Frischmuths „Die Klosterschule“ – und bereits an dieser Stelle gerät der Versuch, Gemeinsamkeiten zu finden, ins Stocken und eine andere Frage wird zentral, nämlich die, ob Literatur, die aus dem nationalsozialistischen Völkermord heraus entstanden ist, überhaupt mit Geschriebenem in Verbindung gesetzt, abgeglichen, verglichen werden kann/darf, das den Holocaust nicht als inhaltliche Grundmatrix enthält. Man sucht nach literaturwissenschaftlichen Legitimationen, findet Studien über „Potentiale des Komischen in der Holocaust-Literatur der Postmemory-Generation“ (Sarah Dudek), doch keinerlei Arbeiten, die sich mit dieser Grundsatzfrage auseinandersetzen. Der noch immer nicht geklärte Umgang mit Holocaust-Literatur von Forscher_innenseite (in Bezug auf Ilse Aichinger 1982 treffend vom deutschen Literaturkritiker Joachim Kaiser in der „Süddeutschen Zeitung“ zusammengefasst: „Dass Aichingers poetische Gewalt sich von so Schrecklichem wie der Judenverfolgung nicht zügeln ließ: Es war nicht so leicht zu ertragen.“) – 70 Jahre nach Adornos Diktum – lässt der Frage nach ihrer Inbezugsetzung mit thematisch Fremden keinen Platz und wirft eher jene nach einem „Warum überhaupt“ bzw. „Mit welchem erwarteten Erkenntnisgewinn“ auf.
Nun ist man versucht, die Archivalie als Zeugnis eines Augenblicks zu sehen: als nicht mehr und nicht weniger. Die Fotografie, die die beiden großen österreichischen Autorinnen zeigt, als mögliche optische Bereicherung eines zukünftigen Sammelbandes. Doch kommt einem die Sprachkritik in die Quere, die bei beiden gelesen, gehört werden will. Katholisch geprägte Sprachskepsis bei Frischmuth vor allem in ihrem Erstlingswerk, Sprachkritik in Form von Sprachspiel bis hin zu den frühen 70er Jahren. Danach dominiert – wie Christa Gürtler 1983 feststellt, für einige Jahre der Versuch „Zu-sich-selber-[zu]-Kommen“ und mit ihm Themen wie Frau-Sein, Frau-Werden. Das Spiel mit Sprache, die Erforschung ihres Wesens nimmt bei Frischmuth aber immer wieder eine zentrale Stellung ein, auch in jüngeren Publikationen wie „Die Kuh, der Bock, seine Geiß und ihr Liebhaber“ (2010). Bei Ilse Aichinger lässt sich ein anderer, beinahe diametraler Weg erkennen: die Wahrheitssuchende wird im Fortlauf der Jahre, spätestens aber mit dem 1976 erschienenen Sammelband „Schlechte Wörter“, immer stärker zur Zweiflerin an Sprache, ihren Möglichkeiten. Das Spiel mit Sprache ist ihr aus der Biographie heraus verunmöglicht. Sie entzieht sich ihr (und damit allem, was ihr eingeschrieben ist), schreibt immer weniger, immer seltener.
Die Fotografie lässt die Betrachterin aber auch nach der Erkennbarkeit, Verfremdung von großen Gravitationspunkten (Istanbul, Wien) fragen, der inhaltlichen Relevanz von Kindern als Protagonisten, deren Umgang mit Sprache, und, auch das, nach der Rolle des Traumes, seiner Funktion im Schreiben der beiden Autorinnen, die so unähnlich nicht ist, man denke nur an die somnambulen Räume, die die beiden aufbauen, an die Erweiterung der Wirklichkeit.
Archivalie sticht Erwartung: sie lässt bis dato ungedachte schriftstellerische Verbindungen entstehen, über sie nachdenken. Zu verdanken ist sie – die Archivalie – dem großen deutschen Fotografen Stefan Moses, dem Chronisten der Nachkriegsgesellschaft, dem – nach Eigendefinition – Menschenfotografen, der 2018 in München verstorben ist. Dem Mann, der es – wie seine Frau Else Bechteler-Moses meint – schaffte, die Leute vergessen zu lassen, dass sie fotografiert werden, und sie so als sie selbst im Moment festhalten konnte. Zu verdanken ist diese Erwartungsübertreffung aber letztlich den Autorinnen selbst, ihrem Schreiben, als den eigentlichen „Wundertüten“.
Silvana Cimenti