Vom Fehlen. Gerhard Roth und Die Geschichte der Geschichte der Dunkelheit

veröffentlicht am 1. November 2018 in Objekt des Monats

Titelblatt und Beginn von „Die Geschichte der Dunkelheit. Versuch einer Archäologie. Skizze, Versuch. [mit Verm.:] alles vernichten!“, Original, hs., 1987 (beschr.: 17.8.1987), 63 Bl. (pag. 2-60), hier: 2 Bl.; 3 Fotos „Jüdischer Friedhof Seegasse“ © Gerhard Roth aus dem Roth-Vorlass am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung

Friedhöfe sind „andere Orte“, Heterotopien im Sinne von Foucault, die gerade durch ihr Anderssein der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. „Gegenplazierungen oder Widerlager … in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind … Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“, heißt es bei Foucault. Jüdische Friedhöfe in Österreich sind – wie mir scheint – in ganz besonderem Maße heterotopisch, denn ihre scheinbar idyllische Verlassenheit weist auf eine Leere, die sich auch durch noch so gewissenhafte Rekonstruktion nicht füllen lässt. Der langsame Verfall, der alles wieder in die Natur überführt und nach und nach Gras darüber wachsen lässt, die Tatsache, dass keine Angehörigen mehr die Gräber pflegen – erst 2010 hat mit dem Beschluss zum „Bundesgesetz über die Einrichtung des Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich“ die Republik Österreich diese Aufgabe übernommen –, machen jüdische Friedhöfe in Österreich heute im besten Falle zu Gedenkstätten an eine Vernichtung, durch die die gelebte jüdische Kultur während des Dritten Reichs systematisch ausgelöscht werden sollte.
Diese Leere als Wunde und das Schweigen und Verschweigen der historischen Schuld ist der zentrale Ausgangspunkt für Gerhard Roths Schreiben, seit er Mitte der 1950er Jahre durch einen Dokumentarfilm über den „Nürnberger Prozess“ schockartig mit den Leichenbergen in den befreiten KZs konfrontiert wurde, – die Leere mit Erinnerungen zu kompensieren, das Verleugnen zu unterlaufen durch Aufklärung, das Schweigen zu brechen in immer neuen Anläufen, in unterschiedlichsten Genres und mit tausenden Seiten Text, reportagehaft-essayistisch, als Bilderzählung, in Form von Reiseromanen oder (alp-)traumhaft surrealen Prosagedichten, als Autobiografie oder Hadesfahrt.
Gerhard Roth ist ein Autor, der die Bedingtheiten seines Schreibens offenlegt. Es verwundert daher nicht, dass ihm gerade im Jahr der sogenannten Waldheim-Affäre, 1986, die Idee kam, ein Buch über einen jüdischen Remigranten zu schreiben – und zwar just, als er bei einem Spaziergang den aufgelassenen, hinter einer Mauer versteckten Jüdischen Friedhof Währing entdeckte. Damals war Roth gerade aus der Südsteiermark nach Wien in die Wohnung seines Freundes Loys Egg in der Döblinger Hauptstraße gezogen, um in der Bundeshauptstadt seine österreichische Mentalitätsforschung für den Zyklus Die Archive des Schweigens weiterzutreiben.
Über Vermittlung seiner Verlegerin lernt er 1986 Walter Singer kennen, dessen Sohn gerade in der Portiersloge eines jüdischen Wiener Altersheims Selbstmord begangen hat und der ihm ab Anfang 1987 zweimal wöchentlich fünf Monate lang seine Lebensgeschichte erzählt. Roth schreibt Singers Erzählungen mit, füllt dabei mehrere Notizbücher, sucht eine literarische Form für das Gehörte und beginnt zunächst einen Roman zu schreiben. Der Titel Die Geschichte der Dunkelheit existiert damals bereits – als Titel für ein eng beschriebenes handschriftliches Romanfragment mit dem Untertitel „Versuch einer Archäologie“, dessen erstes Kapitel mit „Oktober 1986“ datiert ist und mit dem Satz beginnt:

Wenige Tage, nachdem der Schriftsteller Eck die Wohnung eines Freundes in der Döblinger Hauptstraße in Wien bezogen hatte, beging ein Nachbar, Jakob Landau, den er bis dahin nur einmal flüchtig gesehen hatte, in der Portiersloge des jüdischen Altersheims in der Bauernfeldgasse Selbstmord.

Der Roman wurde nicht veröffentlicht, vielmehr damals mit dem – zum Glück nicht umgesetzten – Vermerk „Skizze, Versuch – alles vernichten!“ versehen. Eck allerdings begegnet uns 1995 im Roman Der See als medikamentensüchtiger Pharmavertreter wieder, ein Suchender und Reisender, der u.a. den „vergessenen [jüdischen] Friedhof“ (See, S. 32-36) in Frauenkirchen aufsucht und dort mit einem jüdischen Remigranten ins Gespräch kommt.
Für Singers dürren, von Depressionen gekennzeichneten Lebensbericht war die Romanform nicht adäquat, hätte sie doch die verstörende Kargheit seiner Sprache ästhetisch beschwichtigt. Roth ließ das Material liegen und stellte vorher die erst 1988 begonnene Reportage über die Wiener Leopoldstadt fertig, die zunächst unter dem Titel In den Gassen der Vergessenen 1989 im Zeitmagazin erschien und später als Leopoldstädter Requiem in den Essay-Band Eine Reise in das Innere von Wien (1991) aufgenommen wurde. Darin veranschaulicht er allgemeine, auch statistische Informationen über die Auslöschung der jüdischen Kultur in der Leopoldstadt mit den individuellen Erfahrungen Walter Singers, der sich gemeinsam mit dem Autor auf die Suche nach den Orten seiner Kindheit begibt und dabei nur auf Fehlendes und Leere stößt.

Bergers Welt existiert nicht mehr. Und je länger wir gehen, desto vergeblicher wird sein Versuch, diese verschwundene Welt zu beschwören. Sie besteht nur noch aus Baulücken, Parkplätzen, Neubauten, Hinweistafeln. In der Leopoldsgasse 29 stand die „Polnische Schule“ – die Vereinssynagoge, die für den polnisch-jüdischen Ritus bestimmt war –, nun erhebt sich ein Eigentumswohnhaus an dieser Stelle. Die Bewohner des Hauses waren gegen eine Gedenktafel, weshalb auch keine angebracht wurde. (S. 57)

1991 erscheint schließlich auch Die Geschichte der Dunkelheit als dokumentarischer, an Giacometti geschulter Lebensbericht in Bruchstücken, der die emotionsgebremste Sprache Singers alias Bergers möglichst authentisch nachbildet und gerade dadurch vieles ausdrückt, was fehlt.
Vom Fehlen erzählen aber auch Roths Fotografien zum jüdischen Leben in Wien in seinem Vorlass: der menschenleere Friedhof in der Seegasse, die leere Synagoge Seitenstettengasse, die Fotos aus dem Simon-Wiesenthal-Archiv und jenem der Israelitischen Kultusgemeinde. Gerade das Fragmentarische, Leblose dieser Archivschachtel- und Bene-Ordner-Systematiken lässt eindrucksvoll das Abwesende im Sichtbaren durchscheinen. Die Fotografien erzählen von daher auch von Gerhard Roths lebenslangen Bemühungen, die „Mappengräber“ (Raoul Hausmann) wieder zu öffnen und zum Sprechen zu bringen.

Daniela Bartens