VON DEN NAMEN UND VON DEN DINGEN. Werner Schwabs bisher unveröffentlichte Kindergeschichten auf CD

CD „Neuigkeiten vom Zauberhasen. Drei Kindergeschichten von Werner Schwab“. Jazzwerkstatt Records 2022. Texte aus dem Nachlass hrsg. von Ingeborg Orthofer. Dramaturgie: Eva Luzia Preindl. Sprecher*in: Helen Zangerle & Paul Gruber. Musik: Clemens Salesny (Altsaxophon, Bassklarinette) & Leo Riegler (Elektronik, Plattenspieler, Synthesizer). Coverzeichnung: Werner Schwab.

„Er heißt Bataschnauzl und ist sehr musikalisch“[1] und sein „Ausbrüten“ (vgl. FF 14:51) sei „eine gute Idee“ (FF 15:03) gewesen, ist in Schwabs Kindergeschichte „Franz und Franziska“ zu lesen – eine gute Idee, die den beiden Nachbarskindern Franziska und Franz angesichts der Ein-Tönigkeit und Fadesse ihres kleinstädtischen Lebens gekommen ist. Denn in der kleinen Stadt „Öhd“ heißen alle Franz und Franziska und werden in der Koseform geschlechtsneutral „Franzi“ (vgl. FF 1:10-1:32) gerufen. Individualisierung mittels Namensgebung ist also von vornherein ausgeschlossen, es sei denn, man hätte einen „Arthur“ von auswärts geheiratet und könne sich nun aufstiegsbedingt „Francesca“ nennen.[2] Öhd ist jedenfalls, wie der Name besagt, so öde, dass jeder Franz, jede Franziska dort alles bereits aus dem Effeff (ff.) kennt. Die Häuser und ihre Bewohner*innen gleichen einander wie ein Ei dem anderen, so dass es vorkommen kann,

„daß irgendein Öhdscher Franz, von der Arbeit nach Hause kommend, in einem falschen Haus die falsche Franziska und die falschen Kinder begrüßt haben soll“ und daß dieser letzten Endes „sogar noch den falschen Schweinsbraten gegessen und den falschen Rasen gemäht haben“ (FuF) soll,[3]

wie Stefan Schwar, der an der Transliteration des handschriftlichen Nachlasses von Werner Schwab mitarbeitete, aus dem Original zitiert. Eine öde Sprache in einem falschen Leben, in dem man – wie in Adornos „Asyl für Obdachlose“ aus den berühmten „Minima Moralia“ – nirgends wirklich zuhause sein kann oder – wie es Schwabs Künstlerfigur Hermann Wurm in „Der Himmel Mein Lieb Meine Sterbende Beute“ ausdrückt – wo man „undaheim geboren“[4] ist: „Nun ja, ‚nach Hause‘ heißt nicht viel in Öhd. In Öhd ist man nämlich überall gleichviel zu Hause oder überhaupt nicht.“ (FF 31:51-32:04)

Da braucht es zwei rebellierende Nachbarskinder, Eis schleckend und Kaugummi kauend, die beschließen, „der Stadt ein Ei zu legen“ (vgl. FF 13:09-13:10), indem sie jenen Quäl- und Verwirr-„Geist“ mit dem „drolligen Namen“ (FF 13:26-13:30) – wie eine Kaugummiblase (vgl. 14:14-14:27), die zur Fruchtblase wird – ins Leben setzen: einen mit einem ganz auf ihn zugeschnittenen Namen und „eine[r] eigene[n] Kennmelodie“ (FF 13:36), die so „richtig herrlich schrecklich“ (FF 14:11-14:13) ist, dass sie sich wie ein Ohrwurm in die Franz- und Franziska-Köpfe der Öhd’schen Einwohnerschaft einschleicht und die dort herrschenden falschen Töne grotesk verzerrt zum Klingen und schließlich zum Kollabieren bringt.

Wie ein Joker, der für alles Mögliche stehen kann, frisst jener Bataschnauzl die individuellen Bezeichnungen für die Dinge auf und setzt sich an deren Stelle. Wo vorher beim Bäcker „Brot“ und „Semmeln“ verlangt wurden, sind es nun „ein[] Kilo Bataschnauzl und fünf runde Batasch…“[5] und sofort erfasst der Bataschnauzl-Virus auch den Bäcker und markiert mit seiner Kennmelodie die sprachliche Entdifferenzierung: „Aha, ich geben Ihnen einfach ein Bataschnauzl und ein paar Bataschnauzl, äh, warum ist da so ein komisches Gefühl in meinem Kopf?“[6] Man versteht sich also, wenn auch auf Bataschnauzl-Niveau und wenn auch nicht immer:

Darf ich noch ein Stück Bataschnauzl haben, fragt krampfhaft lächelnd Herr Kugelberger. Natürlich, mein Schatz, sagt Frau Kugelberger und reicht ihrem Gatten ein Stück Brot. Äh, wie reizend von dir, mein Liebes, aber ich meinte, noch Lust auf ein Stück Bataschnauzl zu haben. Ja was denn, sagt Frau Kugelberger, du hast doch eben ein Stück bekommen.
Papa meint nicht den Getreidestaubkuchen mit Kümmel, sondern den bis zur Knusprigkeit erhitzten Teil aus dem Hintern eines ziemlich erwachsenen Ferkels.
Damit wäre an einer Stelle der Damm gebrochen, die Tochter der Kugelbergers hätte den Umweg […] gefunden, der […] zu den Dingen zurückführen könnte. Wir müssen leider sagen „wäre“, „hätte“ und „könnte“, denn keiner von den Erwachsenen hat ihr so recht zugehört. (FF 18:50-19:40)

Wobei die gesamte Passage eine ironische Auseinandersetzung mit kindlicher und erwachsener Wirklichkeitswahrnehmung und -beschreibung ist, deren Schluss sich allerdings in der handschriftlichen Vorlage nicht findet, wie auch die gesamte Passage – offensichtlich unter dem Paradigma „Brot“ – einer anderen Familie zugeschrieben wird als im Original, was aber angesichts der Öhd’schen Ähnlichkeiten ohnedies für die Textaussage gleichgültig ist.[7]

János Erdödy erzählt im Gespräch mit Barbara Belic, dass Werner Schwab in jener Zeit, als er mit seiner ersten Ausstellung „Veraendung“ Erdödys Grazer Galerie „Cool Tour“ eröffnete, also um 1978 herum, selbst mit einem ähnlichen Phänomen kämpfte:

Das war eine Zeit, wo’s kommunikativ mit ihm sehr kompliziert war, weil die Sätze, die er gesagt hat, die waren gespickt mit „Dings“. Das ist manchmal so arg geworden, dass mehr „Dings“ als andere Wörter in einem Satz von ihm drinnen waren. […] Das war sichtlich etwas, wo er das Ersprechen geübt hat und wo er in manchen Zuständen dann wirklich nach Wörtern gesucht hat, und wenn er nicht das richtige gefunden hat, hat er „Dings“ genommen.[8]

Er hätte auch „Bataschnauzl“ nehmen können, wie ca. zehn Jahre später in seiner Kinderliteratur, doch da war aus dem „Fall von Ersprechen“[9] und dem Ringen um eine individuelle Schwab-Sprache bereits eine Kunstform geworden, die der Wirklichkeit der Öhd’schen Verhältnisse und eigenen Anfänge mit jenem „Bataschnauzl“ literarisch den Spiegel vorhielt.

Werner Schwab ist in der Silvesternacht von 1993 auf 1994, also vor ziemlich genau dreißig Jahren, in Graz gestorben. Neben seiner hermetischen frühen Prosa, von der bisher nur Teile (hauptsächlich aus dem Nachlass) veröffentlicht wurden und für die er über zehn Jahre lang vor allem Absagen und Vertröstungen erntete,[10] hat er auch Kinderliteratur für seinen 1981 geborenen Sohn Vinzenz geschrieben. All das noch bevor seine „Fäkaliendramen“, denen er „Königskomödien“ und „Coverdramen“ folgen ließ – alles in allem 16 Stücke in vier Jahren (1989-1993) –, zum Medienhype avancierten. Aber sicher nicht alles, was er für und mit dem Sohn gemeinsam erfunden hat, ist damals auch niedergeschrieben worden, anderes wieder ist verloren gegangen – wie ein ganzes Kinderbuch, das seinem Freund János Erdödy, der es illustrieren sollte, nach einer ausufernden ‚Projektbesprechung‘ in einem Lokal am Wiener Yppenplatz vermutlich vom Gepäckträger seines Fahrrads gerutscht ist: Werner „hat mir ein Buchprojekt vorgeschlagen. Er hat mit seinem Sohn eine Art Theaterstück aufgeführt mit kleinen Figuren, die sie gebastelt haben, und da hat es einen Text gegeben, […] [den] hat er mir […] gegeben und gemeint, vielleicht kannst du das illustrieren oder dir fällt etwas ein. Schau dir das einmal an.“[11] Doch dazu ist es nicht mehr gekommen, und so lässt sich auch nicht mehr beantworten, ob es sich bei dem verloren gegangenen Manuskript nicht möglicherweise um eine weitere Fassung eines der überlieferten Texte handelte.

Drei Kindergeschichten sind im Nachlass erhalten: „Die Wurst und der Strudel“, als einzige in Typoskriptform vorliegend und weitgehend abgeschlossen,[12] daneben „Neuigkeiten vom Zauberhasen“ und schließlich die weitaus längste Erzählung, „Franz und Franziska“, in der besagter Bataschnauzl eine Hauptrolle spielt. Versucht man sich an einer Datierung nach dem Vorkommen in Schwabs Arbeitsbüchern, so handelt es sich bei „Franz und Franziska“ um den ältesten Text, der ursprünglich unter der Titelalternative „Franzi und Franzi“[13] 1987 in Arbeitsbuch C2 mit zwei handschriftlichen Seiten begonnen wurde. Diese Datierung – zugleich auch jene für erste Versuche (noch mit dem auf Schwabs Mutter verweisenden Namen „Luise“ anstelle von Erna) zum Beginn von Schwabs Erfolgsstück „Die Präsidentinnen“, die fast unmittelbar darauf folgen –,[14] lässt sich insofern vornehmen, als in dem mit „Zug“ beschrifteten Arbeitsbuch anschließend an die beiden Textfragmente auf Bl. C02017 die mit „1.1.88“ einsetzende Niederschrift von Schwabs Roman „Joe Mc Vie alias Josef Thierschädl“ beginnt, den Ingeborg Orthofer später aus dem Nachlass publiziert hat. „Er hatte sich dieses fast noch leere Buch für die Zugreise nach Dänemark ausgesucht und, wie er das mit Vorliebe tat, auch gleich auf der Reise zu schreiben begonnen.“[15]

Möglicherweise sogar noch früher entstanden sind einige – auf der CD erst im Anschluss folgende – Passagen, die sich in Arbeitsbuch B10 im Umfeld des „Hundemund“-Komplexes finden,[16] u. a. die groteske Episode über den Besuch des Schuldirektors Franz Zeigersinn beim Friseur Franz Flachbusch (FF 9:47-11:58). Durch einen unmittelbar vorhergehenden, nicht adressierten Briefentwurf lassen sich jene als jedenfalls nach März 1987 verfasst datieren.

Eine weitere längere Passage von „Franz und Franziska“ findet sich schließlich in Arbeitsbuch C3,[17] dessen erste Seiten – in einem deutlich anderen Schriftzug – bereits 1980 verfasst wurden und dessen Einträge sich insgesamt über einen längeren Zeitraum erstrecken: beginnend mit Texten aus der Kohlberger Zeit und dem Umfeld der Textsammlung „Orgasmus : Kannibalismus“ über solche aus dem „präsidialen“ Kontext, die nach der Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten 1986 begonnen wurden, bis hin zu einer vollständigen handschriftlichen Fassung von „Die Präsidentinnen“, deren Anfang mit „8.2.[1988]“[18] datiert ist und die Werner Schwab am 23.6.1988 an das Wiener Burgtheater schickt.[19] „Franz und Franziska“ lässt sich insofern datieren, als direkt auf die Textpassage in C3 ein undatierter Briefentwurf an Heinz Hartwig folgt,[20] in dem Schwab auf einen Brief Hartwigs vom 14.6.1986 Bezug nimmt[21] und diesem nun sein Hörspiel „Der Präsident und die Böschung“ anbietet, wie aus einem Antwortbrief Hartwigs vom 5.11.1987 hervorgeht.[22] Irgendwann vorher, jedenfalls im Jahr 1987, muss „Franz und Franziska“ entstanden sein. Möglicherweise arbeitete Schwab zeitlich ungefähr parallel in allen drei Arbeitsbüchern. Und ganz abwegig ist es nicht, diese Erzählung von (sprachlicher) Gleichschaltung, kollektiver Anpassung und geheimen Rebellionen, von einem geheimpolizeilich genau alle Abweichungen notierenden Schuldirektor namens Franz Zeigersinn, einem Sinn-Zeiger, der „im Dorf[23] erstaunlich beliebt [ist], weil er sich so volksnah gibt“ – „angeblich sitzt er auch täglich im Wirtshaus und redet mit allen“ (FF 36:42-36:52) –, ebenfalls in den Kontext jener präsidialen Idee zu stellen: Als Vor-sitzender, also Präsident, des „Vereins zur Verteidigung von Zucht und Ordnung“ lässt Zeigersinn durch seine als klassisch opportunistische Mitläufer dargestellten Schüler Plakate verteilen, die, gegen die eigenen Interessen der Jugendlichen gerichtet, durch Verzicht auf alles, was Spaß macht, dem Bataschnauzl das Handwerk legen sollen:

ACHTUNG ACHTUNG
In unserer schönen Stadt treibt eine Krankheit ihr Unwesen. Sie verwirrt den gesunden Menschenverstand und läßt die richtigen Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Wahrscheinlich wird die Epidemie durch Sprechen und Singen übertragen. Daher folgende Aufforderungen:
Nur das Notwendigste sprechen.
Keine Musik hören, die man nicht kennt.
Nicht singen.
Nicht pfeifen.
Nicht summen.
EINFACH DEN MUND HALTEN UND ZU HAUSE BLEIBEN.
Weitere Anweisungen folgen.
Wir werden Öhd retten![24]

Aber auch die kurze Geschichte „Neuigkeiten vom Zauberhasen“, die als Brief an seinen Sohn Vinzenz gerichtet ist, findet sich unmittelbar vor der „Präsidentinnen“-Niederschrift in C3,[25] muss also knapp vor dem 8.2.1988 entstanden sein. Es ist die Geschichte eines Zauberhasen, der sich auf seiner Waldlichtung nach Abwechslung sehnt, in die Stadt fährt, dort für einen Hasen aus Plastik gehalten wird, der einem Werbeplakat mit dem Slogan „Ich bin ein kluger Hase und esse nur Eili-Geili-Eier“ entsprungen ist, und schließlich in der Auslage eines Feinkostgeschäfts Freundschaft mit einem sprechenden Schweinsbraten namens Alfons schließt, der durch seinen Duft Kunden anlockt, jedes Mal aber, wenn er gekauft werden soll, diese wieder vertreibt, indem er zu stinken beginnt, und der – wie in Handkes „Publikumsbeschimpfung“ – statt sich willig in der Auslage den Blicken darzubieten, selbst Blicke auf seine Betrachter und potenziellen Verzehrer wirft.

Dass es sich möglicherweise tatsächlich um „Neuigkeiten vom Zauberhasen“ handelte, denen bereits andere „Zauberhasen“-Geschichten vorausgegangen waren, darauf deutet ein Personenregister auf der ersten Seite des Arbeitsbuchs hin, wo unter der Zuordnung W und V (für Werner und Vinzenz) offensichtlich eine Art Rollenverteilung – auch mit Rollen, die in der erhaltenen Geschichte nicht vorkommen – vorgenommen wird:

Zauberhase                   W
Dicker Kurti                   W
Habicht                          W
Alfons                            W
Polizist                           V
Birkenzwergerl             V
Eichenzwergerl            V
Buchenzwergerl           V[26]

Der eindeutig jüngste Text ist „Die Wurst und der Strudel“, den Werner Schwab in der undatierten Typoskriptfassung „Eine kleine Geburtstagsgeschichte für Vinzenz V. Schwab“ nennt. Der Text ist in einer handschriftlichen Fassung in dem Schreibheft C8, das am Umschlag mit „89“ beschriftet ist, enthalten,[27] mit einem etwas längeren, aber nicht fertiggestellten Ende unter dem Titel „Noch ein halbes Jahr später“[28]. Gegenüber dem Beginn der Typoskriptfassung: „Franz Kapplmeier war damals acht Jahre alt […]“[29], die zum Ausgangspunkt für die CD wurde, fällt auf, dass der Text im Präsens abgefasst ist. In Zusammenhang mit der „Geburtstagsgeschichte“ würde das bedeuten, dass die handschriftliche Erzählung vielleicht tatsächlich 1989, zum 8. Geburtstag von Vinzenz Schwab, verfasst wurde, ihm aber möglicherweise erst später in der überarbeiteten Typoskriptfassung geschenkt wurde. Allerdings geht dem Text ein Briefentwurf an Lisa Pirker, der mit „12.9.91“ datiert ist, voraus. Eingebettet ist „Die Wurst und der Strudel“ in Passagen aus „Abfall, Bergland, Cäsar. Eine Menschensammlung“, jenem Prosabuch, das zu Lebzeiten Schwabs 1992 im Residenz-Verlag erschienen ist und dessen älteste Fassungen in C8 erhalten sind.[30]

Wie in „Franz und Franziska“ geht es auch in „Die Wurst und der Strudel“ um Namen, die die Dinge nicht einfach benennen, sondern durch die Bezeichnung zugleich verkomplizieren. Wieder gibt es einen autoritären Lehrer mit Hang zum Ausbessern, doch diesmal heißt er Strudler und ist ein Strudler, also einer, der nicht souverän reagiert, sondern sich schnell provoziert fühlt – ob zu Recht oder zu Unrecht – und anschließend auf Rache sinnt. Da kommt der Herkunftsort des Schülers Franz Kapplmeier, Wursthausen am Schweineberg, gerade recht, um sich verhöhnt zu fühlen und dem Kapplmeier von nun an den Kampf anzusagen. „Und alles nur“, wie es im Text heißt, „weil er aus Wursthausen am Schweineberg kam und nicht zum Beispiel aus Hohenstein am Fürstenberg“ (WS 2:45-2:53). Was nun beginnt, ist ein subtiler Rachefeldzug Strudel gegen Wurst, den der aufmüpfige Schüler vom Zaun bricht. Hat doch der Lehrer Strudler die Angewohnheit, in jeder großen Pause drei Wurstsemmeln auf dem Katheder in Stellung zu bringen:

Der Herr Lehrer lehnte sich an dieser Stelle der Zeremonie immer ein bisschen zurück und betrachtete vergnügt seine Wurstsemmelsoldaten, bevor er unversehens einen packte und hineinbiss. Erst mit der Zeit bemerkte Strudler, dass der kleine Kapplmeier es ihm jetzt ziemlich gleichtat, nur dass er statt der Wurstsoldaten drei Stück Strudel […] aufmarschieren ließ.“ (WS 4:10-4:37)

Ohne genau zu verstehen, warum, fühlt sich der Lehrer durch diesen – wie er schließlich zu erkennen glaubt – symbolischen Verzehr so provoziert, dass er den Direktor einschaltet und sich gründlich blamiert. Das Typoskript endet mit der etwas unbefriedigenden Volte, dass der Lehrer ausgerechnet in jenem Wursthausen Schuldirektor wird. In der unvollendeten handschriftlichen Version entwickelt er sich dort zum Botaniker weiter.

Alle drei Texte sind auf der CD in gegenüber dem Nachlass leicht – im Fall von „Franz und Franziska“ etwas stärker[31] – bearbeiteter Form zu hören und werden, mit reduziert eingesetzter Musik, die wie in einem Hörspiel die Textaussage strukturiert und unterstützt, abwechselnd von einem männlichen und einer weiblichen Sprecher*in vorgetragen. Wobei den Auftritten des Bataschnauzl wie etwa in Prokofjews „Peter und der Wolf“ tatsächlich eine eigene Kennmelodie vorangestellt wird, deren Disharmonien sich ähnlich der Bataschnauzl-Privatsprache ins Gedächtnis einbrennen und dort epidemisch ihren Schabernack treiben.

Ingeborg Orthofer hat im Booklet zur CD auf die lebensweltlichen Bezüge jener Privatsprache hingewiesen. „Haia – Bata – Bibubi“ sei „eine frühkindliche Sprechformel“ des gemeinsamen Sohnes gewesen, die für „Schlafen Gehen“ (Haia), „Unter-die-Decke-Schlüpfen“ (Bata) und „ein Bilderbuch anschauen und (dabei) eine Geschichte erzählt bekommen“ (Bibubi) stehe,[32] und der „Bataschnauzl“ einer der unzähligen „Kosenamen“ für den Sohn, der „mit seinem ‚Schnauzl‘ / seinem Mund“ eben jene kindliche Privatsprache gesprochen habe.[33] So gelesen, wird „Franz und Franziska“ zur Liebesgeschichte von zwei – was ihre Herkunft und ihr Angeödet-Sein von den herrschenden Verhältnissen betrifft – „benachbarten“ jungen Leuten, die sich auf das Abenteuer „Bataschnauzl“ einlassen, das ihre, aber nicht nur ihre Welt auf den Kopf stellt. Und der Bataschnauzl zum Superhelden, dessen kindlicher Geist die Erwachsenenwelt grotesk spiegelt und dadurch aus den Fugen hebt.

Darin unterscheiden sich Schwabs Kindergeschichten nicht von seinen sonstigen Texten. Sie alle führen vor, dass Sprache und Fleisch, Wurst und Strudel, Schweinsbraten und Zauberhase, die beiden Enden unserer Existenz auseinanderklaffen. Dass die Dinge nicht mehr selbstverständlich beim Namen genannt werden können, weil die Namen ihre eigenen Wirklichkeiten bilden, selbst Fleisch werden.

Dass „die Namen nichts zur Sache“ tun, ist für Schwabs Schreiben insgesamt – wie schon bei dem älteren Forum-Kollegen Gunter Falk[34] – falsch und richtig zugleich. „Die Sprache zerrt die Personen hinter sich her: wie Blechbüchsen, die man an einen Hundeschwanz angebunden hat[35], ist etwa in der Regieanweisung zum Fäkaliendrama „Mein Hundemund“ zu lesen. Andererseits sind da aber die fleischlichen Sprechkörper, die mit ihrem Kinder-„Schnauzl“, „Hundemund“, Drecksmaul, ihrer „Fleischgurgel“[36], mit ihrem Sprechen also, ihr „immer schlecht zusammengebaut[es] ich selber“[37], „eine Eigenheit und ein Eigentum“[38] im Stirner’schen Sinne, „erzeugen (verdeutlichen)[39] wollen, wie es in „Die Präsidentinnen“ heißt. Fleisch und Sprache, beide aus dem „Dreck“ kommend, sind auch in Schwabs Kinderliteratur die beiden Pole, denen – wie in seiner kurzen poetologischen Schrift „Der Dreck und das Gute. Das Gute und der Dreck“ – durch ästhetische Formgebung Gutes abgerungen werden soll:

ALLES ist : sich selber so dreckfadisierend : geradezu geheimdienstlich vorneweg davongeregelt. Und das kann man für ein Beispiel mit so einer Literatur sehr gut zeigend vorspielen. Und das ist ziemlich günstig GUT, weil es womöglich kein totaler Scheißdreck sein muß.[40]

Und wer hätte sich nicht schon einmal einen solchen „Bataschnauzl“ gewünscht, „eine[n] Spiegelgeist“, der den Menschen vor Augen führt, „wie blöde und langweilig sie wirklich“ (FF 13:19-13:25) sind. Der bei Firmenweihnachten und Neujahrsansprachen, bei den Angelobungsfeiern des Bundesheeres auf dem Wiener Heldenplatz, bei Staatsbegräbnissen und wissenschaftlichen Kongressen, Debatten im Hohen Haus über die Klimaziele oder Fernsehdiskussionen zu den sogenannten Chatnachrichten der Ära Kurz den Rednern in die Parade fährt, indem die wohlgesetzten Worte in den immergleichen stereotypen Phrasen einfach durch das Wort/den Namen/die Kennmelodie „Bataschnauzl“ ersetzt werden und damit die babylonische Sprachverwirrung des schönen und verlogenen Scheins durch jenen unheiligen Bataschnauzl-Geist zurückgeführt wird auf das eine Wort, aus dem alles ursprünglich hervorgegangen sein könnte. Dings eben.

 

Daniela Bartens

 

[1] Werner Schwab: Franz und Franziska. Zit. n. der von Ingeborg Orthofer in Zusammenarbeit mit dem Projektteam erstellten Textfassung für die CD. Hier: 13:30-13:35. In der Folge mit Zeitangabe zit. als: FF.
[2] Vgl. die Episode mit Francesca Wasserberg: insbesondere FF 25:11-27:32.
[3] Werner Schwab: Franz und Franziska. Zit. n. Stefan Schwar: „Erzählfetzen : chronologisch“. Notizen zu den frühen Prosaarbeiten Werner Schwabs. In: Werner Schwab. Hrsg. von Gerhard Fuchs und Paul Pechmann. Graz, Wien: Droschl 2000. (= Dossier. 16.) S. 94.
[4] Werner Schwab: Der Himmel Mein Lieb Meine Sterbende Beute. Selbstverfreilicht eine Komödie. In: W. S.: Königkomödien. Graz, Wien: Droschl 1992, S. 226.
[5] Schwab, Franz und Franziska, zit. n. Schwar, Erzählfetzen, S. 95.
[6] Ebda.
[7] Vgl. FNI-Schwab-1.1.C3, Bl. C03043 im Nachlass am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung. URL der Bestandsübersicht: https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/bestaende/bestandsuebersicht/schwab-werner/ mit Link zum Bestandsverzeichnis. Die jeweiligen Blattangaben beziehen sich auf die mit dem Nachlass miterworbenen Transliterationen.
[8] Vgl. Barbara Belic im Gepräch mit Künstlerfreunden Werner Schwabs. Mit Begleittexten von Daniela Bartens. Hier: Gespräch mit János Erdödy. 3:50-4:32. Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Objekt des Monats: Jänner 2019. URL: https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/barbara-belic-im-gespraech-mit-kuenstlerfreunden-werner-schwabs-2014/. Aufgerufen am: 29.12.2023.
[9] Vgl. Werner Schwab: Offene Gruben Offene Fenster. Ein Fall von Ersprechen. Komödie. In: Schwab, Königskomödien, S. 7-61.
[10] Vgl. Daniela Bartens: Werner Schwab: Abgesagt und angesagt – Korrespondenz 1983 bis 1993. Mit einem Verzeichnis der Briefe der Korrespondenzpartner bzw. der Briefentwürfe Werner Schwabs in chronologischer Reihenfolge mit Links zu Abbildungen der einzelnen Korrespondenzstücke. Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Objekt des Monats: März 2017. URL: https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-maerz-2017/. Aufgerufen am: 29.12.2023.
[11] Vgl. Belic, Gespräch mit János Erdödy, 18:09-19:28.
[12] Vgl. FNI-Schwab-1.1.B6.
[13] Vgl. FNI-Schwab-1.1.C2, Bl. C02009.
[14] Vgl. ebda., Bl. C02012-016.
[15] Ingeborg Orthofer: Nachwort. In: Werner Schwab: Joe Mc Vie alias Josef Thierschädl. Roman. Graz, Wien: Droschl 2007, S. 118.
[16] Vgl. FNI-Schwab-1.1.B10, Bl. B10047-056.
[17] Vgl. FNI-Schwab-1.1.C3, Bl. C03035-056.
[18] Ebda., Bl. C03070
[19] Vgl. Daniela Bartens: Frühe Publikationsbemühungen bis hin zum Erfolg [Korrespondenzverzeichnis]: Galerie 26: Dramolett mit Anfrage W. Sch. AN BURGTHEATER v. 23.6.1988 sowie Absage DRAMATURGIE BURGTHEATER v. 28.12.1988, veröffentlicht anlässlich der posthumen Inszenierung durch Peter Wittenberg ebendort. In: D. B., Objekt des Monats, März 2017: https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-maerz-2017/. Vgl. auch den direkt an die „Präsidentinnen“-Niederschrift (C03070-119) anschließenden korrespondierenden hs. Briefentwurf in C3, Bl. C03120.
[20] Vgl. ebda., Galerie 17 plus Transkription.
[21] Vgl. ebda., Galerie 07.
[22] Vgl. ebda., Galerie 18.
[23] In der hs. Originalfassung steht hier „Volk“ anstelle von Dorf. Vgl. FNI-Schwab-1.1.C3, Bl. C03056.
[24] Schwar, Erzählfetzen, S. 96.
[25] Vgl. ebda., Bl. C03062-068.
[26] Ebda., Bl. C03001. Schließlich ist in C3 auch noch eine dritte Stelle mit einer kurzen, nur aus einem einzigen Satz bestehenden „Zauberhasen“-Wiederaufnahme zu finden: direkt im Anschluss an den Hauptteil von „Die Präsidentinnen“, noch bevor die ursprüngliche Fassung des Endes als Fernsehshow ausformuliert wird. (Vgl. ebda., Bl. C03115)
[27] Vgl. FNI-Schwab-1.1.C8, Bl. C08064-068.
[28] Vgl. ebda., Bl. C08067f.
[29] Werner Schwab: Die Wurst und der Strudel. Zit. n. der von Ingeborg Orthofer in Zusammenarbeit mit dem Projektteam erstellten Textfassung für die CD. Hier: 00:27-00:30. In der Folge mit Zeitangabe zit. als: WS.
[30] Vgl. Lizzi Kramberger, Ingeborg Orthofer: Editorische Notiz. In: Werner Schwab: Abfall, Bergland, Cäsar. Eine Menschensammlung. Mit einem Nachwort von Elisabeth Strowick. Graz, Wien: Droschl 2008. (= Werke. Hrsg. von I. O. 2.) S. 131.
[31] Insbesondere das neu hinzuerfundene kongeniale Ende des Texts, in dem in einem orgiastischen Furioso schließlich alles „verbataschnauzelt“ wird und nur mehr das eine Wort ohne konkrete Bedeutung als Musik hörbar ist (FF 37:10-40:46), muss hier erwähnt werden.
[32] Ingeborg Orthofer: Editorische Notiz zu den (derzeit noch unveröffentlichten) Kindergeschichten. Booklet zur CD.
[33] Vgl. ebda.
[34] Vgl. Gunter Falk: analytische präliminarien. In: G. F.: Die Würfel in manchen Sätzen. Spenge: Ramm 1977, S. 156f., wo die Redewendung leitmotivisch wiederkehrt und das verworrene Wechselspiel zwischen Namen und Bedeutung ironisch kommentiert wird, indem sich der gesamte Text geradezu aus den Namen herausentwickelt: „doktor freud (der name tut nichts zur sache) hatte einen jungen und einen vogel. der junge doktor freuds hieß jung (der name tut nichts zur sache). doktor freuds vogel hieß aber nicht vogel sondern adler (der name tut aber nichts zur sache).“ (S. 156)
[35] Werner Schwab: Mein Hundemund. Das Schauspiel. In: W. S.: Fäkaliendramen. Graz, Wien: Droschl 1991, S. 181.
[36] Vgl. ebda., S. 185.
[37] Ebda., S. 216.
[38] Ebda., S. 232.
[39] Werner Schwab: Die Präsidentinnen. Drei Szenen. In: W. S., Fäkaliendramen, S. 13.
[40] Werner Schwab: Der Dreck und das Gute. Das Gute und der Dreck. Graz, Wien: Droschl 1992. (= Essay. 15.) S. 38.

veröffentlicht am 8. Januar 2024 in Objekt des Monats