Was uns gestachelter Draht und elektrischer Strom verwehren. Adalbert Schremmers Gedicht Wolken über Dachau
veröffentlicht am 1. Februar 2018 in Objekt des Monats
Hs. Entwurf des unveröffentlichten Gedichts „Wolken über Dachau“. K[ottern], 22.1.1944. Nachlass Adalbert Schremmer am Franz Nabl-Institut für Literaturforschung.
Wie zahlreiche andere ehemalige Häftlinge der nationalsozialistischen Konzentrationslager schrieb auch der gebürtige Wiener und Wahlsteirer Alois Wladimir Adalbert Schremmer nach seiner Befreiung durch US-amerikanische Truppen aus Kottern-Durach, einem Außenlager des KZ Dachau, literarische Texte, die den Versuch einer Bewältigung seiner dreijährigen Lager-Erfahrung darstellen.
Schremmer, der am 8. August 1942 als ‚Zugang‘ in Dachau registriert wurde, war aus politischen Gründen bereits seit dem „Anschluss“ 1938 im Visier der NSDAP, die ihn am 12. März erstmals für zwei Monate inhaftierte und mit einem Berufsverbot belegte. In der Folge war er aus politischen Gründen „noch fünfmal verhaftet“ worden – so eine „Amts-Bescheinigung“ der Bezirkshauptmannschaft Murau vom 22. Dezember 1947 –, insgesamt war er eineinhalb Jahre in Gefängnissen und „vier Monate bei Zwangsarbeit im Straßenbau unter SA-Bewachung“, weil die „Haltung und [das] Beispiel“ des Schriftstellers und ehemaligen Verlagsleiters ihn der Gestapo „gefährlich erscheinen“ ließ.
Als Sohn von Eduard und Maria Schremmer (geb. Hornicek) am 23. April 1882 in Wien geboren, schloss Schremmer eine Lehre zum Buchhändler ab und verließ Österreich dann Richtung München, wo er für den Musarion Verlag arbeitete. Von dieser Tätigkeit zeugt ein mit Jugendstilornamenten verzierter Verlags-Almanach aus dem Jahr 1920, der Erst- und Vorabdrucke des zum George-Kreis zählenden Henry von Heiseler, Harry Kahn, einem Mitarbeiter von Max Reinhardt, der auch für die „Weltbühne“ schrieb, und Wilhelm Speyer versammelt.
Bereits 1914 hatte Schremmer ein „Taschenbuch auf das Kriegsjahr 1914/15 für Deutschland und Oesterreich-Ungarn“ herausgegben, mit Texten von u. a. Ricarda Huch, Richard von Schaukal sowie Hermann Bahr und illustriert von Wilhelm Thöny, dem Mitbegründer und ersten Präsidenten der Grazer Sezession, herausgegeben.
Der Musarion Verlag war ein während der Inflationszeit von Franz Schoenberner, dem späteren Herausgeber des „Simplicissimus“, mitbegründetes Unternehmen, an dem sich u. a. auch Ödön von Horváth eine Zeit lang als Mitarbeiter beteiligte. Der Verlag führte vor allem neuere Weltliteratur und eine Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches im Programm.
In den Jahren 1924 bis 1925 gab Schremmer die Buchhandelszeitschrift „Münchener Bücher-Bericht“ heraus, die später unter dem Titel „Deutscher Bücher-Bericht“ erschien und sich dem literarischen Leben der Landeshauptstadt widmete. Von 1927 bis 1929 fand die Zeitschrift eine Fortsetzung in den „Münchner Mitteilungen für künstlerische und geistige Interessen“, die Schremmer als Herausgeber in Verbindung mit den kulturellen Verbänden und Institutionen Münchens herausgab. Schremmer, der während des Ersten Weltkriegs als Unteroffizier in der k.u.k.-Armee gedient hatte, lebte ab 1929 in Lind bei Scheifling (Bezirk Murau/Steiermark) und war als freier Schriftsteller tätig. Neben zahlreichen Artikeln und literarischen Texten, die u. a. in der Zeitschrift „Atlantik“ erschienen, fertigte Schremmer auch das Textbuch der fragmentarischen Mozart-Oper Lo Sposo Deluso oder Der betrogene Bräutigam an, die in der musikalischen Einrichtung des Komponisten und Schriftstellers Ludwig Kusche (1901–1982) im Februar 1929 am Landestheater Gotha uraufgeführt wurde. Das Textbuch sollte später in das Programm des Georg Marton Verlags aufgenommen werden.
Nach 1945, also sechs Jahre vor Theodor W. Adornos Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu verfassen sei „barbarisch“, erschienen dutzende Berichte, Broschüren (z. B. im Wiener Stern-Verlag) und literarische Werke, die Zeugnis über die ‚Ordnung des Terrors‘ ablegen sollten. Stilistisch oszillierten viele dieser Werke zwischen Literatur und Reportage, ebenso erfuhren die eigenen Erfahrungen eine Mythisierung oder Affirmation ins Religiöse. Die Verfasser dieser frühen österreichischen Lagerliteratur können allen politischen Lagern zugeordnet werden. Es finden sich ehemalige Anhänger des austrofaschistischen Ständestaates ebenso wie Sozialdemokraten, Kommunisten, Katholiken und auch Monarchisten. Dies veranlasste Edwin Rollett, den Präsidenten des „Verbandes demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs“, bereits Ende 1946 davon zu sprechen, dass die „KZ-Literatur, die Memoirenwerke aus den Leidensjahren, die größeren und kleineren Reportagen über die Menschenschlächterei und die Folterlager der Hitler-Zeit, ein eigener und sogar recht umfangreicher Zweig der österreichischen Literatur geworden“ wären. Zu nennen sind u. a. Christus im Konzentrationslager (1946) des Priesters und Widerstandskämpfers Leonhard Steinwender, O Buchenwald! (1945) von Julius Freund, für das Franz Theodor Csokor ein Vorwort verfasste. Mit Wenn die Nacht weicht (1946) schrieb Viktor Reimann, der spätere Mitbegründer des „Verbands der Unabhängigen“ (VdU) das „besinnliche Tagebuch eines Häftlings“. Der „Bericht aus fünf Jahren Konzentrationslager“ des kommunistischen Widerstandskämpfers Manfred Schifko-Pungartnik mit dem Titel Leichenträger ans Tor! (1946) erschien im Grazer Verlag Moser und Hugo Hupperts „Balladenpoem“ Der Heiland von Dachau (1945) als Sonderheft der „Wiener Revue“. Der sozialdemokratische Ökonom Benedikt Kautsky, der Anfang der 1950er Jahre an der Universität Graz unterrichtete, verfasste mit Teufel und Verdammte (1946) einen politisch-analytischen Text, der sich mit Eugen Kogons Der SS-Staat. System der deutschen Konzentrationslager (1946) und Paul Martin Neuraths Die Gesellschaft des Terrors (2004, entstanden 1943) vergleichen lässt. Der katholische Publizist Rudolf Kalmar und spätere Chefredakteur der Tageszeitung „Neues Österreich“ schrieb mit Zeit ohne Gnade (1946) über seine siebenjährige Internierung in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg. Einer der kanonischsten Texte über die Lagererfahrung bleibt bis heute Viktor E. Frankls Trotzdem ja zum Leben sagen (1946).
Auch Schremmer legte als Überlebender der Lager Zeugnis ab. Sein Nachlass birgt, neben dem unveröffentlichten Prosawerk Christus in Dachau, ein Konvolut von handschriftlichen Gedichtentwürfen und -fassungen eines unbetitelten und unpublizierten Zyklus, der hochautobiographisch die Zeitgeschichte von 1927 bis 1954 aus der Perspektive eines unmittelbar Betroffenen fasst. Oftmals sind mehrere Gedichte einem bestimmten Jahr zugeordnet, welche die Einschnitte und Brüche der österreichischen (Zeit-)Geschichte betreffen. Einige dieser unveröffentlichten Gedichte sind seiner Lager-Erfahrung gewidmet, u. a. KZ und Wolken über Dachau. In ungereimten und freien Versen setzt der Katholik Schremmer dem Lageralltag das Bild einer jenseitigen Idylle entgegen, die angesichts der Erfahrung einer allgegenwärtigen lebensbedrohlichen Situation eine Art transzendente Freiheit verspricht. Ob die Entstehung und Niederschrift des Gedichtes tatsächlich während seiner Internierung erfolgte oder die Datierung mit 22. Jänner 1944 eine nachträgliche ist, lässt sich aufgrund der überlieferten Textträger nicht zweifelsfrei klären.
Als Zeuge des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm) lebte Schremmer bis zu seinem Tod am 13. August 1960 in Judenburg als ‚Tabakhauptverleger‘.
Stefan Maurer
Für biographische Informationen dankt der Verfasser Rainer A. Otto (Berlin)