#WasKannLiteratur
Im Herbst 2018 fragten die Österreichischen Häuser der Literatur die interessierte Öffentlichkeit: #WasKannLiteratur
Jean-Paul Sartre formulierte in einem Gespräch über engagierte Literatur: „Es geht der Literatur nicht darum aufzuklären, sondern dem Leser eine Art totalen Sinn seiner selbst zu geben. Den Eindruck, daß er einen Augenblick der Freiheit erlebt hat, indem er sich selber entging und mehr oder weniger klar seine gesellschaftlichen Bedingtheiten verstand. Wenn der Leser diesen Augenblick der Freiheit erlebt hat, …, dann wird er das nicht mehr vergessen. Das kann die Literatur.“
50 Jahre später fragen die Österreichischen Häuser der Literatur erneut: Was kann Literatur? Fällt uns auf diese Frage noch immer die Setzung von Freiheit als erste Antwort ein? Oder denken wir an die Durchdringung des Betriebes durch Kommerz? Wo steht die schreibende Kunst zwischen Unterhaltung, Tradition und Anspruch? Wo steht Literatur zwischen Ästhetik, Politik und Show?
Eine erste Auswertung fand im Rahmen bundesweiter Aktionstage und unter Einbindung zahlreicher AutorInnen im Oktober 2018 in Linz, Bregenz, Innsbruck, Graz, Mattersburg, Salzburg, Wien und Klagenfurt statt.
Lesen hier Statements von Sabine Hassinger, Ilma Rakusa, Heinrich Steinfest und Josef Winkler nach.
veröffentlicht am 20. Juni 2023 in Allgemein
Bloggen heißt locker drauflos plaudern? Ist es das, was ich lerne für diesen Ort über die Anfrage bitte Blogbeitrag Was Kann Literatur? Gerade sitze ich noch in der Fahnenkorrektur einer fünf Jahre währenden Arbeit und soll mich nun, mal eben zwischendurch, zum Bloggen auf die andere Seite rollen und mir vorstellen, dass ich ja nur blogge, stell dich nicht so an. Was Kann Literatur – ist das nicht ein Forschungsthema? wer interessiert sich dafür? ein Literaturhaus interessiert sich dafür? Was habe ich zu verlieren? Ich habe bei dieser Angelegenheit nichts zu verlieren, ach so, es geht gar nicht um mich, das ist Material für ein Thema für ein Literaturhaus, das mit der Universität zusammenarbeitet. Erbeten sind maximal zwei Seiten, bitteschön. Kann Literatur mir helfen, aus dieser Unannehmlichkeit wieder raus zu finden? Gewiss gibt es schon lange interessante Abhandlungen zu diesem Thema, nichts davon habe ich in jüngerer Zeit gelesen, auch wunderbare Aussagen von LieblingsautorInnen, die gut zu dieser Frage passen würden, sind mir ohne Recherche nicht präsent. Der Auftrag muss dem Rahmen entsprechend erledigt werden, Honorar wie für eine Tuttispielerin eine Probe und ein Konzert. Und wie sind die Erwartungen an einen Blogbeitrag? darf ich meine Aussage zum Thema wirklich aus dem Ärmel schütteln? Was kann Literatur dafür? Literatur kann alles. Literatur zählt zu den Gattungen der Kunst. So ist zu verstehen was Literatur kann. Sie ist ein Kunstwerk. Im Unterschied zu einer solchen Kunst, die als fertiges Ding auch mit wenigen Blicken notfalls grob erfasst werden kann, braucht es Zeit, das literarische Kunstwerk zu erfassen, es muss ein Prozess vollzogen werden! beim Wort für Wort von Anfang bis Ende alles lesen. Und im Unterschied zu Klang und Musik als Kunstwerk, wo alle sagen dürfen ich kann nicht singen, ich spiele kein Instrument, wird von Menschen erwartet und vorausgesetzt, dass sie Literatur, ein Kunstwerk, allein deshalb verstehen können oder müssen, weil sie lesen, die sind dann oft enttäuscht. Das Kunstwerk Literatur kann mehr als diejenigen können, die lesen gelernt haben und kann mehr als gebildete Menschen, die das Lesen mit schnellstmöglichem Verstehen verwechseln, dekodieren, bewerten in der eigenen Welt und in eine Schublade einsortieren. So kann ein Kunstwerk Literatur schnell Freunde und Feinde gewinnen. Das Kunstwerk Literatur räumt mit den Missverständnissen nicht auf. Denken Sie nur an Ihre Lieblingsliteratur, würdest Du sagen das ist ein Kunstwerk? Außerdem sehen die Beschreibungen, Theorien und Kritiken für jede Gattung der Kunst aus wie Literatur. Sie werden dann besser verstanden als die Literatur selbst, wenn die Leute ihre Art zu denken und ihr Bewusstsein in ihren Schriftstücken über Literatur wiedererkennen und sich darin wiederum ein anderer wiedererkennt in den Feuilletons usw., der diesen Bezüglichkeiten mehr abgewinnt, als der Literatur selbst, was kann Literatur dafür? Was kann Literatur machen, um als freies Kunstwerk zu leben? Ich erlaube mir, zu tun was ich kann, aber denke ich was Literatur kann? soll ich mir etwas ausdenken oder soll ich zuerst das Buch von Sebastian Kiefer lesen Was Kann Literatur. Stellen sich Menschen untereinander vor und sagt einer ich bin Künstler, dann sage ich bisher nicht selbstverständlich ich bin Künstlerin, ab jetzt sage ich das. Literatur ist Kunst und Literatur kann alle Künste mit dem tragen, woraus Literatur gemacht ist, mit Worten etwas tragen. Wer oder was die Kunst trägt war immer von allergrößtem Interesse für die Psychoanalyse. Das Werkzeug für Literatur ist die Psyche mit allem drum und dran. Literatur trägt sich, trägt die Psychoanalyse, trägt die Kunst, muss hier aufhören, was fehlt? Alles! Literatur kann alles, kann die ganze Welt erfassen wiedergeben und verbinden, die Wahrnehmung die Empfindung, das Wissen das Gefühl, die Frage Mitteilung Erkenntnis Ahnung Fantasie, der Schock, das Spiel das Kalkül, Literatur kann Bewusstsein schaffen und langfristig pflegen. Literatur kann Menschenkopf in Welt halten während Wort für Wort der Prozess des geschrieben Gesagten oder laut Gesagten als Schmaus, was kann Literatur dafür, dass sie Zeugnis ablegt, auch von Prozessen, die in den Worten stecken, die den Umgang mit Worten zeigen oder da raus wollen.
Die Frage klingt so, als stünde die Literatur unter Rechtfertigungszwang und müsste beweisen, wozu sie taugt. Warum eigentlich? Wem ist sie Rechenschaft schuldig? Wer wagt es, an ihrem Sinn zu zweifeln? Es genügt, auch nur eine einzige Seite von Dostojewski, Döblin, Joyce oder Mayröcker zu lesen, und die Antwort ist parat: Die Literatur kann alles, wenn sie es denn kann und will. Das heisst, wenn sie ihren Anspruch nicht herunterschraubt oder gar opfert zugunsten von Marktgängigkeit usw. Die Gefahr heute ist gross, der Mainstream übt massiven Druck aus.
Wir leben bekanntlich in einer Zeit inflationärer Meinungsmache, wo jede beliebige (noch so dürftige) Äusserung im Netz tausendfach verbreitet wird. Tempo und Emotion zählen mehr als Gedanke und sorgfältige Formulierung, klare Durchsagen mehr als differenzierte Erwägungen. Hauptsache, man erzielt Wirkung und wird ge“like“t. Alles andere gilt als zu anstrengend.
Gute Literatur lässt sich nicht vereinnahmen und schielt nicht auf Erfolg. Sie tut, was sie muss: indem sie der Phantasie Raum gönnt, differenziert, statt sich in Schwarzweissmalerei zu ergehen, indem sie mit poetischer Vieldeutigkeit, Metaphern und Wortspielen operiert und den Reichtum der Sprache auch klanglich ausschöpft. Ganz egal, wovon sie handelt, auf dieses Wie kommt es an. Denn nur dadurch wird Literatur suggestiv, innovativ, provokativ, entfaltet sie visionäre Kräfte und vermag den Leser zu berühren, ja aufzurütteln, oder für Details, aus denen das Leben ja grösstenteils besteht, nachhaltig zu sensibilisieren.
Gute Literatur hat das Zeug zur Zeitlosigkeit. Anders als die schnellen Medien setzt sie auf Gestaltung, ja Verwandlung: indem sie ihr Material kunstvoll formt, entzieht sie es willkürlichem Verschleiss und raschem Konsum.
Und selbstverständlich ist Literatur, die diesen Namen verdient, komplex (im Unterschied zu politischen Verlautbarungen oder massentauglichen Ratgebern) und bewegt sich nicht in einer Komfortzone. Auch fordert sie dem Leser einiges an Mitarbeit ab. Das mag anstrengend sein, lohnt sich aber allemal.
Ein Beispiel, denn ohne Beispiele bleibt das Gesagte zu abstrakt. Ich wähle ein Gedicht von Marion Poschmann aus dem Band „Geliehene Landschaften“ (2016). Es heisst „Vorschriften zum Gebrauch des Gemüts“ und spielt in Finnland:
Nur weil die Dinge sich änderten, ein gelbes Blatt seinen
Platz verliess, lässt ihre Überzeugungskraft nicht nach.
Nur weil die Blätter in glatten Spiralen auftreiben,
hat diese Landschaft noch keine Rückseite. Übe
Genügsamkeit. Hüt dich vor Überdruss. Es ist die Stunde
nachmittagsstiller Birken, bevor alle Dinge
kippen. Es ist die Stunde schmelzender Polkappen,
tauender Taiga. Jeder gefilzte Felsen im
Dekorationsgeschäft möchte ein guter Verlierer sein.
Neun Zeilen – und eine ganze Welt. Mit Birken, Klimawandel, leichter Melancholie und ironischen Fingerzeigen. So redet im Alltag keiner; das ganze Diskurs-Blabla, das täglich über uns hereinschwappt, ist meilenweit entfernt. Und doch geht es nicht um irgendein Stimmungsbild, das uns egal sein könnte. Der elegische Ton ist begründet und trifft einen Nerv unserer Zeit, in den Kippmomenten des Gedichts oszillieren Weisheit und Witz. Was sich im Übrigen auch am Titel ablesen lässt.
Literatur? Und ob. Auf knappstem Raum tun sich hier Perspektiven auf, die uns angehen. Und die Sprache weiss in jedem Laut, wozu sie gut ist.
Das weiss sie auch bei Friederike Mayröcker, wenn auch auf ganz andere Art. Ich zitiere aus „Mythos und Schwalbe“ (2018), dieser sprachekstatischen Text-Collage, deren Assoziations- und Zitatfülle im Leser einen „Flow“ auslöst:
„…Schwester Margareta im Plüschsessel ihre Beine vor sich hin streckend ausstreckend: war dies eine Pose heimlicher Schamlosigkeit, das menschliche Hirn ist nicht kommunistisch! die vergilbte Mutter, auf alter Fotografie, was ist denn aus uns geworden, schreibe ich an Valérie B., Aristoteles beklatschte die Einheit von Zeit und Raum, usw., möchte die ganze Zeit nur im Bette liegend im Mondschein im powder room (Ann Cotten), habe eine Stunde lang gefrühstückt, schlafe gerne auf rechtem Ohr dessen Läppchen…… Schwester Reinhild hält grosze Lupe über den Text des Stundenbuchs, habe einen Lichtenberg und die Notizbücher v.Achim Freyer bestellt. Ist die frz.Sprache eine Sprache der raison? ich werde gewaschen gewogen ich werde gemessen gezogen ins Himmelreich Puls 95, Allegorie eines Traums.“
Das ist radikal subjektiv, exzentrisch und exzessiv, aber von einem unwiderstehlichen Sog, der – zumindest bei mir – die Phantasiearbeit enorm anregt. Man muss nicht alles verstehen (wollen), denn Mayröckers Denken und Syntax gehorchen eigenen Gesetzen. Aber man sollte sich diesem rücksichtslosen Alterstext mit seinen „Erfindungen und Delirien“ anvertrauen und seine existenziellen Abgründe und dunklen Erinnerungslabyrinthe ausloten. So wie Mayröcker hat noch niemand von ihnen gesprochen.
Gute Literatur ist einzigartig und unverwechselbar. Ein Gemeinplatz? Sei’sdrum. Mehr muss auch nicht gesagt werden. Literatur will gelesen sein.
Also ich will da nicht irgendwo ganz unten und bescheiden anfangen und über den Nutzen für die Papierindustrie, das Verlagswesen und das Anfüllen von Freizeit sprechen, oder über den Umstand, daß es ohne Literatur auch keine Literaturkritiker gäbe, die darum als Sportreporter arbeiten oder die Wetternachrichten sprechen müßten. Und wer würde das wollen?
Ich will ganz oben anfangen und sagen, daß die Literatur Leben retten kann. Und zwar im Ernst. Ich meine also nicht solche Geschichten, wie man sie mir – wahrscheinlich, weil ich als Krimiautor gelte – gerne zuträgt, etwa die, jemand sei von einer verirrten Kugel getroffen worden, die auf Höhe des Herzens in seine Brust eingedrungen war, und er hätte nur darum überlebt, weil sich in der Innentasche seines Sakkos eines kleines Diogenestaschenbuch befunden habe. Etwas von Dürrenmatt, keine hundert Seiten, die Physiker wohl, und daß also die Kugel, bevor sie in die Person eindringen konnte, in das Buch eindrang. Klar, das war nicht Der Mann ohne Eigenschaften, in dem eine solche Kugel richtiggehend hätte steckenbleiben können, aber den trägt auch keiner in seiner Sakkotasche herum. Und doch wurde dank dieses schmalen Bands von hundert Seiten das Projektil in einer Weise abgebremst und vor allem abgelenkt, daß sie nicht in das Herz gelangen und sich dort tödlich auswirken konnte.
Nein, woran ich denke, ist der Moment, als eine Leserin mir eins meiner Bücher zum Signieren hinlegte und erklärte, dieses Buch habe ihr das Leben gerettet. Dabei war es natürlich kein Ratgeberbuch in der Art von Endlich Fünfzig! oder Das Glück der Niederlage oder Yoga für Alkoholiker, sondern einfach ein Roman. Ein Roman, der das Schicksal einer Figur beschreibt. Und in deren Schicksal sich diese Leserin wiedergefunden hatte. Allein aus diesem Wiederfinden konnte sie jenen Trost beziehen, der ihr half … ich weiß gar nicht, ob man sagen kann, eine Krise zu bewältigen. Sondern besser, die Krise zu verstehen, und aus dem Verstehen heraus in der Krise etwas wie eine Heimat zu erkennen.
Im ersten Absatz des Vorwortes zu seinem Tractatus Logico-Philosophicus schreibt Ludwig Wittgenstein etwas, das mir als der wesentlichste Punkt seines Textes erscheint und eigentlich auch als der wesentlichste Punkt aller Texte. Er sagt: „Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre erreicht, wenn es Einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete.“
Literarische Werke besitzen niemals die destruktive Kraft von Lehrbüchern oder Ratgebern oder Aufklärungsbroschüren oder ideologischen Schraubenziehern. Sondern liefern Beschreibungen, die denen, die sie mit Verständnis lesen, Vergnügen bereiten. Verständnis und Vergnügen bedingen sich in der Art einer Bewegung, die eine bestimmte Technik erfordert – wie das etwa beim Schwimmen der Fall ist. Aber zum Schwimmen gehört eben auch ein Gewässer, in das der Schwimmende steigt. Und Gewässer ist nicht gleich Gewässer. Manche benötigen die Glätte und Transparenz eines Pools, andere einen Wildbach, manche bevorzugen die unüberschaubare Unheimlichkeit des Meers, andere den subtilen Horror eines Sees, und einigen reicht die theoretische Endlosigkeit einer Badewanne.
Das Angebot der Literatur ist die Palette jeder tatsächlichen wie erträumten Form von Gewässer, in das Leser sich zu begeben verstehen.
Die Techniken des Lesens – vom leidenschaftlichen Rückenschwimmen über das sportive Kraulen zum kindhaften So-lange-als-möglich-unter-Wasser-Bleiben, bis hin zu jenen Leuten, die es verstehen, regungslos dahinzutreiben, ohne unterzugehen – ergeben die Palette des vom Verständnis getragenen Vergnügens.
Wobei sich das Vergnügen nicht zuletzt auch aus der Gegenseitigkeit ergibt, indem sich nämlich nicht nur der Leser vom Buch verstanden fühlt, sondern auch das Buch vom Leser. Denn in der Tat entsteht zwischen den beiden genau jenes energetische Verhältnis, das letztlich auch das Buch am Leben erhält.
Die Frage, was Literatur kann, trifft immer auf die Frage, was der Leser kann. Es ist die Symbiose, die beide beglückt. Und wenn in dieser Welt ein guter Geist wirkt, so wird er hoffentlich zusehen, daß jedes Buch – und das ist nicht zynisch oder ironisch gemeint – einen Leser bekommt, den es retten kann.
WORTGRENZEN, SPRACHGRENZEN
Bereits als Jugendlicher, als ich noch in die Handelsschule ging, las ich Weltliteratur, die Unterhaltungsliteratur, in der ich auch dann und wann geschmöckert hatte, interessierte mich nicht. Später las ich in den Tagebüchern des berühmten französischen Dichters Julien Green, der übrigens in Klagenfurt in der Stadtpfarrkirche begraben liegt: „Die Unterhaltungsliteratur wird vom Teufel geschrieben. Und wir werden wohl nie erfahren, was diese Art von Literaturgattung in der Menschheitsgeschichte angerichtet hat.“ Von den Büchern, die ich mit mir in eine Ledertasche – Leder ist Haut – herumtrage, lese ich am liebsten die, die ich mühsam entziffern, Satz für Satz erobern muß, denn sobald mich die Sätze in einem Buch beim Lesen mitzutragen beginnen, ich ihre Leichtigkeit, Lockerheit und Selbstzufriedenheit zu spüren, ja auch zu genießen beginne, lege ich das Buch weg und höre zu lesen auf. Wenn sich mir ein Satz nicht wie ein Mühlstein um den Hals hängt, wozu soll ich ihn dann loswerden? „Nichts, was das Leben staut wie das Lesen; Lies! Staukraftwerk Lesen“ heißt es im Notizbuch „Gestern unterwegs“ bei Peter Handke, dem wohl größten europäischen Schriftsteller, der übrigens in Kärnten, in Griffen, aufgewachsen ist. „Der Schriftsteller ist derjenige, dem das Schreiben schwer fällt!“ heißt es bei Thomas Mann. Wir kämpfen mit der Sprache, wir stehen im Kampf mit der Sprache. Manchmal schreibe ich einen Satz zwanzig, dreißigmal um, bis er es wert ist umformuliert oder zerstört, um dann noch einmal als Satzkonstrukt neu auf die Beine gestellt zu werden, denn Schreiben ist im Sinne von Karl Marx auch Arbeit, deshalb auch haben Alois Brandstetter und ich, als wir beide, er als Germanstikprofessor, ich als Schreibkraft in den Achtzigerjahren an der Hochschule für Bildungswissenschaften, eine Literaturzeitschrift mit dem Namen „Schreibarbeiten“ herausgegeben. Die literarischen Texte für diese Zeitschrift habe ich auf einem sogenannten „Composer“ abgetippt, im Keller der Hochschule für Bildungswissenschaften in der Keltengasse vervielfältigt und die Hefte in die Buchhandlungen getragen. Außerdem haben Alois Brandstetter und ich von meinem Büro der Hochschule für Bildungswissenschaften aus, Autorenlesungen organisiert, weit über hundert Autorinnen hatten wir aus dem In- und Ausland über Jahre nach Klagenfurt eingeladen.
Ein anderes zwölfjähriges Kind aus meinem Heimatdorf sagte einmal zu mir: „Ich habe schon alles hinter mir! Ich bin schon mit dem Auto auf dem Feld gefahren, ich bin Traktor gefahren…“ Geworden ist aus diesem Kind ein Lastwagenfahrer, was wir natürlich auch brauchen. Den jungen Menschen, besonders an der Universität, erlaube ich mir zu sagen, daß sie sich nichts eintrichtern lassen sollen. Sie sollen, möchte ich damit sagen, das Gelernte, das auch gelernt werden muß, als kreatives Sprungbrett benutzen, soviel wie möglich Eigenes dazudenken und dazusagen und wenn es sein muß und erlaubt ist, besonders in den Geisteswissenschaften, auch dazufantasieren, denn sonst verwandelt sich das Wort mit dem „Eintrichtern“ in ein bedrohliches Bild: Im Kopf des jungen Menschen stelle ich mir ein Loch vor. In dieses Loch wird ein Trichter hineingeschoben und von jemanden, der sich für einen Lehrer hält, der Kopf des jungen Menschen aufgefüllt mit Dingen und Wissen, das sie dann ebenfalls eines Tages ausspucken und vielleicht später genauso weiter geben können, nämlich wiederum in einen Trichter, der im Kopf eines jungen Menschen steckt und ihn in diesem Sinne volladet mit Brauchbarem und Unbrauchbarem.
Wenn ich einmal in einem Gymnasium zu einem Vortrag unterwegs bin, sage ich meistens zu den Schülern bei der Diskussion, daß nämlich diejenigen, die in einem Monat tausende SMS verschicken, die Sprache verlieren werden, daß sie sich eines Tages nicht mehr in ganzen Sätzen werden ausdrücken können, weil die meisten SMS nur eine verkrüppelte Sprache sprechen, daß man also durch Lesen und durch Schreiben die Sprache nicht nur lernen, sondern daß man über diese Art von Verknappung und Verkürzung durch SMS die Sprache auch verlernen, auch verlieren kann. Ich weiß nicht einmal, wie man ins sogenannte „Instagram“ hineinkommt, ich habe so etwas nicht auf meinem einfachen Handy. Ich nenne es „Finstergram“ und „Instagrimm“ und frage manchmal die jungen Leuten, wie lange sie noch in diese, wie ich sie manchmal nenne, „Jauchegrube“ hineinschauen wollen. Der Narziß im Spiegelbild der Jauchegrube! Hoffentlich beugt er sich nicht zu weit vor!
Schreiben lernt man, und man kann es bis zu einem gewissen Grad auch tatsächlich lernen, durch das Lesen guter Bücher und durch das konsequente, disziplinierte Schreiben, durch wiederholte Schreibversuche, wenn man bereit ist, den Kampf mit der Sprache, die wir doch so oder so täglich benutzen, aufzunehmen und auch eine risikovolle und risikoreiche Sprache zu verwenden. „Schreiben drängt zum Gefährlich sein. Es muß gefährlich sein.“ Heißt es bei Peter Handke. Und Franz Kafka schreibt: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen.
Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ So Franz Kafka.
Und wer durch das Lesen guter Bücher und auch durch das eigene Schreiben, seine Sprache sensibilisieren kann, dem wird dieser Satz von Oscar Wilde zur Möglichkeit, wenn er mit jemanden spricht und etwas Besonderes erfahren will: „Schon am Klang deiner Worte werde ich erfahren, ob du die Wahrheit sagst!“ Sagt also Oscar Wilde in einem der berühmtesten Briefe der Weltliteratur, den er aus dem Gefängnis an seinen jungen Freund richtet und der unter dem Buchtitel „De Profundis“ nachzulesen ist. Und mit einem Satz des großen ungarischen Dichters Peter Esterházy, der leider vor kurzem viel zu früh verstorben ist, lasse ich Sie jetzt alleine: „Weißt du, mein lieber Freund, Sätze sagen, das kann ich auch!“