Wilhelm Hengstlers Wanderjahr 1964 oder The Hitchhiker’s Guide to Iceland

Notizheft „Island 1964“, A5, orange, 48 Bl., kariert, davon 29 größtenteils beids. beschr., hs. pag. 1-30, 25.05.1964 bis 06.03.1965. [inkl. 3 losen Blättern] [Reiseaufzeichnung Island 1964 und Wien 1965]

„Warum macht man eine Reise, wenn man es zuhause angenehm hat und schön?“ Mit dieser Frage beginnt ein oranges Notizheft mit dem Titel Island 1964 aus dem Vorlass von Wilhelm Hengstler am Franz-Nabl-Institut. Nicht nur der Autor und Filmemacher feierte dieses Jahr mit seinem 80. Geburtstag am 3. Jänner ein Jubiläum, auch die Ereignisse, die im Sommer 1964 im Notizheft niedergeschrieben wurden, liegen heuer genau 60 Jahre zurück. Die Aufzeichnungen entstanden zu einer Zeit, als Hengstler an seinem ersten, unveröffentlichten Romanentwurf Festagombi arbeitete, und somit bereits zwei Jahre vor seiner ersten literarischen Veröffentlichung in der Literaturzeitschrift manuskripte (Heft 17) im Jahr 1966. Beim Notizheft Island 1964 handelt es sich daher um einen der frühesten (handschriftlichen) Texte des Autors aus dem Bestand des Franz-Nabl-Instituts.

Der damals 20-jährige Hengstler hält darin seine Erfahrungen und Erlebnisse während einer mehrmonatigen Island-Sommerreise tagebuchartig und essayistisch fest. Doch wieso genau Island? Der Autor schreibt im Notizheft dazu Folgendes:

Keine Reise nach Italien oder in einen berühmten Kanton der Schweiz, wo man noch für den Blick aus dem Hotelzimmer extra bezahlen muss. Vielmehr eine Reise in den Norden, oder nach Westen. Ja dorthin, wo das Land rauh ist und manches Mal weit, wo das Wetter kalt und wenig Sonne und Sand ist, für den man sich ölen kann. Ihr müsst verrückt sein, sagten die Leute, oder sie meinten auch abenteuerlustig.

Hengstlers Intention war also, ein Abenteuer zu bestreiten. Wie sich der Autor heute noch erinnert, spielten vor allem der Reiz des Exotischen sowie die abgelegene Lage und die (in den 1960er-Jahren) schwierige Anreise eine Rolle bei der Wahl der Destination.[1] Über den möglichen Ausgang der Reise hält Hengstler in seinem Notizheft eingangs Folgendes fest: „Es kann eine gute Sache werden, oder nur eine armselige Heimkehr, ausgebrannt und arm“.

Die Islandreise 1964 stellte allerdings nicht den ersten Versuch des Autors dar, den nordischen Inselstaat zu bereisen. Bereits im Sommer davor machte er sich mit Freunden und Motorrad samt Beiwagen auf den Weg in den Norden. Ein Reifenplatzer in Norddeutschland, bei dem glücklicherweise niemand verletzt wurde, bewegte sie allerdings wieder zur Umkehr, wie Hengstler erzählt. Doch die Gedanken „an ein Land, wo immer Wind kommt und geht, Feuer und Eis widereinander streiten und der Himmel weit und hell ist“, ließen Hengstler beim Diskutieren in den „rauchig weißen Caféhäusern“ nicht los, weshalb er mit seinem Freund Wilfried Belic die erneute Reise wagte. Hengstler berichtet, dass Belic und er damals öfters zusammen klettern waren, weshalb sie sich Europas größten Gletscher außerhalb des Polargebiets – den Vatnajökull auf Island – zum Ziel ihrer Reise setzten. Die Abfahrt von Graz „zog sich hinaus und war mühsam“. Dennoch war es am 25. Mai schließlich so weit, und die beiden fuhren mit ihren Rucksäcken und einem Zelt im Gepäck per Autostopp von Graz bis nach Kopenhagen. Die Stationen des Trips sind im Notizheft anschaulich festgehalten: Graz, Leoben, St. Michael, Selzthal, Gröbming, Schladming, Bischofshofen, Salzburg, München, Ulm, Stuttgart, Karlsruhe, Köln, Wuppertal, Hannover, Hamburg, Lübeck und Puttgarden. Von dort fuhren die beiden mit der Fähre nach Rødby in Dänemark, von wo es dann erneut per Anhalter nach Maribo und schließlich nach Kopenhagen ging. Hengstler schildert im Notizheft nicht nur die Eindrückte der unterschiedlichen Stationen, sondern beschreibt auch die Personen, die sie während ihrer Reise kennenlernen. So ist von neuartigen Berufen, (weiblichen) Bekanntschaften, dem nächtlichen Zelten auf einer Kuhweide und einer dänischen Gräfin zu lesen. Die Überfahrt von Kopenhagen nach Island wird im Notizbuch nicht erwähnt. Hengstler erinnert sich aber, dass diese mit der MS Dronning Alexandrine, einem ehemals sehr bekannten Dampfschiff, erfolgte. Die Route führte direkt an der damals gerade durch submarine Vulkanausbrüche neu entstandenen Insel Surtsey vorbei. Im Unterschied zu jenen vom europäischen Festland sind die Aufzeichnungen auf Island deutlich lückenhafter.

Die isländische Landschaft beschreibt Hengstler vor Ort folgendermaßen:

Die Sonne stand immer tief, aber sie ging nicht unter. Die Straße zog sich über Geröllhalden und zwischen Lavabergen, es wuchs nur spärliches Grün. Traurig und wild und riesengroß war das Land mit den rotbraunen Bergen, Asche und Schutt. Der Himmel spielte ein dramatisches Gedicht, sein Blau war das Bühnenbild, Darsteller die Wolken und Beweger der Maschinerie der Wind. Der Boden war zerfressen und zerbrochen, viele Höhlen und Löcher trugen den Blick, der immer müder wurde.

Neben der geschilderten Schroffheit und doch Schönheit der Landschaft charakterisiert Hengstler an einer anderen Stelle die Unberührtheit der Natur mit dem „Blick in den Fjord mit kleinen grünen Inseln, keine Menschen nur die Vögel schreien“. Des Öfteren finden sich aber auch Schilderungen von Nebel, Regen, Wind und Kälte im Notizheft. Zusätzlich erschwerte die Orientierung auf der Insel, dass der mitgebrachte Kompass wegen der Lavafelder nicht zuverlässig funktionierte. Den Großteil der Reise innerhalb Islands bestritten die beiden per Autostopp und zu Fuß; sie marschierten an zahlreichen Flüssen, Wasserfällen und Wiesen vorbei, wo sie auch ihr Zelt aufschlugen, wenn sie nicht gerade auf einem Bauernhof unterkamen. Die Kälte machte den beiden zu schaffen, Hengstler hält dazu fest: „Ich befand mich in einem schlechten Zustand, mir war erbarmungswürdig kalt“. Auch an anderer Stelle heißt es: „Wir mußten ziemlich erschöpft ausgesehen haben. Immer wehte der Wind“. Das schlechte Wetter – im Sommer ist das Besteigen des Gletschers schwieriger, da sich hier die Gletscherspalten vergrößern, wie Hengstler erzählt – sowie fehlender Proviant und adäquate Ausrüstung bewegten die beiden schließlich zur Umkehr. Am Einstieg zum Bárðarbunga wurde die „gefährlichste Entscheidung während unseres isländischen Aufenthalts“ gefällt, denn die Reisegefährten entscheiden sich, umzukehren. Zur Rückreise nach Österreich finden sich im Notizbuch wenige Niederschriften.

Die genaue Datierung der gesamten Reise gestaltet sich etwas schwierig, da die Aufzeichnungen im Notizheft nicht konsequent und systematisch durchgeführt wurden und einzelne Einträge teilweise auch erst im Nachhinein verfasst wurden, wie Doppeldatierungen verraten. Verweise und freie Stellen innerhalb der Notizen lassen außerdem darauf schließen, dass der Autor hier bewusst Platz für spätere Einträge ließ. Der Reisebeginn mit der Abreise aus Graz ist mit 25. Mai 1964 datiert, wohingegen die Rückkehr nach Graz nicht genau festgehalten ist. Die Rückfahrt mit der Fähre von Island wird in einem Eintrag vom 23. August erwähnt, da an diesem Tag ein kurzer Zwischenstopp auf den Färöer-Inseln stattfand. Hengstler bestätigt, im Spätsommer wieder in Graz angekommen zu sein. Die Notiz „Fast einen Monat in Island“, die am 4. Juli verfasst wurde, verrät, dass die beiden Reisegefährten bereits Anfang Juni auf der Insel ankamen und somit über zwei Monate dort verbrachten.

Zusätzliche Anekdoten rund um die Islandreise, die nicht im Notizheft vorkommen, weiß Hengstler ebenfalls zu berichten. So kamen die beiden einmal auf Island bei einem Bauernhof unter, dessen Verhältnisse so ärmlich waren, dass dieser über keine Toilette verfügte, weshalb die Notdurft einfach im Stall verrichtet wurde. Um sich die (Rück-)Reise zu finanzieren, nahmen die beiden Reisegefährten vor Ort zwei Arbeiten an. Einerseits halfen sie auf der anderen Seite der Insel beim Bau eines Hafens und anderseits waren sie als Fischer auf einem Trawler tätig. Hengstler erinnert sich, dass er nach seiner Ankunft in Graz noch wochenlang nach Fisch gestunken habe.

Auch wenn der Autor nie die Intention verfolgte, die Reise in Form eines literarischen Textes aufzuarbeiten, so waren die erlebten Eindrücke dennoch für sein literarisches Schaffen prägend und dienten oftmals als Inspirationsquelle. Nach Hengstlers eigener Aussage fließen vor allem die isländischen Landschaftsbilder immer wieder in seine Texte ein. So erinnern beispielsweise die Darstellungen im Text I, Took My Stand 1837, Now, der 1972 in den Heften 34 und 35 der manuskripte erschienen ist, stark an die Islandreise des Autors. Darin wird eine Expedition in eine kalte, von Wasser und Gletschern gezeichnete Umgebung geschildert, bei der die Protagonisten tagsüber klettern und nachts in Zelten übernachten. Vor allem das Bild einer „Lavalandschaft“ lässt im Text die Anlehnung an die isländische Natur erkennen:

Unklar war der Einstieg, eng und schwer zu schaffen. In den Fällen der Wiederholung verfärbten sich die Wülste und Ausbuchtungen der grauen Massen, da sie an dem erdigen Rand scheuerten, es war wie etwas, das hinter einer Lavalandschaft aufgeht und ihr die lebhaftesten und lichtesten Töne verleiht.[2]

Eine einzige, direkte Bezugnahme des Autors zur Islandreise findet sich im Kurzgeschichtenband Die letzte Premiere. In einer knappen Sammlung von Eingangssätzen, die sowohl dem Impressum als auch dem Inhaltsverzeichnis samt folgender Prosatexte vorangestellt sind, charakterisiert sich Hengstler mit teils ironisch überspitzen Aussagen selbst. Darin findet sich auch der folgende Satz: „Die Schiffshaut zwischen Eismeer und der Koje des isländischen Trawlers, in der ich auf die nächste Schicht wartete, ist sehr dünn geworden.“ [3] Es handelt sich dabei um einen klaren Verweis auf Hengstlers tatsächliche Arbeit auf dem isländischen Fischkutter, um sich die Heimreise zu finanzieren.

Im Bestand des Autors am Franz-Nabl-Institut findet sich in den Sammlungen eine weitere Erwähnung der Islandreise. Es handelt sich dabei um ein Typoskript, das Hengstler und den Schriftstellerkollegen Klaus Hoffer bei ihrer ersten Lesung 1966 im Forum Stadtpark vorstellt. Diese Einführung wurde von keinem geringeren als Peter Handke verfasst, der den jungen Hengstler darin unter anderem folgendermaßen charakterisiert: „Er ist viel gereist. Unter anderem war er in Island, wo ihm manches an der Welt verdächtig vorgekommen ist“.[4] Die Reise samt ihren Erlebnissen übte somit nicht nur auf Hengstler selbst, sondern auch auf sein Umfeld eine starke Faszination und Wirkung aus.

Das Reisemotiv an sich spielt auch in weiteren Werken Hengstlers eine zentrale Rolle. So handelt der Roman Slow Motion, der in den 1970er-Jahren entstand und außer einem Abdruck in den Heften 50, 51, und 56 der manuskripte nicht veröffentlicht wurde, von einer abenteuerlichen Reise durch Südamerika. Auch in Hengstlers letzter Prosaveröffentlichung flussabwärts, flussabwärts aus dem Jahr 2015 ist das Motiv der Reise zentral – und zwar in doppelter Form: Als Radreise der Donau entlang bis ans Schwarze Meer sowie als „Reise rund um das Krankenzimmer“. Darin beschreibt Hengstler eingangs sein Vorhaben, die Donau mit dem Fahrrad entlangzufahren, augenzwinkernd als sein letztes Abenteuer und merkt dazu an: „Die Heuchelei bestand darin, dass ich kaum eine Gelegenheit ausließ, jedes Hemd, jedes Paar Schuhe, jedes Abenteuer als mein letztes zu beschwören, als hoffte ich, gerade so das Gewohnte endlos weiterführen zu können.“[5]

Die Islandreise 1964 hingegen, die einen großen Einfluss auf Hengstler ausübte, stellt eines der ersten Abenteuer des Autors und Filmemachers dar, an das sich etliche anfügten und es werden hoffentlich auch noch einige weitere dazukommen.

 

Fabio Perndorfer

 

Ein großer Dank gilt Willi Hengstler selbst, der sich die Zeit nahm und äußerst bereitwillig in seinen Erinnerungen nach spannenden Anekdoten sowie in seinen Schränken nach eindrucksvollen Fotos von dieser Islandreise 1964 suchte und freundlicherweise beides sowie die originale Landkarte der Reise für die Gestaltung dieses Beitrages zur Verfügung stellte.
[1] Aussagen Hengstlers, die nicht extra ausgewiesen sind, entstammen einem Telefonat mit dem Beiträger vom 6.2.2024.
[2] Wilhelm Hengstler: I, Took My Stand 1837, Now (2). In: Manuskripte 13 (1972), H. 35, S. 30-34, hier: S. 30.
[3] Wilhelm Hengstler: Die letzte Premiere. Geschichten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987 (=suhrkamp taschenbuch. 1389.), o. S. [S. 2].
[4] Peter Handke: „Einführung“ [Vorstellung von W. H. und Klaus Hoffer für eine Lesung im Forum Stadtpark], Typoskript, 1 Bl., undat. [1966]. [inkl. hs. Anmerkungen] [Verso: Formular „Erklärung“ des Forum Stadtparks, leer] – Aus dem Vorlass von Wilhelm Hengstler am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung.
[5] Wilhelm Hengstler: flussabwärts, flussabwärts. Graz, Wien: Droschl 2015, S. 9.

veröffentlicht am 15. Februar 2024 in Objekt des Monats