"Golden Spike". Perspektive(n) auf das Anthropozän

GOLDEN:SPIKE. perspektive. hefte für zeitgenössische literatur … Herausgegeben von Stefan Schmitzer und Ralf B. Korte (2022), H. 112-113.

Als „labor für literatur“ versteht sich die Zeitschrift perspektive (hefte für zeitgenössische literatur …), die bereits Ende der 1970er Jahre gegründet wurde und seitdem etliche (Ver-)Wandlungen durchgemacht hat.[1] Mittlerweile erscheint die Zeitschrift als Kleinformat viermal im Jahr, und die Homepage stellt sogar einige der älteren Ausgaben digitalisiert zur Verfügung. Zum Selbstverständnis der deutschsprachigen Avantgarde-Institution gehört, so liest man dort in der kurzen Beschreibung im Reiter über uns, das Interesse „an der kombination von theoretischen positionen & literarischen praxen“[2]. In diesem Sinne lautet das Schlagwort, unter dem die Doppelnummer 112-113 im Jahr 2022 firmiert: Golden:Spike. Der Begriff kommt aus der Geologie und bezieht sich auf eine Praxis der Ortsbestimmung im Gestein, nach der die Erdgeschichte in mehr oder weniger abgeschlossene Zeitalter eingeteilt wird. Die massiven Veränderungen der Stratosphäre durch die Spezies Mensch, die Mitte des 20. Jahrhunderts beobachtet werden, veranlassten den Atmosphärenchemiker Paul Crutzen im Jahr 2000 dazu, das ‚Zeitalter des Anthropozäns‘ auszurufen. Für Golden:Spike entschließt sich die perspektive-Redaktion, die mit Stefan Schmitzer (Graz) und Ralf B. Korte (Berlin) in Österreich und Deutschland etabliert ist, zu einer Sammlung literarisch-avantgardistischer Auseinandersetzungen mit dem Motiv- und Themenkomplex. Zu diesem Zweck wird ein Call veröffentlicht und gefragt, „obs eine der grade inflationären zeitenwenden repräsentiert, oder nur einen trick, ebendiese noch einmal zu umgehen“[3].

Kurz zum Kontext: Während die ‚Existenz‘ des Anthropozäns in den (hard) sciences als umstritten gilt, da noch nicht offiziell bestätigt,[4] wurde der Begriff in den Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch in der Kunst zu einer produktiven Denkfigur. Der Befund des menschlichen Eingriffs in Ökosysteme und diverse Lebenswelten brachte unter anderem die Kritik am sogenannten Anthropozentrismus hervor, welche die Legitimität des männlich konnotierten Herrschaftssubjektes grundsätzlich in Zweifel zieht. Die Toxizität der (Kant’schen) Subjektsetzung äußere sich dabei vor allem in einer kapitalistisch gesteuerten Verfügung über ‚Natur‘ als ‚ihm‘ gegenüberstehendes Objekt.[5] Auch in der Kunst lasse sich, so stellt Stefan Schmitzer im Editorial dieser perspektive-Ausgabe fest, in Arbeiten des letzten Jahrzehnts ein „anthropozängestus“ beobachten, der nicht nur mit dem Motiv der ‚Subjektsuspendierung‘ arbeitet, sondern in dieser „überschreitung des bloßmenschlichen subjekts“ (GS, 6) unter anderem versucht, eine wie immer geartete mehr-als-menschliche Perspektive mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu entwickeln.

Den einzelnen Beiträgen des Heftes ist ein wissenschaftlich-künstlerisches ‚Gespräch‘ zwischen Schmitzer und der an der Universität Graz ansässigen Anthropologin Judith Laister vorangestellt. Die beiden, so erfährt man hier, hatten sich bei einer Lesung anlässlich der Ausstellungseröffnung Wesen & Kreaturen. Kapitel 1: Auf einer beschädigten Erde im Grazer Zentrum für zeitgenössische Kunst <rotor> kennengelernt. Wenig später fand im Rahmen dieser Ausstellung im <rotor> ein von Laister organisiertes wissenschaftliches Panel mit dem Titel Wir Erdbewohner!nnen. Menschenbilder, Solidarität und Konflikte im Anthropozän[6] statt, das sich nicht nur als Austauschplattform für Forschende verstand, sondern dezidiert auch Kunst- und Kulturschaffende in den Dialog miteinbeziehen wollte. Telefonisch und per E-Mail tauschten sich Schmitzer und Laister über die Veranstaltung und deren Implikationen aus. Das ‚Streitgespräch‘ findet sich z. T. im Heft abgedruckt bzw. nachgebildet. Schmitzer konfrontiert die Wissenschaftlerin mit „[s]eine[n] sirenenängsten“ und zeigt sich besorgt angesichts der im Panel beobachteten Übereinstimmung der Gespräche „mit den ästhetischen impulsen der gezeigten kunst“ (GS, 10). Hinter der „anverwandlung ans nichtmenschliche“ wird ein „kurzschluss zwischen kunstwelt und wissen(schaft)swelt“ (GS, 10) vermutet. Theoretiker*innen des Anthropozäns entwickeln in ihren Texten durchaus unkonventionelle, teils an das Kunstsystem angelehnte Formen der Erkenntnisproduktion. Während etwa Donna Haraway ihre Denkfiguren gerne aus der Science-Fiction-Literatur entlehnt und daraus Methoden formuliert, die die anthropozentrische Perspektive zu verabschieden suchen („tentakuläres Denken“[7]), nimmt Anna Tsing das nicht-menschliche ‚Subjekt‘ des Matsutake-Pilzes als Ausgangspunkt für die Untersuchung komplexer Zusammenhänge zwischen Ökologie und Kapitalismus.[8] Neben einem merklich spielend-suchenden Duktus, der diese Texte häufig durchzieht, werden auch vielfach traditionell der Literatur vorbehaltene Mittel produktiv gemacht.[9] Laister glaubt, dass sich solcherart Kollaborationen (etwa zwischen Literatur und Anthropologie) gerade dann entwickeln, wenn Unsicherheiten bezüglich der Regeln und Logiken des je eigenen Feldes auftreten, wenn also „das, was man sagen will, innerhalb dieser Regeln nicht mehr repräsentierbar erscheint“ (GS, 19).

Allein, dass ein (kultur-)wissenschaftlicher Fachbegriff wie der des Anthropozäns, der sich zudem als en vogue bezeichnen ließe, den literarischen Schreibprozess anleitet, ist für eine Avantgarde-Zeitschrift, die sich jenseits von Marktanpassung verortet, zumindest bemerkenswert. Die in Golden:Spike versammelten Texte können im Hinblick auf die Diskussion um eine sich in den letzten beiden Jahrzehnten herausbildende Literatur im Anthropozän gelesen werden.[10] In diesem Zusammenhang lassen sich die Texte aber weniger als wiedererwecktes bzw. wiederentdecktes Engagement in der Kunstproduktion[11] in Zeiten der Erderwärmung und ökologischer Krisen lesen. Vielmehr zeigen sie mit den Mitteln der Poesie die Facetten einer „wirklichkeit des planeten, von der sprache nie ganz erreicht“ (GS, 7). Auf diesem Planeten, besiedelt und teilweise besiegt von ‚großen Männern‘ der Geschichte (vgl. GS, 54; s. u.), bahnt sich nun, wie es Kai Pohl in seinem synästhetischen Text Warum „Anthropozän“? imaginiert, die „erste Begegnung mit den anthropozentrischen Reitern“ (GS, 57) an.

Marietta Schmutz

Vom 10. bis 12. April findet im Literaturhaus Graz eine studentische Tagung unter dem Titel „Ausnahmezustand Erde. Literatur im Anthropozän“ statt.

Weitere Informationen zur Tagung.

[1] Vgl. Helmut Schranz: Basislager Avantgarde: perspektive – hefte für zeitgenössische literatur … Paradigmenwechsel in Gruppe, Zeitschrift, Lesungsreihen 1977-1999. Graz, Univ., Dipl.-Arb. 2005.
[2] perspektive. hefte für zeitgenössische literatur … URL: https://perspektive.at/redaktion/ Rubrik: über uns. Aufgerufen am 14.3.2024.
[3] Golden:Spike. perspektive. hefte für zeitgenössische literatur … (2022), H. 112-113, S. 5. In der Folge mit Seitenzahl zit. als GS.
[4] Vgl. APA: Anthropozän – „Golden Spike“ soll in Kanada liegen. In: Salzburger Nachrichten vom 11.7.2023. URL: https://www.sn.at/panorama/wissen/anthropozaen-golden-spike-soll-in-kanada-liegen-141866299. Aufgerufen am 14.3.2024.
[5] Vgl. dazu den Begriff ‚Kapitalozän‘, geprägt durch Jason W. Moore: Anthropocene or Capitalocene? History, and the Crisis of Capitalism. Oakland: PM Press 2016.
[6] Das Panel fand im Rahmen der Grazer (kulturwissenschaftlichen) Tagung zum Thema ‚Post- und Transhumanismus‘ statt. Vgl. Marietta Schmutz: „Posthumanismus. Transhumanismus. Jenseits des Menschen?“ Tagungsbericht zur 7. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG), 25.5.-28.5.2022, Universität Graz. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift (2023), H. 1., S. 138-143. DOI: 10.28937/9783787346400_5.
[7] Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Aus dem Englischen von Karin Harasser. Frankfurt/New York: Campus 2018, S. 47.
[8] Vgl. Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Dirk Höfer. Berlin: Matthes & Seitz 2018.
[9] Vgl. z. B. das Konzept der Ironie bei Timothy Morton: Poisoned Ground. Art and Philosophy in the Time of Hyperobjects. In: Symplokē 21 (2013), H. 1-2, S. 37-50.
[10] Siehe dazu das studentische Symposium des Franz-Nabl-Instituts: Ausnahmezustand Erde. Literatur im Anthropozän (10.-12.4.2024, Literaturhaus Graz). URL: https://www.literaturhaus-graz.at/news/ausnahmezustand-erde-literatur-im-anthropozaen/. Aufgerufen am 14.3.2024.
[11] Nina Pauer; Lars Weisbrod: Sind Romane besser als Klimakleber? In: Zeit online. Podcast vom 25.9.2023. URL: https://www.zeit.de/kultur/2023-09/literatur-klimawandel-feuilleton-podcast. Aufgerufen am 14.3.2024.

veröffentlicht am 19. März 2024 in Objekt des Monats