Ausnahmezustand Erde. Literatur im Anthropozän, Teil 1
Veranstaltungsdatum: Do, 11.04.2024 // 9:00 Uhr
Kategorie: Vortrag
Reihe: Symposium: Ausnahmezustand Erde
Grußworte: Klaus Kastberger (Leiter Franz-Nabl-Institut / Literaturhaus Graz)
9 Uhr
Vorträge und Diskussion
Veronika Steinkellner: Homo narrans. Big History als Erzählform der Menschheitsgeschichte
Im Akt des Erzählens wird unwillkürlich strukturiert, geordnet und nach Sinnzusammenhängen gesucht. Der Mensch ist ein erzählendes Wesen, das nicht nur Fiktion, sondern manchmal auch Fakten in narrativer Form wiedergibt, wie etwa Yuval Noah Harari in Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011). In dem Sachbuch wird die Entwicklung des Menschen vom Tier zur Schöpferfigur in einer geordneten Narration vom Urknall bis zur Gegenwart dargestellt. Der Beitrag wirft einen literaturwissenschaftlichen Blick auf die Erzählstruktur in Hararis Werk und erörtert infolgedessen den besonderen Reiz, den die Form Big History gerade im Zeitalter des Anthropozäns bietet.
Nima Gruber: „als hätt’ der Himmel / die Erde still geküßt“. Überlegungen zum Mensch-Natur-Verhältnis in Romantik und Anthropozän
Der Vortrag beleuchtet das Verhältnis des Menschen zur Natur in ausgewählten Gedichten der Romantik sowie des Anthropozäns. Mit Bezugnahme auf die Naturphilosophie deutscher Idealisten sowie Novalis wird anhand Eichendorffs berühmtem Gedicht Mondnacht aufgezeigt, wie die Romantik Natur lyrisch konzeptualisiert und dabei den Menschen als in ihr eingeschriebene Einheit begreift. Konträr hierzu steht die Annahme des sogenannten Anthropozäns, das eine kritischere Beziehung zwischen Mensch und Natur reflektiert – exemplifiziert durch Karin Fellners Gedichtzyklus Schaf hoch Schaf hoch und theoretisch fundiert durch die Thesen Donna Haraways und Bruno Latours. Es soll ergründet werden, inwieweit die darin erkennbaren Mensch-Natur-Verhältnisse literarisch divergieren oder sich etwaig annähern.
11 Uhr
Vorträge und Diskussion
Patricia Sickinger: „Nature is a feminist issue“. Die Engführung von ‚Frau‘ und ‚Natur‘ bei Margaret Atwood
Wie hängen Feminismus und Natur zusammen? Welchen Platz hat Feminismus in der Literatur des Anthropozäns? Im Rahmen der Zweiten Frauenbewegung der 1960er und -70er Jahre entwickelte sich ein ökofeministischer Ansatz, der den Zusammenhang zwischen der Unterdrückung von Frauen und der Ausbeutung der Natur durch das Patriarchat analysierte. Ziel dieses Vortrags ist zu untersuchen, wie diese Parallele im Kontext eines anthropozänen Feminismus, der gegen das binäre Denken des Ökofeminismus argumentiert, bei Margaret Atwood dargestellt wird. Der Fokus liegt dabei auf der MaddAddam-Trilogie (2003–2013), die über eine mögliche Welt nach den Menschen und dem Anthropozän spekuliert.
Victoria Weitenthaler: Puneh Ansari und das Anthropozän
Puneh Ansaris Textsammlungen Hoffnun‘ (2017) und Hallo Everybody (2023) vereinen ihre literarischen und vorerst auf Facebook veröffentlichten Posts. Darin geht es unter anderem um sterbende Tiere, den Klimawandel, dystopische Zukünfte und Riesenpinguine. Stilistisch sind die Texte von Wortspielen mit meist satirischer Übertreibung, Fragmentierung und eigenwilliger Interpunktion geprägt. Die Autorin spielt mit einer eigenen Form, bei der Spontaneität, Kurzweiligkeit und Komplexität aufeinandertreffen. Der Vortrag fragt nach dem Zusammenhang von poetischer Offenheit, textueller ‚Instabilität‘ und einem näher zu bestimmenden Anthropozän-Denken, das sich in Ansaris Texten manifestiert.
15 Uhr
Vorträge und Diskussion
Fiona Schalamun: „Alles ist mit etwas verbunden“. Zur Verwobenheit von Lebensformen bei Luca Kieser und Marie Gamillscheg
Sowohl in Luca Kiesers Roman Weil da war etwas im Wasser (2022) als auch in Marie Gamillschegs Aufruhr der Meerestiere (2023) werden neben menschlichen Akteur:innen Meerestiere wie Quallen und Kraken in den Blick genommen. Unabhängig davon, wo sich die jeweiligen Entitäten zwischen den Polen der Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremde zum Menschlichen positionieren, wird deutlich, dass jede:r in irgendeiner Beziehung zur Welt steht und alles mit allem verbunden ist. Der Beitrag untersucht auf Grundlage von Ansätzen des Neuen Materialismus, welche Perspektiven die beiden Romane auf die Verwobenheit unterschiedlicher Lebensformen werfen und welche Fragen sich hinsichtlich des Umgangs mit dem Fremden und Eigenen daraus ergeben.
Sebastian Meißl: Fadenspiele mit Vögeln an Kipppunkten des Schreibens in Judith Schalanskys Essay Schwankende Kanarien
Mit dem Konzept der „Fadenspiele“ entwirft Donna Haraway am Beispiel kalifornischer Wettkampftauben eine Denkfigur für komplexe Interaktionen zwischen Wissenschaft, Technologie, Kultur und Natur. „Fadenspiele sind wie Geschichten. Sie schlagen Muster vor und vollziehen sie“, schreibt Haraway in Staying with the Trouble. Diese implizierte Grundlage des Geschichtenerzählens im bzw. gegen das Anthropozän entwickelt Schalansky mit ihrem Essay Schwankende Kanarien poetologisch weiter. Ausgehend von Schalanskys Reflexion über Kanarienvögel in Kohleminen wird in diesem Beitrag untersucht, wie literarisches Schreiben im Anthropozän selbst in ein Fadenspiel mit ökologischen Kipppunkten – globale Schwellenzustände, deren Überschreitung ein Kollabieren von Ökosystemen einleitet – geraten kann.
17 Uhr
Vorträge und Diskussion
Franziska Juritsch: „Der Schleim hingegen, ja, der Schleim … der Schleim wird siegen, wo wir verlieren“. Eine posthumane Welt bei Elisabeth Klar
In Elisabeth Klars Roman Es gibt uns (2023) werden wir mit einer Welt voller Mischwesen in einer tödlichen, verstrahlten Umgebung konfrontiert. Der Vortrag beschäftigt sich mit der Umsetzung von Donna Haraways Konzept des tentakulären Denkens und der Frage, wie sich die Welt mit ihren Bewohner:innen entwickeln könnte, wenn die Menschheit einer längst vergessenen Vergangenheit angehört. Unter anderem soll untersucht werden, wie Klar Haraways Ideen von losen Verknotungen („Fadenspiele“) sowie des „Mit-Werdens“ poetisch umsetzt, um im Anschluss über den Stellenwert des Geschichtenerzählens in einer posthumanen Gesellschaft nachzudenken. Sind Erzählungen der einzige Weg, zu erinnern, zu überdauern?
Petra Reifinger: Vom Menschen zum Tier? Die Tierwerdung im Anthropozän
Das Motiv der Tierwerdung erstreckt sich in der Kultur- und Literaturgeschichte von Ovids Metamorphosen über Kafkas Die Verwandlung bis in Texte des Anthropozäns. Während bei Ovid und Kafka noch der zum Tier gewordene Mensch, also ein linearer, abgeschlossener Prozess, im Fokus steht, bilden sich in gegenwärtigen Texten immer neuartigere Lebensformen und -arten heraus, die weder eindeutig Tier noch Mensch sind. Dabei werden Systeme der Ordnung durcheinandergebracht und etwaige Gattungshierarchien kritisch hinterfragt. Der Vortrag widmet sich Mensch-Tier-Verwandlungen in den beiden Romanen Es gibt uns (2023) von Elisabeth Klar und Die Abschaffung der Arten (2008) von Dietmar Dath und analysiert das Verwandlungsmotiv vor dem Hintergrund einschlägiger Theorien von David Abram und Rosi Braidotti.
Studentisches Symposium des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung der Universität Graz
Konzept: Marietta Schmutz, David J. Wimmer
-> Eintritt frei!